Die Droschke setzte ihn vor Nr.4004 dieser Straße im Nordwesten ab. Es war noch nicht neun Uhr morgens; der Mann bemerkte befriedigt die gefleckten Platanen, das Erdquadrat am Fuß jeder einzelnen, die schlichten Häuser mit kleinen Balkonen, die Apotheke nebenan, die abgeblaßten Rhomben der Farben- und Eisenwarenhandlung. […] Der Mann dachte, alle diese Dinge (jetzt beliebig und zufällig und durcheinander wie Dinge, die man in Träumen sieht) würden mit der Zeit […] unwandelbar, notwendig und vertraut sein.
Mit diesem Einstieg setzt Jorge Luis Borges den Protagonisten seiner Erzählung Die Wartezeit einsam in einem Randviertel Buenos Aires‘ aus. Dort erwarten ihn eine spärliche Unterkunft, eine verhuschte Haushälterin, ein Alltag in der geduckten Haltung eines Verfolgten. Den Kutscher, der ihn dort abgeliefert hat, bezahlt er versehentlich mit einem „uruguayischen Zwanziger, den er seit jener Nacht im Hotel von Melo in der Tasche trug. Der Mann reichte ihm vierzig Centavos und dachte dabei: Ich bin verpflichtet, so zu handeln, daß alle mich vergessen. Ich habe zwei Fehler gemacht: Ich habe eine ausländische Münze gegeben und merken lassen, daß mich dieser Irrtum stört.“
Eine Kriminalgeschichte könnte sich daraus entspinnen: Was ist in jenem Hotel geschehen? Was hat den Protagonisten dazu gezwungen, über Landesgrenzen zu fliehen, abzutauchen? Oder wer?
[…] als die Frau ihn fragte, wie er heiße, sagte er Villari, nicht in heimlichem Trotz, […] sondern weil dieser Name ihn quälte, weil es ihm unmöglich war, an einen anderen zu denken. Bestimmt verfiel er nicht in den literarischen Irrtum zu meinen, es sei schlau, den Namen des Feindes anzunehmen.
Am Fluchtort angekommen – entkommen jedoch nicht. In seinem Versteck fühlt sich der Mann keineswegs befreit, im Gegenteil erkennt er sich hier als Gefangener seines Feindes, mehr noch, als vollkommen durch ihn „Vereinnamter“: Man ist, was man fürchtet. Villari, der Verfolger, dessen Abwesenheit ihm gleichsam Allgegenwärtigkeit verleiht, führt indirekt Herrschaft über die Gedanken, Träume, den Alltag des Verfolgten. Über Tage hinweg verlässt der Mann seinen Unterschlupf nicht, wagt sich nur gelegentlich im Schutz der Dunkelheit hinaus, um ein Kino zu besuchen, verkriecht sich, liest. Besonders gründlich die Zeitungen, aber nicht etwa, um wenigstens lesend am Leben der Außenwelt teilzuhaben, sondern in der Hoffnung, womöglich etwas über Villari in Erfahrung bringen zu können. Im Kino sieht er Gangsterfilme – „sicher kamen in ihnen auch Bilder vor, wie es sie in seinem früheren Leben gegeben hatte“ -, verlässt jedoch den Kinosaal jeweils vor Filmende. Wohl möchte er die Berührung mit den ausströmenden Besuchern umgehen. Vielleicht ist es aber auch das Finale, die Abrechnung zwischen den Kontrahenten im Film, die er meidet? Weil sie ihn zu sehr betrifft, oder ihn gerade nicht betrifft? Tagsüber arbeitet er sich gewissenhaft durch eine Divina Commedia, die sein möbliertes Zimmer bereit hielt. „Er glaubte nicht, daß Dante ihn zum letzten Höllenkreis verdammt hätte, wo Ugolinos Zähne ohne Ende den Nacken Ruggieris benagen.“ Ugolino, der von Ruggieri gefangen genommen und zum Hungertod verdammt worden war, frisst nun, während der Ewigkeit der Hölle, an Ruggieris Kopf – auch diese Variante der Abrechnung gehört ins Reich der Kunst, und die Kunst trennt der Mann strikt von seinem Leben: Er „sah sich nie als Kunstfigur“. Sein Leben ist kein Epos, auch keine Kriminalgeschichte, sondern ein Wartetraum: Während Realität durch Handlungen produziert wird, gleicht das Leben des Mannes mehr dem verarbeitenden Prozess Traum, ist passiv, Zeit und Raum haben darin ihre Verbindlichkeit verloren. Sein eigenes finales Zusammentreffen mit seinem Feind vollzieht sich nicht einmalig, sondern in Dauerschleife – in Gedanken, in Alpträumen. Indem das Finale so vorauswirkt, ohne tatsächlich zu geschehen, ist die Wartezeit das eigentliche Finale: In seinem Warten besteht das eigentliche Kämpfen des Mannes mit seinem Feind Villari.
Gegen Morgen träumte er oft einen Traum gleichen Inhalts mit veränderlichen Umständen. Zwei Männer und Villari betraten mit Revolvern sein Zimmer oder überfielen ihn, wenn er aus dem Kino kam, oder waren alle drei zusammen der Unbekannte, der ihn angerempelt hatte, oder erwarteten ihn traurig im Patio und schienen ihn nicht zu kennen. Wenn der Traum zu Ende war, nahm er den Revolver aus der Schublade des Nachttischs dicht neben seinem Bett (und tatsächlich bewahrte er in dieser Schublade einen Revolver auf) und schoß ihn auf die Männer ab. Der Knall der Waffe weckte ihn, aber immer war es nur ein Traum, und in einem anderen Traum wiederholte sich der Überfall, und in einem anderen Traum musste er sie wiederum töten.
Schließlich – „an einem trüben Morgen“ – stehen Villari und ein Unbekannter vor dem Bett des gerade aufwachenden Mannes und richten ihre Waffen auf ihn. Er dreht sich von ihnen ab, stellt sich schlafend oder kehrt vielleicht sogar schnell zurück in seinen Schlaf. „Tat er es, um das Mitleid derer, die ihn töteten, zu erwecken, oder weil es weniger hart ist, ein schreckliches Ereignis hinzunehmen, als es sich immerzu vorzustellen und endlos darauf zu warten, oder […] damit die Mörder ein Traum seien, wie sie es am selben Ort, zur selben Stunde schon so oft gewesen waren?“ Der darauf folgende Schlusssatz lautet: „In dieser Magie befand er sich, als der Schuß ihn auslöschte.“
Ihn, den Mann? Oder doch seinen Traum?
> Die Erzählung Die Wartezeit findet sich in:
Jorge Luis Borges, Das Aleph – Erzählungen 1944-1952