Routine lauert im Leben überall: eingespielter Arbeitsalltag, etablierte Beziehung, feste Einkaufsadressen und Spazierwege. Auch in Judiths Leben haben sich allmählich die Strukturen verfestigt: Die Möbeltischlerin lebt mit Freundin Lin in angenehmer Lage in Wien, sie fühlt sich wohl mit ihrem Handwerk, ihrem Chef, ihrer Werkstatt, und sie bewegt sich auf gewohnten Wegen durch die Stadt. Das klingt, wenn Sie mich fragen, alles ganz gesund.
Und wenn Sie Judith fragen?
Die Antwort ist tänzelnd. Hier und da drücken sich Zufriedenheit, Gelassenheit aus. Im Hintergrund aber wispert die Leere. Judith ist eine, die sich damit arrangiert hat, sich immer ein bisschen fehl am Platz zu fühlen, eine, die immer eher passiv durchs Leben schlurft. Keine Leidensfigur, da ist nicht genügend negative Energie. Aber auch nicht genügend positive, dass Judith mal als mutige Umgestalterin aktiv würde – kleinkrämerische Ausgestalterin, das ist eher ihre Kragenweite. Bei der Arbeit ist sie die Fachfrau für filigrane Detailarbeiten. Akribie ist ihr Lieblingswort.
Dementsprechend wird ihr vom Chef ein eher spezieller Kundenauftrag zugewiesen, eine Frickelarbeit: die Restaurierung eines Puppenhauses.
An einem gewöhnlichen Puppenhaus hätte Judith nie Gefallen gefunden, dieses hier zog sie dagegen sofort in seinen Bann. Ein kleines, leeres Universum, in dem sie sich zuhause fühlte, ohne Teil von ihm zu sein.
Es handelt sich dabei um das Modell eines Hauses, worin die Arbeitszimmer berühmter SchriftstellerInnen untergebracht sind. Judiths Aufgabe lautet, sowohl den Kasten im Ganzen als auch das kleinteilige Inventar, die Schreibtische, Telefontischchen, Sessel, Stühle, Regale von Susan Sontag, Adolfo Bioy Casares, Ingeborg Bachmann und vielen anderen, wieder in Schuss zu bringen. Macht sie auch, penibel, mit Herzblut. Wie besessen.
[…] sie blieb noch länger als sonst in der Werkstatt, sparte sich die Mittagspause und hing daheim ihren Gedanken an die kleinen Möbelstücke nach. […] Jeden Winkel des Hauses nahm sie unter die Lupe, ölte, schliff und leimte, schnitzte und sägte und fluchte und freute sich. Die Arbeit schien kein Ende zu nehmen, immer fielen ihr neue Details auf, derer sie sich annehmen konnte. Dass die Wählscheibentelefone keine Kabel hatten, konnte sie nicht auf sich beruhen lassen. Und wo ein Kabel war, musste auch eine Steckdose sein.
Selig verschwindet Judith im Mini-Kosmos – bis ihr Chef sie abrupt an den Ohren herauszerrt: Nein, Nacht- und Wochenendarbeit dulde er nicht, und ihre Überstunden müsse sie gefälligst abbummeln, ab sofort.
Konfrontiert mit drohender mehrtägiger Langeweile, entscheidet Judith, einem Zufall folgend, mal einen Ausflug nach Bratislava zu unternehmen. Warum auch nicht? Sie kauft eine Fahrkahrte für ein Donauschiff und vertraut sich dem Fluss (des Lebens, versteht sich) an. Ihr puppenhaushaft starres Leben mit Lin, ihr puppenhaushaft ausstaffiertes Wien, ihr Puppenhaus in der Werkstatt lässt sie hinter sich – für die Dauer eines Kurztrips, glaubt sie.
Doch Judith hat dem Zufall die Tür geöffnet. Und nun macht er sich breit, erweist sich als ziemlich herrisch und wirft am Ende glatt seine Gastgeberin aus ihrem so akribisch durchstrukturierten Häuschen. Es geht was schief in Bratislava. Und es passiert etwas Unerklärliches mit dem Donauschiff, das Judith nach Wien hätte zurückbringen sollen. Und überhaupt ist nach nur einem, eigentlich gewöhnlichen Vormittag plötzlich nichts mehr wie zuvor.
Judith findet sich im Auwald wieder, im wilden, naturbelassenen Grün entlang der Donau, inmitten von Gesträuch, auf sumpfigem, halbfestem Boden. Die Ordnung der Dinge setzt aus.
Sogar der Roman bricht an dieser Stelle entzwei: Volkmann, die in der ersten Hälfte in der Vergangenheitsform über sie, Judith, schreibt, lässt diese in der zweiten Hälfte aus der Ich-Perspektive weitererzählen, im Präsens. Da hat eine Figur ihr Puppenhaus verlassen, will nicht mehr Objekt sein, beginnt eigenständig zu existieren, indem sie aus ihrem geordneten Mief heraustritt, sich den frischen und furchtbaren Wind der Katastrophe um die Ohren wehen lässt.
Sinnbild dieser Metamorphose ist eine Art Tunnel im Donau-Ufer, vielleicht ein trockengefallener Düker oder eine Hochwasserdrainage, was auch immer; hier erlangt dieses Tunnelrohr jedenfalls die Funktion eines, sozusagen, Wiedergeburtskanals.
Sie hörte es tropfen und trappeln, als wäre der Tunnel selbst zum Leben erwacht. Die eine Hand tastete sich am moosigen Boden entlang, die andere streckte Judith in mutiger Zuversicht immer wieder voraus und unterdrückte den Impuls, etwas in die Leere zu rufen, ihren Namen oder einfach irgendetwas, um ihr Echo zu hören oder ein paar Tiere aufzuschrecken, die hier unten schon auf sie warteten. […] Sie kroch und kroch.
Bis zu einem Sperrgitter:
„Erle, Eibe, Douglastanne“, beschwor sie das Gitter. Das Echo ihrer Stimme trollte sich in die Höhle zurück. Mit einem fügsamen Knirschen ließ das Gitter sich öffnen und gewährte ihr den Weg nach draußen. Erstaunlich, wie schnell manche Gefängnisse einen gehen lassen. Sie kroch noch ein paar Meter, ehe ihr einfiel, dass sie sich jetzt wieder in die Länge strecken konnte. Sie lief in die offene Wiese hinein, dann ließ sie sich sinken, wärmte sich den Rücken am Boden und das Gesicht in der Sonne.
Wozu dieses Simsala-Baum, diese Zauberformel? Sind wir im Märchen gelandet? Oder ist es womöglich ganz normal, dass einem ein bisschen schamanisch zu Mute wird, sobald man der Zivilisation gründlich den Rücken gekehrt hat, so wie Judith?
Ich habe meinen Namen in eine feuchte Ritze geschoben, im Vorübergehen, und dort bleibt er nun. Ich würde ihn nicht einmal wiederfinden, wenn ich ihn suchen würde.
Die Möbeltischlerin, die abgelagertes Holz in allen Varianten bearbeitet, bekommt es jetzt mit Holz in wachsender, blühender, gedeihender Form zu tun. Dieses Holz gehorcht ihr nicht. Während sie sich durchs wilde Dickicht bis nach Hause, nach Wien durchschlagen will, erweist sich die Natur nicht als ihre Verbündete. Sie ist unbequem, die Natur.
Das Gras streift mir um die Knöchel. Ich gehe auf Samt. […] So lebt es sich halbwegs angenehm, denke ich noch, als ich auf einen dornigen Ast trete, der mir ein Loch in die weiche Haut zwischen dem kleinsten und dem zweitkleinsten Zeh reißt. Danke, Wald, danke, Natur. Ich ziehe meine Schuhe an und blute ein wenig auf die Innensohle.
Aus einem magischen Eingehen in die Wildnis, einer Abkehr vom Menschlichen wird für die Abenteurerin-aus-Zufall also eher nichts. Auch nach Tagen nicht. Oder sind es Wochen? Hunger und Durst machen Judith ständig zu schaffen; genauso das Gefühl, in diesem Umfeld eben doch ein Fremdkörper zu bleiben.
Und ich, die ich mitlese, fühle mich ebenso fremd in dieser Geschichte. Ich stolpere so durchs Erzählte, stupse den einen oder anderen Gedanken an wie einen Pilz, unsicher, ob der nun genießbar ist oder nicht, vertraue dem unterspülten Boden nicht so recht, frage mich, wo’s lang geht.
Am Ende bin ich unentschlossen, ob die Rätselhaftigkeit der weiteren Geschehnisse Programm ist und ich darin den Wegfall von Arbeit und Struktur, den Rückfall in sperrige Wildheit gespiegelt sehen möchte – oder ob diese Rätselhaftigkeit eher dem Umstand geschuldet ist, dass hier wieder einmal eine Idee, die prima Substanz für eine mittellange Erzählung hergegeben hätte, mit Ach und Krach auf rund 180 Seiten ausgedehnt wurde, um Roman draufschreiben zu können. Geschmackssache, vielleicht.
>Jana Volkmann, Auwald (Verbrecher Verlag)
Foto: Grebe, 2020