Bis zu diesem Tage war er ein völlig normaler Mensch gewesen.
So beginnt Arthur Schnitzler diese Novelette namens Ich. Allein jenes einzelne, dreibuchstabige Wort genauer zu betrachten genügt bereits, um manchen Verstand völlig auf den Kopf zu stellen. Diese Kurzerzählung gehört zu meinen Lieblingstexten überhaupt; Schnitzlers Gabe, mit unauffälligen Mitteln nachhaltige Verunsichertheit zu erzielen, kommt darin voll zur Geltung: Das Unheimliche tritt im Vertrauten zu Tage, die Säulen des Normalen werden zersetzt. Im Verlauf nur weniger Seiten skizziert Ich den plötzlichen Absturz einer gefestigten, gesicherten Existenz in den Wahnsinn. Auslöser: ein Wort auf einer Tafel im Park. Ein anderes allerdings als Ich – dem begegnet man erst als Abschlusswort der Erzählung wieder. Dort, am Ende, fragt man sich dann, wie einer sich bloß so verzetteln konnte und ob Wahnsinn wohl lediglich der Superlativ von Ordnung ist.
Der kleinbürgerliche Protagonist, dessen Namen wir nicht erfahren, durchlebt genügsam und sehr zufrieden seinen Familien- und Arbeitsalltag. Eine gute Ehe, ohne Mißverständnisse und ohne Unzufriedenheiten, heißt es da. Der Umgang mit den zwei Kindern ist unaufgeregt, fröhlich, herzlich. Die Mittagspausen verbringt der Vater daheim, Zeit für harmlose Unterhaltungen mit der Frau, die Kinder berichten freimütig vom Tag in der Schule, der Vater erzählt die ein oder andere unverfängliche Episode aus seinen heutigen Begegnungen mit der Kundschaft, die er als Abteilungsvorstand, sogenannter Rayonchef in einem Warenhaus mäßigen Ranges macht. Die Routine ordnet das Leben in angenehmer Weise: Jeder Tag folgt einem gewohnten Verlaufsmuster, Schwiegermutter und Schwägerin werden regelmäßig zum Tee geladen, Theaterbesuch oder Operette an jedem zweiten Samstag im Monat, anschließend Besuch in einem bescheidenen Restaurant.
Eine feste Sonntagsgewohnheit des Protagonisten ist der morgendliche Spaziergang durch den Park, wo er während seiner Flanierrunde mit Bekannten plaudert. Am bewussten Tag seines geistigen Verhängnisses entdeckt er an einer ganz und gar gewöhnlichen Bank eine Tafel mit krakeliger Aufschrift. Bank steht da – so einfach und offenbar, wie eben die Bank selbst da im Park steht. Wozu nur diese Benennung? Nun, vielleicht ist es gar keine solche Dummheit wie zunächst gedacht, ein jedes Ding genau zu benennen; womöglich geschähen ohne gewissenhafte Benennungen die seltsamsten Unglücke? Am Teich sitzend sinniert der Protagonist plötzlich staunend über die Ungenauigkeit, die Unzulänglichkeit des gewohnten Blicks auf die Dinge. Der Teich, ist der nicht gleichzeitig ein Meer? Freilich nur für die Eintagsfliege, aber doch! Und ist, was wir Tag nennen, für die Eintagsfliege nicht wie ein hundertjähriges Leben? Woher im Übrigen kann man sicher sein diesen Teich nicht etwa nur zu träumen? Träumt man am Ende womöglich auch sich selbst und glaubt nur fälschlich, man lebe?
Wieder daheim, liest er in der Zeitung, liest Namen von Schauspielern und Operettensängerinnen; manche stehen sogleich bildhaft vor ihm, andere bleiben Buchstaben. Mag sein, dass ein Mensch, über den er gerade in der Zeitung liest, just an einem Herzinfarkt verstorben ist, und nun gibt es jenen Menschen gleichzeitig als tot und als Bild, das ihn lebendig zeigt, und außerdem als Gedanken, der sich ihn in Lebendform einbildet. Er liest auch vom Erdbeben in San Francisco, und er sieht dabei mehrere, nämlich ein wirklich geschehenes, ein geschriebenes, ein vorgestelltes Erdbeben. Die Verschiebungen und Verkürzungen, die zwischen Ereignissen und deren Beschreibungen bestehen, spalten die Welt auf in unzählige Ebenen von Wahrheit.
Sicherheit wähnt der Protagonist nurmehr in der Unmittelbarkeit zu finden: Er beginnt, sein direktes Umfeld zu beschriften. Im Kaffeehaus gerät er ob eines Fräuleins zwar kurzzeitig in die Nähe einer Verzweiflung – Die Frage war jetzt nur, was für einen Zettel man ihr ankleben sollte. Magdalene? Fräulein Magdalene? Oder Sitzkassiererin? Jedenfalls war es unmöglich, dieses Kaffee zu verlassen, ehe er sie richtig bezeichnet. –, beruhigt sich aber damit, mit seinem Bleistift entschieden Tisch über die ganze Breite der marmornen Platte schreiben zu können, von der gerade eben sein Kaffeegeschirr geräumt wurde. Wieder daheim, versieht er den gesamten Hausstand mit Benennungszetteln. Am Nachmittag beschriftet er Schwiegermutter und Schwägerin, die zum Kaffee gekommen sind, am nächsten Morgen die Kinder, ehe sie zur Schule gehen, im Geschäft besteht er auf Einzelbeschriftung jedes Artikels und jeder Verkäuferin. Der Arzt, den die Ehefrau zur Mittagszeit nach Hause bestellt hat, findet den Mann mit einem Zettel auf der Brust, auf dem mit großen Buchstaben steht: >Ich<.
Die Erzählung Ich findet sich in der Sammlung Arthur Schnitzler, Traumnovelle und andere Erzählungen (Fischer Verlag), inzwischen als kartonierte Ausgabe unter Fischer Klassik, €12,00