WILDHEIT > Jana Volkmann, Auwald

Routine lauert im Leben überall: eingespielter Arbeitsalltag, etablierte Beziehung, feste Einkaufsadressen und Spazierwege. Auch in Judiths Leben haben sich allmählich die Strukturen verfestigt: Die Möbeltischlerin lebt mit Freundin Lin in angenehmer Lage in Wien, sie fühlt sich wohl mit ihrem Handwerk, ihrem Chef, ihrer Werkstatt, und sie bewegt sich auf gewohnten Wegen durch die Stadt. Das klingt, wenn Sie mich fragen, alles ganz gesund.
Und wenn Sie Judith fragen?
Die Antwort ist tänzelnd. Hier und da drücken sich Zufriedenheit, Gelassenheit aus. Im Hintergrund aber wispert die Leere. Judith ist eine, die sich damit arrangiert hat, sich immer ein bisschen fehl am Platz zu fühlen, eine, die immer eher passiv durchs Leben schlurft. Keine Leidensfigur, da ist nicht genügend negative Energie. Aber auch nicht genügend positive, dass Judith mal als mutige Umgestalterin aktiv würde – kleinkrämerische Ausgestalterin, das ist eher ihre Kragenweite. Bei der Arbeit ist sie die Fachfrau für filigrane Detailarbeiten. Akribie ist ihr Lieblingswort.
Dementsprechend wird ihr vom Chef ein eher spezieller Kundenauftrag zugewiesen, eine Frickelarbeit: die Restaurierung eines Puppenhauses.

An einem gewöhnlichen Puppenhaus hätte Judith nie Gefallen gefunden, dieses hier zog sie dagegen sofort in seinen Bann. Ein kleines, leeres Universum, in dem sie sich zuhause fühlte, ohne Teil von ihm zu sein.

Es handelt sich dabei um das Modell eines Hauses, worin die Arbeitszimmer berühmter SchriftstellerInnen untergebracht sind. Judiths Aufgabe lautet, sowohl den Kasten im Ganzen als auch das kleinteilige Inventar, die Schreibtische, Telefontischchen, Sessel, Stühle, Regale von Susan Sontag, Adolfo Bioy Casares, Ingeborg Bachmann und vielen anderen, wieder in Schuss zu bringen. Macht sie auch, penibel, mit Herzblut. Wie besessen.

 […] sie blieb noch länger als sonst in der Werkstatt, sparte sich die Mittagspause und hing daheim ihren Gedanken an die kleinen Möbelstücke nach. […]  Jeden Winkel des Hauses nahm sie unter die Lupe, ölte, schliff und leimte, schnitzte und sägte und fluchte und freute sich. Die Arbeit schien kein Ende zu nehmen, immer fielen ihr neue Details auf, derer sie sich annehmen konnte. Dass die Wählscheibentelefone keine Kabel hatten, konnte sie nicht auf sich beruhen lassen. Und wo ein Kabel war, musste auch eine Steckdose sein.

Selig verschwindet Judith im Mini-Kosmos – bis ihr Chef sie abrupt an den Ohren herauszerrt: Nein, Nacht- und Wochenendarbeit dulde er nicht, und ihre Überstunden müsse sie gefälligst abbummeln, ab sofort.
Konfrontiert mit drohender mehrtägiger Langeweile, entscheidet Judith, einem Zufall folgend, mal einen Ausflug nach Bratislava zu unternehmen. Warum auch nicht? Sie kauft eine Fahrkahrte für ein Donauschiff und vertraut sich dem Fluss (des Lebens, versteht sich) an. Ihr puppenhaushaft starres Leben mit Lin, ihr puppenhaushaft ausstaffiertes Wien, ihr Puppenhaus in der Werkstatt lässt sie hinter sich – für die Dauer eines Kurztrips, glaubt sie.
Doch Judith hat dem Zufall die Tür geöffnet. Und nun macht er sich breit, erweist sich als ziemlich herrisch und wirft am Ende glatt seine Gastgeberin aus ihrem so akribisch durchstrukturierten Häuschen. Es geht was schief in Bratislava. Und es passiert etwas Unerklärliches mit dem Donauschiff, das Judith nach Wien hätte zurückbringen sollen. Und überhaupt ist nach nur einem, eigentlich gewöhnlichen Vormittag plötzlich nichts mehr wie zuvor.
Judith findet sich im Auwald wieder, im wilden, naturbelassenen Grün entlang der Donau, inmitten von Gesträuch, auf sumpfigem, halbfestem Boden. Die Ordnung der Dinge setzt aus.
Sogar der Roman bricht an dieser Stelle entzwei: Volkmann, die in der ersten Hälfte in der Vergangenheitsform über sie, Judith, schreibt, lässt diese in der zweiten Hälfte aus der Ich-Perspektive weitererzählen, im Präsens. Da hat eine Figur ihr Puppenhaus verlassen, will nicht mehr Objekt sein, beginnt eigenständig zu existieren, indem sie aus ihrem geordneten Mief heraustritt, sich den frischen und furchtbaren Wind der Katastrophe um die Ohren wehen lässt.
Sinnbild dieser Metamorphose ist eine Art Tunnel im Donau-Ufer, vielleicht ein trockengefallener Düker oder eine Hochwasserdrainage, was auch immer; hier erlangt dieses Tunnelrohr jedenfalls die Funktion eines, sozusagen, Wiedergeburtskanals.

Sie hörte es tropfen und trappeln, als wäre der Tunnel selbst zum Leben erwacht. Die eine Hand tastete sich am moosigen Boden entlang, die andere streckte Judith in mutiger Zuversicht immer wieder voraus und unterdrückte den Impuls, etwas in die Leere zu rufen, ihren Namen oder einfach irgendetwas, um ihr Echo zu hören oder ein paar Tiere aufzuschrecken, die hier unten schon auf sie warteten.  […]  Sie kroch und kroch. 

Bis zu einem Sperrgitter:

„Erle, Eibe, Douglastanne“, beschwor sie das Gitter. Das Echo ihrer Stimme trollte sich in die Höhle zurück. Mit einem fügsamen Knirschen ließ das Gitter sich öffnen und gewährte ihr den Weg nach draußen. Erstaunlich, wie schnell manche Gefängnisse einen gehen lassen. Sie kroch noch ein paar Meter, ehe ihr einfiel, dass sie sich jetzt wieder in die Länge strecken konnte. Sie lief in die offene Wiese hinein, dann ließ sie sich sinken, wärmte sich den Rücken am Boden und das Gesicht in der Sonne.

Wozu dieses Simsala-Baum, diese Zauberformel? Sind wir im Märchen gelandet? Oder ist es womöglich ganz normal, dass einem ein bisschen schamanisch zu Mute wird, sobald man der Zivilisation gründlich den Rücken gekehrt hat, so wie Judith?

Ich habe meinen Namen in eine feuchte Ritze geschoben, im Vorübergehen, und dort bleibt er nun. Ich würde ihn nicht einmal wiederfinden, wenn ich ihn suchen würde.

Die Möbeltischlerin, die abgelagertes Holz in allen Varianten bearbeitet, bekommt es jetzt mit Holz in wachsender, blühender, gedeihender Form zu tun. Dieses Holz gehorcht ihr nicht. Während sie sich durchs wilde Dickicht bis nach Hause, nach Wien durchschlagen will, erweist sich die Natur nicht als ihre Verbündete. Sie ist unbequem, die Natur.

Das Gras streift mir um die Knöchel. Ich gehe auf Samt.  […]  So lebt es sich halbwegs angenehm, denke ich noch, als ich auf einen dornigen Ast trete, der mir ein Loch in die weiche Haut zwischen dem kleinsten und dem zweitkleinsten Zeh reißt. Danke, Wald, danke, Natur. Ich ziehe meine Schuhe an und blute ein wenig auf die Innensohle.

Aus einem magischen Eingehen in die Wildnis, einer Abkehr vom Menschlichen wird für die Abenteurerin-aus-Zufall also eher nichts. Auch nach Tagen nicht. Oder sind es Wochen? Hunger und Durst machen Judith ständig zu schaffen; genauso das Gefühl, in diesem Umfeld eben doch ein Fremdkörper zu bleiben.
Und ich, die ich mitlese, fühle mich ebenso fremd in dieser Geschichte. Ich stolpere so durchs Erzählte, stupse den einen oder anderen Gedanken an wie einen Pilz, unsicher, ob der nun genießbar ist oder nicht, vertraue dem unterspülten Boden nicht so recht, frage mich, wo’s lang geht.
Am Ende bin ich unentschlossen, ob die Rätselhaftigkeit der weiteren Geschehnisse Programm ist und ich darin den Wegfall von Arbeit und Struktur, den Rückfall in sperrige Wildheit gespiegelt sehen möchte – oder ob diese Rätselhaftigkeit eher dem Umstand geschuldet ist, dass hier wieder einmal eine Idee, die prima Substanz für eine mittellange Erzählung hergegeben hätte, mit Ach und Krach auf rund 180 Seiten ausgedehnt wurde, um Roman draufschreiben zu können. Geschmackssache, vielleicht.


>Jana Volkmann, Auwald (Verbrecher Verlag)


Foto: Grebe, 2020

WILDHEIT > In den Nischen, zwischen den Fugen, im Andersort

Draußen reihen sich geordnete Vorgärten aneinander. Mehr oder minder sorglose Leute führen ihre Hunde Gassi. Der Supermarkt ums Eck ist voll. Niemand da, um mich in ein Geheimgefängnis zu verschleppen, in so ein Kellergewölbe, worin knöchelhoch Blut und Exkremente stehen; auch keine Raubtiere, die Appetit auf mich hätten. Geräuschlose Ruhe. Drinnen fließend Strom, Wasser, Wärme und W-Lan; kein Ungeziefer, keine Schläger, keine Sterbenden. Meine Instinkte dürfen faulenzen, ich brauche nicht zu kämpfen und zu jagen, um zu überleben.

Gebäude, Verkehrsmittel, Bekleidung, Kosmetik: so viel Verpackungsmaterial, damit das Wilde da draußen nicht zu uns hineindrängt, und das Wilde da drinnen nicht aus uns heraus.

Wenn ich in Wald oder Feldmark unterwegs bin, höre ich es manchmal schnaufen, grunzen, quieken. Trotzdem kann ich die Schweine nicht sehen, weiß nicht, wo genau die Rotte gerade steckt, geschweige denn, wie viele Tiere es wohl sind. Ich mache unauffällig, dass ich wegkomme.
Wie oft ich zu nah an Wildschweinen dran war, kann ich nicht abschätzen, sie verraten sich nicht immer, aber ihre Wühlspuren um alte Baumstümpfe herum, ihre Trittsiegel, ihre Fraßspuren am Rübenacker oder Maisfeld markieren doch deutlich, in wessen Reich ich mich da herumtreibe.
Selten kann ich mal einen Fuchs am Knick entlangschnüren sehen. Rehe stelzen durchs Unterholz oder auf freiem Feld herum. Hin und wieder stoße ich auf die rundlichen Fußstapfen der Dachse.
Wenn mir mal jemand begegnet, dann die mehr oder minder sorglosen paar Leute, die ihre Hunde etwas weiter draußen Gassi führen. Tierärztlich gepflegte, täglich vollwertig gefütterte Hunde, die weder durch Jagd, Nachtkälte oder Revierkämpfe, noch durch Arbeit in der Tierhege Energie verbrauchen würden. Hier macht man sie dann von der Leine los, schickt sie ihre übervollen Batterien entladen, und ihr Rasen, Tollen und Spielen hält man dann für wild.

Heute früh habe ich eine Doku über Gurus und Eso-Trends geschaut; neueste Wundermedizin, außerirdisches Heilwissen, spirituelle Reinigung usw. Neben hundert Methoden, seinen Körper zu vergiften und zugleich sein letztes Geld an irgendwelche schlauen Scharlatane zu verlieren, ging es da auch um ein bombastisches New-Age-Festival in Kalifornien, wo abertausende Menschen hinpilgern, um Liebe und Erleuchtung zu erleben. An jeder Ecke vermitteln Workshops den Zugang zum sakralen Inneren/ extraterrestrischen Wissen/ Jenseits/ Inneren Kind/ Heiligen Bimbam, es wird getanzt, getrancet, gesungen und sich nackig gemacht, bunte Lichter und Duftrauch hängen in der Luft.
Ich bin kein Mensch für so was. Massenveranstaltungen kann ich nicht leiden, Rauschhaftigkeit und betonte Blumigkeit sind mir suspekt. Überraschend kommt mir dennoch der Gedanke, ich müsse so was mal mitmachen, wirklich nur ein Mal – nicht aus Überzeugung oder Interesse, sondern aus Jux natürlich. Um des heillosen Spektakels willen. Um sich mal richtig auszutoben beim freien Anti-Selbstkontrolle-Tanz, um mitzumachen beim Urschrei-Orchester, um ungewaschen, ohne Schlaf, ohne Zeitplan von Feuer zu Feuer zu tingeln und mal hier, mal dort bei haarsträubenden Aktionen mitzumachen. Ich, Undercover-Nichtesoterikerin, könnte mich da reinschleichen und zwei, drei Tage lang mithüpfen, mittanzen, mitschreien, die Farben und das Feuer einfach schön finden, den ganzen spiritistischen Blödsinn einfach nicht ernst nehmen, vielleicht selber das Alien, die Hexe oder die Erleuchtete spielen, so wie man als Kind Meerjungfrau oder Polarforscherin spielte (wann hat man bloß dieses Spielen verlernt?), kurz: einfach einen Heidenspaß haben.
Erwachsene, in der Zivilisation lebende Menschen – junge und ältere, gesunde, gebildete, etablierte, durchaus wohlhabende – kommen dort in bunten Schwärmen zusammen. Sie machen sich von der Leine los, lassen ihren Energien freien Lauf, und ihr Rasen, Tollen und Spielen hält man dann für wild.

Zum Glück sind wir in Wirklichkeit ja keine wilden Geschöpfe mehr. Zum Glück besitzen wir diese wertige Zusatzausstattung: Sprache, Ich-Bewusstsein, abstraktes Denken, Feuer machen, Werkzeug, Kunst, Technik, Religion, Wirtschaft, Hygiene, Wissenschaft, Katzenvideos. Sie wissen schon: Kultur.

Ein Turmfalke hat sich damals mal in den Wintergarten meines Elternhauses verflogen, ein großes Weibchen, es trudelte gegen die Scheiben und Deckenplatten, ließ Federn, hechelte panisch. Mein Bruder und ich – Kinder – standen großäugig davor und wussten nicht weiter. Der Vogel wurde immer wilder, immer kopfloser. Als mein Opa mitbekam, welches Spektakel wir da beobachteten, ging er ohne Zaudern in den Wintergarten, nahm sich die Mütze vom Kopf und warf sie dem Falken über. Opa war auf dem Land aufgewachsen, Kleinbauern, neun Geschwister, gespielt wurde draußen, geschlachtet zu Hause – es gab praktisch nichts Organisches, demgegenüber mein Opa je Berührungsängste gehabt hätte. In einer flüssigen Bewegung fasste er das überrumpelte Tier an den Beinen oberhalb der Krallen und warf es, noch ehe es mit dem Schabel nach ihm hacken konnte, direkt in die Luft. Die Flügel griffen in die Luft hinein, fanden Halt in der Luft, weg war der Falke; die Mütze landete nicht weit entfernt im Garten. Ich träumte tagelang von diesem wilden Fächer, diesem wilden Wind.

Das Wilde ist etwas, das uns Angst macht und doch Kräfte verleiht, etwas von ziemlicher Ambiguität. Die Natur um uns, das Rohe in uns sind fürchterlich, aber doch so anders energiereich, mächtig, und wer weiß, vielleicht hat in unserem Reptilienhirn über die Jahrtausende ein Anti-Prometheus überdauert, einer, der auf Abruf bereit ist, das menschliche Feuer wieder auszupusten, sobald ein archaischer Trigger ihn weckt?

Ist das reiner Blödsinn und die Wildheit etwas, was wir der Welt und uns selbst längst gründlich ausgetrieben haben? Etwas, das es auf der Erde nirgends mehr in purer Form gibt, sodass wir schlechterdings auf den Mars fliegen müssen, um uns davon noch einmalig überwältigen lassen zu können?
Oder ist Wildheit doch etwas, das immer war, immer sein wird, um uns und in uns, und das nur halbherzig in die Dunkelkammern verbannt worden ist, wo wir Kulturwesen es ab und an ein bisschen füttern und begaffen?
Ich meine: Machen Sie das Internet weit auf und Sie finden, schon ganz niederschwellig, das wildeste, viehischte, bestialischste Zeug, Menschenfresserei, Sadismus, Missbrauch, Folter usw., Blut, Blut, Blut und Geschrei. Viel Gespieltes, Fantasiertes – und viel Echtes. Das Internet ist einfach nichts für schwache Seelen; vom Darknet, wo ich bitte niemals landen will, rede ich da noch nicht einmal.
Ist Wildheit nicht auch etwas, was wir Kulturwesen generieren, in unseren Anderswelten, Träumen, verbotenen Zimmern? Und was dort lebt – wieviel davon lebt auch auf der anderen Seite, auf dieser Seite, schon seit Langem, oder seit gestern, oder bald, vielleicht ab morgen?

Draußen hat’s ein Igelchen erwischt, platt ziehen sich Stachelpelz und Gliedmaßen und Innereien lang hin auf dem Asphalt. Sofort kommen die Verwerter aus ihren abseitigen Nischen hervor, die Krähen, Elstern, Eichelhäher, nachts dann sicher die Marder, unsichtbar die Kleinstlebewesen. Ein Kind kommt vorbei und bleibt stehen, erschrocken-angeekelt-interessiert.


Foto: Grebe 2020

WILDHEIT > „Pisse und Verderbnis!“

Die Unschuldigen von Michael Crummey ist nicht unbedingt was für Leute, denen Schilderungen von allerlei Körperlichkeiten und allerlei Tiertod auf den Magen schlagen. Eher ein Roman für Leute, die Trost in der Schroffheit finden können.
Neufundlands Küste vor rund 200 Jahren, eine abgelegene Bucht, ein Fischer, seine Frau, die Kinder – daraus hätte man einen hübsch-naturkitschigen Roman machen können, aber der Autor hatte andere Pläne. Es ist kein Spoiler, wenn ich vorwegnehme, dass Vater, Mutter und das jüngste Schwesterchen kläglich sterben, denn das tun sie direkt auf der ersten und zweiten Seite; von hier an bestreiten der elfjährige Evered und seine jüngere Schwester Ada dieses Leben, diesen Roman im Alleingang. Schon den Eltern fiel es schwer, die Familie durchzubringen, und umso unmöglicher erscheint es da, dass die Waisenkinder, einsam wie Adam und Eva, sich gegen Hunger, Kälte, Krankheiten behaupten könnten. Die beiden wissen nichts von irgendwelchen Anverwandten oder Paten, sie lebten mit den Eltern stets auf isoliertem Posten, die nächste Küstenstadt liegt eine Tagesreise entfernt und ist ihnen nur vom Hörensagen bekannt. Sie wissen nicht, was Lesen ist; sie mutmaßen, es sei etwas, womit manche Menschen geboren werden und manche nicht. Das ideelle Erbe der Eltern beläuft sich auf einen bezeichnenden Ausruf der Mutter, den Ada für sich übernimmt: „Pisse und Verderbnis!“ Das übrige Erbe besteht aus der Fischerhütte, dem Hausacker, Vaters Fischerboot und einem Stück vom Meer. Indem die Familie verschwindet, verkleinert sich Adas und Evereds Welt zunächst drastisch, wird in der Folge jedoch größer, mit jedem Schritt, den die Geschwister aus Hunger oder Neugier ins bislang Unbekannte hinausgehen. Sie begegnen der Besatzung eines Handelsschiffs, einem Schreiber und Priester, toten Ureinwohnern, Tieren, sonderbaren Phänomenen, einem Lebemann und Abenteurer, einer gutherzigen Frau, einem kaputten Schiff und seiner wilden Mannschaft, einem toten Schiff.
Die Natur ist dabei ein humorloser Gastgeber. Und Ada und Evered sind keine idealisierten Naturkinder. Die zähen Survivalkids mögen Robben, weil man sie essen kann, interessieren sich für Pflanzen, wenn man sie essen kann, und sie schauen bloß aufs Meer hinaus, um abzuschätzen, wann endlich der Fisch kommt, den es zu fangen gilt – oder das Schiff mit dem bezeichnenden Namen Hope, denn es bringt Vorräte. Der Glanz des Wintereises schmerzt in den Augen, Stürme und Kälte sind lebensgefährlich. Das Jagen ist eine manchmal grausame Sache. Die Schönheit der Wildnis spendet an keiner Stelle Kraft oder innere Ruhe, das ist eher die Aufgabe von Alkohol. Jedenfalls: Jeder lauernden Verklärung des rustikalen, eremitischen Lebens inmitten unberührter Natur geht der Autor entschieden aus dem Wege. Crummey, selbst Neufundländer, romantisiert hier gar nichts, nicht die malerische Küstenlandschaft, nicht die majestätischen Wälder, er liefert keine schwärmerischen Naturschilderungen, würdigt die Natur keines Detailblicks und zeichnet nirgends Bilder eines innigen Einklangs zwischen Mensch und Natur.
Genauso wie der umliegenden Natur stehen die heranwachsenden Kinder auch ihrer inneren Natur, ihren Stimmungen, Gefühlen, Trieben, gegenüber: autodidaktisch und allzu oft am Rande der Überforderung. Den Roman-Titel (im englischsprachigen Original The Innocents) hat Crummey in vorauseilender Verteidigung seiner Hauptfiguren schlau gewählt, auf dass Sie, werte Leserschaft, diese Kinder (bzw. den Autor höchstselbst) bitte nicht vorschnell in die Hölle wünschen mögen. Bedenken Sie: Was darf ein Mensch, wenn da kein anderer Mensch ist, der ihm erklärt, was man nicht darf? Crummey macht kein voyeuristisches Spektakel daraus, wenn die Waisenkinder, bald im Teenageralter, bald als junge Erwachsene, sich körperlich ausagieren. Eine nüchterne, aber keinesfalls grobe Sachlichkeit bestimmt durchgehend den Erzählton und nivelliert alle Geschehnisse. Urteile werden nicht gefällt – die Moral wird, tja, ganz Ihnen überlassen, liebe Lesende.
Und es gibt so einige Moralfragen, die sich stellen. Das Verhältnis zwischen den Geschwistern – kippt das in den Missbrauch? Oder nicht? Die Hope macht jeden Herbst an der Waisenbucht Halt, weil der Vater alljährlich seinen getrockneten Fisch an Bord brachte, als Bezahlung für Vorräte und notwendige Gerätschaften; der Bordschreiber erklärt das dem frisch verwaisten Evered bei seinem ersten Besuch auf dem Schiff, er erklärt ihm auch, dass die Schulden seines Vaters für größere Vorräte auf ihn und Ada übergegangen seien, und er lässt sich von Evered überzeugen, dass die Kinder von jetzt an, wie zuvor die Eltern, das Vertragsverhältnis weiterführen und alljährlich ihren Trockenfisch abliefern wollen. Darf der Beamte das – die Kinder einfach sich selbst überlassen, nach dem Verlust ihrer Eltern, in diesem lebensfeindlichen Nirgendwo? Und sogar Schulden von ihnen einfordern? Wohlgemerkt, um 1800 herum galt ein Elfjähriger durchaus als erwerbsfähig. Dürfen die Seeleute dem Jungen ihren Alkohol andrehen? Der galt schlechterdings ja nicht als Suchtmittel, sondern Lebensmittel und Medizin, nicht wahr? Eines Tages erspähen die Geschwister in Küstennähe ein im Packeis havariertes Schiff, begeben sich auf Schatzjagd und finden an Bord wertvolle Kleidung – aber auch die Belege für einen furchtbaren Überlebenskampf. Was darf der Mensch in höchster Not? Ada und Evered leisten die schwere Versorgungsarbeit, um überleben zu können, Hand in Hand, und sie erbringen diese Leistung zu gleichen Teilen. Weswegen steht es nur Evered zu, über ihre gemeinsame Zukunft zu entscheiden, und Ada nicht? Für alle Frauen, die im Roman Erwähnung finden – allesamt Exemplare von zäher Natur, aber ungewissem Seelenfrieden -, gilt der Imperativ der Versorgung. Was heißt das für die Moral? „Pisse und Verderbnis!“ – warum wohl ist dieser Fluch hier das Erbe der Mütter an ihre Töchter? Wo liegen die Unterschiede, wo die Deckungsgleichheiten zwischen Christentum und Moral? Besitzt der Mensch eine Art Ur-Moral, gewissermaßen naturgegeben? Auch das Durchphilosophieren solcher Fragen überlässt der Autor Ihnen allein.
Erzählt ist das Ganze recht konventionell, und gäbe es da nicht diese mitunter etwas haarigen Moralfragen, sähe man beim Lesen schon direkt eine Netflix-Verfilmung vor sich. Ein Schmöker – der aber seine Dornen hat. Von der archaischen Härte eines, sagen wir, Cormac McCarthy ist Michael Crummey unterdessen ein ziemliches Stück entfernt: Vielerorts, wo die Geschichte leicht ins Bitterschwarze kippen könnte, rettet Crummey seine Kinder dann doch lieber in ein etwas glimpflicheres Schicksal hinüber. Mit Beschönigung hat das weniger zu tun, vielmehr ließe sich schlecht 350 Seiten lang über das Leben zweier Waisenkinder in der kanadischen Wildnis schreiben, wenn die nicht wenigstens ab und an auch mal Glück hätten.
Was genau „Glück haben“ bedeuten soll, das gehört übrigens auch zu diesem Katalog von Fragen, mit denen man hier kinderseelenallein bleibt.


>Michael Crummey, Die Unschuldigen (Eichborn)
Ich bedanke mich herzlich beim Verlag für das Leseexemplar, um das ich gebeten hatte.


Foto: Grebe, 2019