VERGANGENWELT > Steinbeck zu, Steinbeck auf

Früher gab es Amerika. Das ist eine Weile her, ich war noch in der Schule. Für meine Eltern, meine fast-pensionierten Lehrer und das Fernsehen – allesamt Zöglinge des Kalten Kriegs – war dieses Amerika der Fixstern in dunkler Nacht. Klingt blumig, war aber poesiebefreiter Polit-Kurs. Amerika bedeutete Freiheit, alles übrige bedeutete anrollende Panzer. Dabei hatte ich diese Panzer-Angst, anders als vorige Generationen, gar nicht im Leib, und doch war auch meine unbewusste Amerika-Bindung absolut, quasi naturgegeben, quasi als wäre ich selbst irgendwie ein kleines bisschen Amerikanerin – das nennt man Prägung, und wenn man kritisch ist, nennt man es Gehirnwäsche, männerklärten mir die Jungs vom Politik-LK. Den Begriff Amerika verwendete man synonym für USA, (Wilder) Westen, Beverly Hills 90210, Demokratie, freiheitliche Gesellschaft, Weltspitze, Utopia, Bill Clinton, militärische Dominanz, Fast Food und Fast-Kultur. Jenes Amerika war seine eigene Showbühne und kam in den unterschiedlichsten, jedoch stets selbsterklärenden Kostümen daher. Es bewegte sich trittsicher im Semiotischen Dreieck. Alle glaubten mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit zu wissen, was ein „echter amerikanischer Patriot“, ein „typischer amerikanischer Arbeiter“, ein „All American Girl“, die „amerikanische Jugend“ oder der „American Way of Life“ sein sollten, und diese Konstrukte sind so mächtig, dass sie nie von der vielschichtigen Realität zerstört wurden, sondern über ihr stehen. Vielmehr orientiert und misst sich die Realität sogar an ihnen, was eine Art Rückkopplungsschleife erzeugt: Der Glaube, alle AmerikanerInnen besäßen eigene Waffen, bewirkt, dass sich viele AmerikanerInnen eigene Waffen zulegen. Der Glaube, alle AmerikanerInnen könnten sich selbstverständlich kein Leben ohne eigenes Auto vorstellen, bewirkt, dass sich viele AmerikanerInnen kein Leben ohne eigenes Auto vorstellen können. Etc. Auch bewirkt der Glaube, alle AmerikanerInnen seien locker und unternehmungslustig, dass man als AusländerIn in Amerika überall diese Lockerheit und Unternehmungslust beobachtet, und der Glaube, alle AmerikanerInnen seien sportbegeistert, bewirkt, dass man die Sportbegeisterten in besonderem Maße wahrnimmt, etc. Jedenfalls – man hätte sich denken können, dass eine Gesellschaft, die mit einer solchen Vehemenz jene vereinfachenden, glorifizierenden Konstrukte wiederkäut, in der Realität eine umso diversere Gesellschaft sein muss, wo der breiten Masse kein einheitlich-einfacher Lebensalltag, geschweige denn Glanz und Gloria beschieden sind, und sicher tat man das auch, doch um in der Englisch-Klausur seine 15 Punkte zu kassieren, leierte man natürlich bloß das Amerikanische Gebet herunter, „Life, Liberty and the Pursuit of Happiness“, und fertig.
Früher also gab es einmal Amerika. Es war gemacht aus Öl und Film, Rock’n Roll und Raumfahrt, Touchdowns, Canyons, Valleys, Airlines und Autos, Tellerwäschern und Millionären, Coke, Doughnuts, Santa Claus, Bankern, Hippies, Kennedys, Backstreet Boys, Gershwin, Army, Navy, FBI, CIA, NY, LA, Rot, Weiß und Blau und unaussprechlich vielen Dingen, die mir augenblicklich vor Augen stehen; auch, und nicht zuletzt, stapelweise Steinbeck-Romane.
Wenn ich nun „Amerika“ denke, bleibt die gesammelte US-Klassik zwar mitgedacht. Nur denke ich heute kaum noch ganzheitlich: „Amerika“. Ich denke viel häufiger „Teile der USA“, „Phasen der USA“, und meine damit ein jeweils spezifisch anmutendes Amerika, das 9/11-Amerika, das Obama-Amerika, das Wirtschaftskrise-Amerika, das Trump-Amerika, das Bibel-Amerika, das Metropol-Amerika, das südliche…
Oder das Literarische-Folklore-Amerika.

Stichwort Bücher: Kennen Sie – entschuldigen Sie diese umständlichen Einschübe immer, aber kennen Sie das, wenn ein Buch Ihnen die Tür öffnet? Oft tun Bücher das ja nicht, so geht’s mir dabei jedenfalls, meist bleibt ein Buch ein nicht begehbarer Raum für mich, ich gucke von draußen zu, was darin passiert, welche Leute, Dinge, Stimmungen in dieser durchsichtigen, aber geschlossenen Kapsel einander umwirbeln, und ich denke mir meinen Teil dabei, so als Beobachterin. Ich trete nicht ein. Mit Malerei verhält es sich ähnlich: Da sind viele Bilder, die ich gerne betrachte, sehr viele, aber nur die wenigsten betrete ich.
Es ist mühsam zu erklären, was genau dieses Betreten meint. Am ehesten lässt es sich vielleicht so schildern: Aus einem Buch oder Bild heraus ruft es nach Ihnen, und Sie gehen dem ohne zu zögern nach, denn es ruft wie etwas Vertrautes, und überall darin empfinden Sie, dass sich Ihre seelischen Verhältnisse glatt einfügen in das, was Sie da betreten haben, Sie können sogar alles anfassen, alles riechen, und Sie staunen nicht einmal darüber, es ist wie selbstverständlich.
Interessant ist, wie vollkommen unabhängig vom jeweiligen Inhalt das geschieht: Ich war nie am Mississippi, erst recht nicht um 1840 herum, das macht gar nichts, Huckleberry Finn war der erste Romanmensch, die mich an der Hand packte und zu sich hin zog, durch eine plötzlich geöffnete Tür ins Andere hinein, ich meine, ich las nicht bloß von seiner Floßfahrt, sondern lag selbst tagelang da, auf dem rauen Holz, schwankend, haltlos, trotzdem selig.
Ich hatte nie solchen Zutritt zum TKKG-Internat, zu Hogwarts und Mittelerde, nicht zum Zauberberg, nicht zum Dublin von Leopold Bloom und Stephen Dedalus, nicht zu Ulrichs und Agathes Wohnung in Kakanien. Aber ich wohnte in Krabats Mühle, auf John Kaltenbrunners Farm, in Rock Oldekops Heimatort; ich saß in Murphys Schaukelstuhl und neben Ernst Schnabel im Flugzeug; Julio Cortázars Rayuela-Paris war mir echter als das echte Paris; nach jedem Betreten von Cormac McCarthys neo-alttestamentlicher Westernwelt war ich halb verdurstet; auch Herta Müllers Häuser, Wohnungen, Arbeitsräume im zutiefst lebensfeindlichen Ceaușescu-Rumänien, wo ich kaum Luft bekam, öffneten mir stets sämtliche Türen, warum auch immer.
Solche Türen bleiben indessen nicht zwingend geöffnet. Es gibt Bücher, die ich, weil ich sie betreten habe, fortan wie Talismane mit mir herumschleppe, auf ewig, die überstehen jeden Umzug, und doch schließt sich mitunter einmal einer ihrer Zugänge. Ehe man sich’s versieht, passt man plötzlich nicht mehr durch. Warum auch immer.

In meiner Schulbibliothek damals stand meterweise John Steinbeck auf Englisch herum, in Klassensatzstärke, was andeutete, dass man im LK wohl nicht um den herumkäme. Ich deckte mich achselzuckend damit ein, Of Mice and Men, East of Eden, Cannery Row, The Grapes of Wrath, Tortilla Flat, verlor allerdings in Rekordzeit den Spaß an der Sache.
Einzig Cannery Row verfing bei mir, dafür umso gründlicher.
Ein Millieu-Roman, angesiedelt irgendwann in den 1920ern, im prekären Hafenviertel von Monterey: Doc, der zupackende, hilfsbereite Schöngeist und ewige Junggeselle, führt ein meeresbiologisches Institut im Ein-Mann-Betrieb und wohnt praktischerweise auch gleich im Labor. Macks Clique von abgerissenen Tagelöhnern plant, als Dank für allerlei Hilfe finanzieller und medizinischer Art, für den ehrbaren Doc eine Überraschungsparty zu schmeißen – was leider bös aus dem Ruder läuft. Ein zweiter Anlauf soll Wiedergutmachung leisten. Die Damen aus Doras Bordell helfen mit; Lee Chongs Lebensmittelladen liefert Deko und Getränke. Alle leben sie als Nachbarn auf der Küstenstraße und gleichen sich in ihrer Armut, Zähigkeit, sozialen Randlage.
Es war natürlich seine Warmherzigkeit, damit hatte Steinbeck mich, und dafür liebe ich ihn noch, all seinen Figuren ließ er sie angedeihen und ich fühlte mich wohlig inbegriffen. Ich wohnte also in Monterey, direkt am Hafen, in der Straße der Ölsardinen (so der deutschsprachige Titel), in diesem vergangenen, nostalgischen Bilderbuch-Amerika, ich wohnte in Docs Haus-und-Labor und jobbte bei Bedarf in einer der vielen Fabriken für Fischkonserven. Es war wundervoll. Kalifornien! Der Pazifik! Dieses lockere, gleichzeitig hartgesottene Leben, ach!
Was ein Kitsch!
Heute komme ich nicht mehr in die Cannery Row hinein. Die Grobheit der Dialoge und der Zustände sorgt zwar dafür, dass der Roman nicht ins Rührselige kippt, aber mit meinem jetzigen Gemüt sehe ich die ganze Ansammlung nostalgischen Plunders, die Romantisierung von Armut, Prostitution, Kleinkriminalität, die Verniedlichung von Suff. Was man Steinbeck gar nicht zum Vorwurf machen kann – er hat’s ehrlich gut gemeint. Außerdem war eine große Portion romantische Menschenfreundlichkeit mit Sicherheit etwas, was die Welt im Veröffentlichungsjahr 1945 dringend brauchen konnte.
Ich miste derzeit wieder einmal Bücher aus, aber von der Cannery Row trennen würde ich mich nie. Latentes Heimweh nach meiner abstrakten WG mit Doc. Und immer noch finde ich darin ja Tröstliches, Schlaues, Hübsches:

Als Doc auf der Universität Chikago [so steht’s in meiner deutschen Ausgabe von 1953] studierte, hatte er eine unglückliche Liebe, war außerdem überarbeitet und begab sich daher mit Stock und Rucksack auf Wanderung, lief endlose Wege durch Kentucky, North Carolina, Georgia bis Florida, traf Farmer, Fischer, Gebirgler und Sumpfbewohner, kurz: Menschen aller Art, und alle fragten ihn, warum er so durch die Gegend renne. Als wahrheitsliebender Jüngling erklärte er, er sei nervös und wolle gern das Land sehen, das Gras, die Bäume und Vögel, den Duft der Erde atmen und sich an der Landschaft ergötzen. Da ärgerten sich alle, weil er die Wahrheit sprach. Die einen schimpften, andere tappten sich mit dem Finger vor die Stirn, wieder andere kniffen ein Auge zu, als durchschauten sie ihn. Er wurde für einen Schwindler gehalten. Besorgt um seine Töchter, Schweine oder Hühner, wies ihm so mancher die Tür und riet ihm, sich nie wieder blicken zu lassen. Darauf gab der junge Doc der Wahrheit den Laufpaß und erzählte jedermann, der es wissen wollte, es handle sich um eine Wette: um hundert Dollar! Das glaubten ihm alle, und er war überall, wohin er noch kam, beliebt. Man lud ihn zum Abendbrot und zum Übernachten ein, setzte ihm morgens ein gutes Frühstück vor, wünschte ihm glückliche Reise und fand, er sei ein Prachtmensch. Noch immer liebte er die Wahrheit, aber sie war, das wußte er jetzt, als Geliebte gefährlich.

Während Steinbecks Ton in Die Straße der Ölsardinen erfolgreich die Waage hält zwischen pastoral und salopp, tönen die Früchte des Zorns vollends biblisch, was mich im ersten Lese-Anlauf, zu Englisch-LK-Zeiten, vollends abgeschreckt hatte. Zuletzt hatte ich den 500-Seiter vor gut drei Jahren in die Hand genommen, in der Erwartung kalten Kaffees, wollte ihn eigentlich nur aussortieren und blieb dann doch dran hängen: Da stand, warum auch immer, die Tür offen.
Oklahoma, 1930er Jahre: Während Farmersfamilien ohnehin nur kümmerlich von ihren Erträgen leben können, verwandelt eine Umweltkrise die Großen Ebenen zur Dust Bowl, Trockenheit und Bodenerosion verursachen vernichtende Staubstürme. Zudem verschärft die Weltwirtschaftskrise die finanzielle Not der Landbevölkerung. Pachtverträge zu erfüllen gestaltet sich für viele unmöglich, es folgt eine Enteignungswelle. Die Existenznot treibt Menschen aus Oklahoma und den angrenzenden Staaten, die der Großen Dürre ausgeliefert sind, in Scharen gen Westen, auf der Suche nach Unterkunft und Arbeit. Unter ihnen die Familie Joad, einfachste Bauern, anständige Leute – dass Sohn Tom gerade im Gefängnis war, ist eher den allgemeinen Umständen geschuldet, sicher nicht seinem Charakter, nein, oder höchstens ein bisschen. Nun, der Familie bleibt nichts als eine Handvoll Habseligkeiten – und (natürlich, der amerikanische Mythos schlechthin) ein Auto. Auf dem Treck, dem Sonnenuntergang entgegen, begleitet Steinbeck sie Woche um Woche, Monat um Monat. Tatsächlich war Steinbeck mit ganz ähnlichen Familien wie den Joads unterwegs auf dem Migrantentreck quer durch die USA, ein guter Teil des Romans hat lupenreinen Reportage-Charakter. Überall schimpft man über die „Okies“, auf offener Straße sind sie ungehemmter Feindlichkeit ausgesetzt, sie beziehen Dresche, sie leiden Hunger, es folgen schlimmere Dresche, schlimmerer Hunger, zunehmende Verzweiflung, Kranke, Tote, leidende Kinder. Als die Joads den Weg in ein Auffanglager finden, wo es Sanitäreinrichtungen und eine Gemeinschaftsküche gibt, schimmert kurzzeitig Hoffnung auf; Tochter Rose, gerade schwanger, bekäme medizinische Unterstützung. Aber auch dort ist kein Bleiben. Ein quälendes Jammertal, wirklich, es verkrampft einem die Seele beim Lesen.
Warum mir das vorher nicht sonderlich zugänglich gewesen war, liegt vielleicht am ehesten darin begründet, dass es hier keine Zentralfigur gibt, die mich Teenagerin hätte Huckepack nehmen können, sondern es ist ein Kollektiv, das da im Mittelpunkt des Erzählens steht: The Grapes of Wrath ist im wahrsten Sinne ein Familienroman. Die Nöte einer Schwangeren, die stumme Angst einer Mutter usw., mit 17 konnte ich mich nicht hineinfinden in dieses Zeug. Heutzutage möchte ich jeden einzelnen Joad umarmen, manchmal auch schütteln, je nachdem – wie das nun eben so ist mit Familienangehörigen.
Noch wichtiger ist die unerschöpfliche Thematik.
Nachdem die zweite Hälfte des 20.Jahrhunderts im Westen die Überwindung jener Zustände versprach, die seine erste Hälfte bestimmt hatten, hätte man sich beinahe einreden können, die Great Depression sei bloß noch eine Schauergeschichte aus der Historie, nichts weiter. Aber spätestens, als im Zuge der Wirtschaftskrise seit 2007 Bilder von amerikanischen Familien durch die Nachrichten kreisten, die ihre Häuser verloren hatten und nun in ihren Autos wohnten, aßen, schliefen, die keine Kranken-versicherung besaßen, von Ort zu Ort tingelten, sich an jeden Strohhalm klammerten, wurde deutlich, wie abrupt Systeme kippen und Notlagen ausbrechen können, auch im Westen.
Diese Bilder hatte ich ständig vor Augen, als ich den Roman dann doch las, und noch wuchtiger schoben sich die Bilder von den Trecks syrischer Familien in den Blick, die ohne Habe, ohne Schutz, ohne Hilfe nach Westen unterwegs waren und sind, immer nach Westen. Die Auffanglager. Der schäbige Umgang mit diesen Menschen.
Als die Jugoslawien-Kriege begannen, war ich klein, aber ich erinnere mich, dass wir auf einen Schlag viele Kinder in unsere Schulklasse bekamen, die „von da“ gekommen waren, in ähnlichen Trecks – wie sind wir damals mit ihnen umgegangen?
Die Joads wollen nach Kalifornien, hoffen, Arbeit in den Obstplantagen zu finden, wo viele der Vertriebenen unter ausbeuterischen Bedingungen schuften, weil sie eben keine Wahl haben – in Spaniens Obst- und Gemüseindustrie arbeiten heute MigrantInnen, vorwiegend aus Afrika und auf der Suche nach Europa, unter vollkommen unwürdigen Bedingungen.
Sobald sich die „Okies“ organisieren, bessere Arbeits- und Unterkunftsbedingungen erstreiten wollen, kommen die Schlägertrupps, die Polizei, sofort geht es an die Ausrottung „kommunistischer Umtriebe“ – auch dieses Kommunismus-Geraune ist zurückgekehrt, wo unsere bestehenden Systeme doch vermehrt kritisch überdacht, an der Zukunft gemessen, gescholten werden, und Demagogen träumen längst wieder von Hexenjagden auf „die Roten“.
Die nicht vorhandenen Sozialsysteme, die Mechanismen des Wirtschaftssystems werden hier von Steinbeck klar als Ausdruck von Menschenverachtung benannt. Familie Joad schaut zu, wie in den kalifornischen Fruchtplantagen vor der Nase hungerkranker Menschen die Über-Ernte (tadelloses, gesundes Obst) vernichtet wird, um die Obstpreise stabil zu halten – Überproduktion, Verteilungsungerechtigkeit, auch das kennen wir.
Und in Zeiten der Klimakrise versteht man die geschilderten Dust-Bowl-Stürme, die Wüstenbildung infolge von Überbewirtschaftung plötzlich nicht mehr als einen Rückblick auf die primitiven Anfänge der Agrarindustrie, sondern als einen Ausblick auf unsere nahe Agrarzukunft.
Binnen der letzten zwei, drei Jahre jedenfalls hatte ich angesichts unterschiedlichster Nachrichtenlagen kein Buch so häufig im Sinn wie The Grapes of Wrath. Der biblische Ton, die Anklänge an die Große Dürre und den Exodus wirken nun, da die plastikbunten und bewusstlos-spaßigen Loveparade-Jahre lange hinter uns liegen und sich heute vieles um Bewusstwerdung dreht, nicht mehr so sehr aus der Zeit gefallen. Und die zentrale Diskussion von Nächstenliebe als Notwendigkeit des Menschlichen ist neuerlich drängend.
Mal sehen, was dieses Buch im Brexit-Europa, im Biden-Amerika und vielleicht ja einmal im Harris-Amerika so zu sagen haben wird.


>John Steinbeck, Die Straße der Ölsardinen (engl.: Cannery Row)
>John Steinbeck, Früchte des Zorns (engl: The Grapes of Wrath)


>Foto: Grebe

VERGANGENWELT > Should auld acquaintance be forgot?

Dieses Jahr (schon wieder dieser Texteinstieg) ist es 20 Jahre her, dass mein kleiner, provinzgymnasialer Englisch-LK, angeführt von meinem nun seit 19 Jahren pensionierten Tutor, eine Kursfahrt nach London unternahm. Dieses Mal nicht, wie bei Schulausflügen üblich, mit dem Tourbus des örtlichen Musikzugs und unserem Schulhausmeister (im Privatleben Musikzugsmitglied) als Fahrer, sondern mit modernem Reisebus. Mein Tutor hatte uns im selben Hotel eingebucht, wo er zuvor schon jeden anderen Englisch-LK untergebracht hatte, schaffte uns schlafwandlerisch dorthin und absolvierte in den folgenden Tagen, mit derselben Routine, das unveränderte, weil bewährte Programm aller zuvor schon absolvierten Kursfahrten. British Museum, Stadtführung, Hyde Park, Theaterbesuch, dazwischen festgelegte Zeiten für selbst organisierte Gruppenaktivitäten der SchülerInnen (Freizeit).
London gefiel mir wirklich: Liebe auf den ersten Blick. Es war das Licht, es war dieser Himmel. Ich wollte nie wieder weg. Es war die Art, wie die Kassiererinnen einen grüßten – wenn ich ihnen das Kleingeld passend gab, sagten sie „Lovely!“ („Luwwleh!“). Und wie die Leute, die man in der unruhigen Tube versehentlich anrempelte, von sich aus „Pardon me“ sagten, um den ganzen Vorgang völlig gleichgültig zu beenden. Es war der Singsang all dieser Stimmen. Die Geschäftigkeit, die so viel größer als in Hamburg oder Berlin war und mir doch so viel weniger kochend als hierzulande vorkam – nicht freundlicher natürlich, denn Großstadt ist per se nie freundlich, aber nüchterner, gedämpfter, beherrschter. Es waren die Ziegel der Häuser, die rußfarbenen Schattierungen im Gefieder der Tauben, das ölig-ruhige Fließen der Themse. Die bellenden und predigenden Schreihälse der Speaker’s Corner im Hyde Park. Das Miteinander von Schrulligkeit und Strenge, so eine durchaus hanseatische Städte-Eigenart. Es war – und das war schon immer das einzige, also entscheidende Kriterium für mich, um Leute einzuschätzen – dieses spezifische Spektrum von Lachen, was sich hier abzeichnete und von mir für angenehm befunden wurde. Ich beguckte mir London so verknallt, wie zuvor und danach eigentlich keine andere Stadt, höchstens Delft.
Am Abreisetag gab es noch etwas Freizeit; das große Gepäck war schon im Reisebus verstaut, an dem wir uns gegen Nachmittag zum verabredeten Zeitpunkt einfinden sollten. Drei Stunden vor Abfahrt wurde mir in der Tube, aus dem Rucksack heraus, mein Portmonee samt Personalausweis und Führerschein geklaut. Auch mein U-Bahn-Ticket war damit futsch, also musste ich zunächst über die Drehkreuze in der Oxford Circus Station klettern – meine Freundin, die mit mir unterwegs war, musste Schmiere stehen – und mich danach zur nächsten Wache des MPS durchfragen, das war die West End Central Police Station. Dort herrschte Vollbetrieb: Bunte Figuren wurden in verschiedene Räume begleitet, kreischende Damen, deren asiatische Reisegruppe von einem Taschendieb kollektiv beklaut worden war, belagerten die Anmeldung, unzählige Officers in diesen geschniegelten Uniformen bzw. Kostümchen, auf den Köpfen diese schwarzen Caps mit karierter Borte, düsten hin und her. Wir verbrachten ein bisschen Zeit in einem Befragungsraum – hier musste meine Freundin als Zeugin für meine Identität herhalten -, während ein ausgesucht höflicher, freundlicher, gut gelaunter Officer Formulare mit mir durchging und herumtelefonierte, um Ausweisersatzpapiere für mich fertigzustellen. Er bemühte sich, meinen Mädchennamen auszusprechen, entschuldigte sich, als es ihm auch im dritten Anlauf nicht recht gelang, mich korrekt und verständlich (mit diesem Zungenbrecher) anzureden, es sei ihm peinlich, nun: ob ich es ihm verzeihe, wenn er die Anrede auf Miss verkürze? Er erklärte mir dann, falls ich unerwartet, aber immerhin möglicherweise länger bleiben müsse, bekäme ich miesen Kaffee, aber gute Kekse und die schönste Arrestzelle Londons. Ich antwortete, mir gefiele die Vorstellung in London zu bleiben durchaus, und ich bedankte mich für seine Bemühungen. Der Officer rückte seine Brille zurecht, faltete seine Hände überm Gemütlichkeitsbäuchlein, sagte: selbstverständlich, und: sehr freundlich, Miss. Abschließend bekam ich einen förmlichen Schrieb mit vielen hübschen Stempeln. „If you get through with this, you owe me a drink. Eh, just kiddin‘! BTP [British Transport Police] guys will prefer to let you pass through, otherwise they’d have to look after you. Well, it’s been a pleasure to help you, Miss.“ Mein schöner Schrieb blieb aber unbegutachtet, bei unserer Abreise machte sich niemand am Fährterminal die Mühe einer Kontrolle.
Ich räume zur Zeit viel auf, und ich höre dabei viel Radio. Briten, Brexit, Barnier – irgendwann wird’s nach langen Jahren auch einmal wieder Radioprogramm ohne diesen Dreiklang geben. Seltsam, nicht? Beim Aufräumen also und unter leichtem Brexit-Weh ist mir dieses Papier wieder in die Finger gekommen. Mit meinem Mädchennamen drauf, du liebe Zeit, wie seltsam das heute zu lesen ist. Und mit Kursfahrt-Erinnerungen dran. Da war so ein Freizeit-Tag gewesen, an dem meine Freundin und ich mit der Tube einfach mal Richtungen abklapperten – mal hier aussteigen, mal da, verschiedene Stadtteile in den Zentral- und Randlagen erschnüffeln, stichprobenartig natürlich, viel zu groß diese Stadt, natürlich. Wunderbar. So viel Glanz und Schrott, so viele Menschen, so viel Ruhe und Krach, Rost, Farbe, Nippes, Kunst, Gerüche, Essen, Dreck, Enge, Futurismus, Nostalgie, Menschen, Industrie, Verkehr, Menschen, Technik, Edelholz, Backstein, Beton, Menschen, Filigranes, Grobes, Menschen, Bilderbuch-Kolorit, Spielfilm-Chic, Postkarten-Prunk, Menschen, ach! In meinem Kopf sieht London unverändert so aus, ist es noch immer dieses London, Oktober 2000, nichts zu machen. Ich war nur einmal dort. Heute ist dieses London in einigen Teilen verschwunden, im Gesamtbild verändert, denn 20 Jahre Immobilienboom, Stilwandel, Branchenumbrüche usw. gehen an keiner Stadt der Welt vorbei, ohne sie umzupflügen. Damals hätte ich mehr fotografieren müssen, es ist wirklich schade drum, und ich hätte ja wirklich mehr fotografieren wollen, nur, wissen Sie, leider war mein Farbfilm alle. There, there.


>Fotos: Grebe, 2000

VERGANGENWELT > Reisen, gestern und vorgestern

Dieses Jahr (und wenn Beiträge hiermit beginnen, folgt zunächst einmal Ermüdendes, Sie kennen das, ich auch, es tut mir leid) wurde in der weitgefächerten Berichterstattung über allerlei Pandemie-Begleiterscheinungen eine Personengruppe freilich nicht übergangen: mitteleuropäische Menschen, die unter Reise-Entzug litten. Keine Billigflieger und All-Inclusive-Angebote mehr, keine Übersee- und Städte-Trips, kein – na, usw.
Wie vielstimmig man insbesondere zur Sommerzeit über gestrichene Reisen jammerte, war für mich nur einer von vielen Augenöffnern, die mir 2020 beschert hat. Welche Vehemenz, mitunter auch Arroganz da den Ton bestimmte – man konnte glatt glauben, ein Leben ohne ein bis drei Urlaubsreisen pro Jahr sei kein menschenwürdiges.
Ich wäre zuvor nicht darauf gekommen, in welchem Ausmaß es offenbar ganz normal ist, regelmäßige Urlaubsflüge, Hotelaufenthalte, Wellness- oder Shopping-Wochenenden, Erlebnisreisen, na, usw., zu unternehmen; d.h. ich wäre zuvor nicht darauf gekommen, wie primitiv mein eigenes Urlaubsverhalten wohl zu nennen ist. Wenn man in Jahren, wo es zeitlich und finanziell mal möglich ist, die Familie für ein paar schöne Tage ins Mittelgebirge oder an die Nordsee karrt, z.B. um sich von einer OP zu erholen – auf welcher Stufe steht so etwas eigentlich in der Hierarchie unser aller Urlaube?

Was heutzutage so alles Urlaub ist, war bis ins vergangene Jahrhundert hinein freilich undenkbar. Es gab die Sommerfrische der Adligen. Kuraufenthalte. Die charakterförderliche Grand Tour für junge Herren von Welt. Die gutbürgerliche Bildungsreise. Massentourismus war kein Begriff; was ehedem Massen von Menschen dazu brachte, die weite Welt zu sehen, waren eher der Beruf oder die Not: kaufmännische Unternehmungen, Seefahrt, Wanderarbeit, Heer, Marine, Auswanderung.
Die Demokratisierung des Erholungs- oder Erlebnis-Urlaubs ist ja gar nicht so alt – und doch lässt sich bereits sagen, dass dieses Modell nicht eben in Würde altert: Auf die mitunter überdüngten Blüten, die unser Urlaub-für-alle getrieben hat, schaut man zunehmend kritisch. Nicht nur, dass der Ausstoß unserer Reise-Vehikel die Erderwärmung kräftig mitbefeuert. Es ist auch nicht falsch, sich angesichts offenbarer Übersättigungseffekte so einige Gedanken zu machen: Haben viele Gastgeber-Orte, obgleich sie davon leben, die Touristenschwemme samt deren lokalen Nebenwirkungen auf Natur, Immobilienmarkt etc. inzwischen nicht satt? Und gewinnt man nicht auch häufig den Eindruck, die Urlaubsgäste selbst hätten ihre überlaufenen Ferienorte bzw. den Wettbewerb ums avantgardistischste Urlaubsziel abseits uncool-überlaufener Ferienorte inzwischen ebenso satt?

Aus lauter Herbst-und-Wintermüdigkeit habe ich mich zwischendurch auf einen Reisebericht gestürzt, der nach Nordafrika führt. Lesend reisen, das funktioniert ja nach wie vor. Auf dem Papier stehen einem die unzugänglichsten oder unerschwinglichsten Reiseziele offen, noch dazu vermag man sich nicht bloß räumlich, sondern auch zeitlich in beliebige Richtungen zu bewegen.
Ich, Buchtouristin, wollte Ferne – im Sinne von Süden, und im Sinne von Abstand. Mal an was anderes denken. „Der Charme von Marokko“ lautet der ortsverliebte Titel der Reise-Eindrücke (der Verlag Kupido wählte hierfür den etwas deutlicher literarisch angehauchten Ausdruck „Travelogue“) der 22jährigen Sofia Yablonska: Die alleinreisende Ukrainerin zog es 1929 ins französische Protektorat Marokko, um dort für längere Zeit zu bleiben, ausgerüstet mit eigener Kamera, Schreibzeug und haufenweise Lebenslust. Nachdem sie im Paris der 20er eine Weile lang als Model selbst vor Kameras gestanden hatte, startete sie von Marseille aus ihre Überfahrt nach Nordafrika und erreichte schließlich Marrakesch, wo sie besondere Erlebnisse in episodischen Schilderungen niederschrieb und Menschen und Alltagsszenen fotografierte.
Diesen Fotografien gönnt der Verlag viel Platz, und sie schmücken das Buch ungemein, während die Textblöcke mit ihren dezent verzierten Kapitelüberschriften und ornamental gemusterte Trennblätter das ihrige zur hübschen Gesamtgestaltung beitragen. Dabei erscheint mir die elegante Optik fast zu gezügelt, denn inhaltlich und sprachlich sucht Yablonska stets das Euphorische, Überbordende, Romantische. Nein, um Sachlichkeit geht’s hier wenig. Das macht gleichermaßen den Reiz wie den Mangel dieser Texte aus. Einerseits sprüht aus ihnen die ansteckende Lebendigkeit ihrer Verfasserin, andererseits gerät der Schauplatz, dieses vergangene Marokko, das mir durch manche der Fotos näher kommt, insgesamt zu einer eher ins Märchenhafte entrückten Kulisse, deren historische Verlässlichkeit auf mich unklar wirkt. Zum Reise-Auftakt, in Marseille, beschreibt Yablonska bettelnde Kinder, nörgelnde Touristen und das eigene Reisefieber. Mit der Überfahrt kommt noch größerer Überschwang. Streunergänge durch die Altstadt, Marktszenen, Feuerschlucker, Schlangenfresser. Ein Kaid (ein maghrebinischer Würdenträger) lädt Yablonska zu Gesprächen in sein Haus ein, wodurch sie Einblicke ins privatere lokale Alltagsleben gewinnt. Anders als ihre männlichen Zeitgenossen darf sie sogar einen Harem betreten, der abgeschotteten Gruppe von Ehefrauen einen Besuch abstatten, um ein wenig zu plaudern. Mit Auto und Fahrer unternimmt sie eine Spritztour über die Protektoraktsgrenzen hinaus, wo die Araber und Berber ihre Gebiete verteidigen und das Auto schon bald durch einen Kugelhagel rast.
Menschen, Tiere, Sensationen. Nun mag sachliche Reportage das erklärte Nicht-Ziel Yablonskas gewesen sein und Abenteuerlichkeit eben der Kern ihrer 22jährigen Sehnsucht, warum auch nicht?
Und sonst so? Yablonska kritisiert offen die Arroganz ihrer französischen Kontakte gegenüber den Einheimischen, und sie lästert ausgiebig über die Herden von westlichen Bildungstouristen – sich selbst erhebt sie allzu großzügig über dieses Niveau und erliegt unterdessen einer Versuchung, wie es seither unter Generationen von Individualreisenden nach ihr vorgekommen ist: Aus lauter Liebe verklärt sie, die Auswärtige, ihren Reise-Ort, stellt das Erleben übers Hinterfragen, schmiegt sich unkritisch ans Fremdland an und tanzt ihm dabei doch manchmal mit ihren westlichen Marotten auf der Nase herum, sodass sie, unbedacht, ungewollt, die eine oder andere Unruhe stiftet.
Gemessen an den Maßstäben ihrer Zeit ist Yablonskas Reise natürlich etwas besonderes und mithin als geschichtlicher Splitter interessant. Eine junge Frau, deren Aktivitäten meinen sämtlichen Urgroßmüttern unfassbar fremdartig erschienen wären: Sie schaut, fotografiert, genießt, staunt, sie lebt und schreibt in den Tag hinein – ein sehr freies Dasein.

Der Maghreb liegt für niemanden mehr in einer verzaubert-fremden Welt. Er liegt vor unserer Haustür.
Was ist heute noch fern und unbekannt?
Wussten Sie, dass es auf Antarktika ca. 160 touristische Anlegeplätze gibt, wo jährlich mehrere 10.000 BesucherInnen an Land gehen, um diese, nun ja, diese unberührte Eiswelt zu bestaunen?

In der ARD-Mediathek bin ich letztens über eine Doku über Astronauten gestolpert, die an den Apollo-Missionen beteiligt gewesen sind. Zwölf Amerikaner haben im Rahmen dieser Missionen den Mond betreten. Den Mond. Wie war das dort, am fernsten Ort? Jenseits der Welt? Wie könnte das je einer beschreiben, und wie könnte das je einer verstehen?
Auf die eine oder andere Art hat sich jeder der Mondreisenden einen Bruch an dieser Erfahrung gehoben. An der Wucht ihrer Intensität. An dem Kraftaufwand, eine solche Grenzerfahrung verarbeiten und danach bitteschön in ein recht gewöhnliches Privatleben zurückfinden zu müssen. In den Folgejahren bekam der eine seinen Alkoholismus nicht in den Griff, der andere klammerte sich an die Bibel, dieser wurde zum Aliengläubigen, und jener malte mit manischer Energie nur noch Mondbilder, unzählige Mondbilder.

Ferne war immer ein dehnbarer Begriff – in der Moderne ist er ein schrumpfbarer geworden. In der Nach-Moderne gibt es bereits Weltraum-Touristen, irgendwann wird es touristische Anlegeplätze für Mondreisen geben, klar, aber könnten das je solche Mondreisen sein, wie Apollo-11 sie erlebte?


>Sofia Yablonska, Der Charme von Marokko (Kupido)
Mit herzlichem Dank an den Verlag für das Leseexemplar, um das ich gebeten hatte!