SONDERZUSTÄNDE > „Niemand lebt gern in Angst“

„Die alten Leute und die Kinder haben den letzten Monat fast ausschließlich in Kellern zugebracht, entweder in den kleinen Kellern ihrer eigenen kaputten Häuser oder in den Gemeinschaftskellern unter den Krankenhäusern oder dem Rathaus. Niemand lebt gern in Angst,“

schrieb Martha Gellhorn 1944 in einer Reportage mit der Überschrift „Eine kleine Stadt in Holland“. Gemeint war das kriegszerstörte Nimwegen. Gültig sein dürfte das zugleich für alle Städte, alle „alten Leute und die Kinder“ in Kriegs- und Krisengebieten – damals, heute, immer.
In rund 50 Jahren als Kriegsreporterin hat Martha Gellhorn viele davon gesehen, unzählige Menschen getroffen, Soldaten und Generäle, einfache Zivilisten und Staatschefs.
Fakten zu vermitteln war das eine, das andere, dem Krieg ein Gesicht zu geben. Bei aller Professionalität fand emotionale Anteilnahme stets Platz in ihren Reportagen, war entscheidend für ihr Schreiben, ihr Markenzeichen. Sie brach die großen politischen und militärischen Entwicklungen herunter auf deren konkrete Auswirkungen auf Menschenleben. Dabei bediente sie sich keines Leidens-Voyeurismus, sie machte aus menschlichen Dramen keine schnellen, billigen Sensationen.
Ihr Detailblick zielte darauf ab, eine gewisse Erfahrbarkeit zu schaffen. Was andernorts als sachliche Meldung in etwa klingen würde wie „Achte Armee rückt an die Adriaküste vor“, wurde bei Gellhorn erfahrungsnah, plastisch geschildert.

Drei Tage und drei Nächte lang waren die verschlungenen Nebenstraßen über die Apenninen und die großen Schnellstraßen, die von Florenz aus nach Süden und wieder hinauf nach Ancona ein tiefes V bilden, derart von Verkehr überflutet, wie ihn die meisten von uns noch nie gesehen haben. Lastwagen und Panzerwagen, Panzer, Waffentransporter und Geschütze, Jeeps, Motorräder und Krankenwagen verstopften die Straßen, und es war durchaus nicht ungewöhnlich, für dreißig Kilometer vier Stunden zu brauchen. Die Straßen wurden von diesem Verkehr zu Pulver zermahlen, der Staub lag in knietiefen Wehen, und wenn man einmal ein bißchen beschleunigen konnte, wallte er wie Wasser unter den Rädern. [Aus: Die Gotenlinie. September 1944]

Zwar sparte sie Grausamkeiten, wie sie notwendigerweise jedes Kriegsgeschehen beschreiben, nie aus, doch besaß sie zugleich das Vermögen, das Wesen von Gewalt und Zerstörung indirekt zu beleuchten. So besuchte sie etwa eine versteckte Munitionsfabrik in Barcelona und schrieb über die Frauen in der Produktion:

Am entgegengesetzten Ende des Raums saßen Frauen an Nähmaschinen […]. Sie hatten Stoffe für Sommerkleider, einen wunderschönen rosa Leinenstoff, einen hübschen grauweiß gestreiften, der schicke Hemden abgegeben hätte, eine dicke weiße Seide für Brautkleider. Sie nähten kleine und größere Säckchen, wie für Duftkissen. Ein Mädchen machte die Runde, sammelte sie ein und trug sie nach vorn, wo sie mit dem wie Ziermünzen aussehenden Sprengstoff gefüllt wurden. Dann ließ man je eines der kleinen Säckchen in einen Granatenboden fallen. [Aus: Der Dritte Winter. November 1938]

1908 wurde Martha Gellhorn, Tochter der Frauenrechtlerin Edna Fischel Gellhorn, in St. Louis geboren. Mit Anfang 20 schmiss sie ihr Studium, landete in Paris und verfasste erste journalistische Arbeiten, schrieb anschließend ihre erste große Reportage, daheim in den USA, wo sie gemeinsam mit Dorothea Lange, Ikone der Dokumentarfotografie, die einschneidenden sozialen Umbrüche für weite Teile der amerikanischen Landbevölkerung infolge der Weltwirtschaftskrise aufzeigte. Für das Wochenmagazin Collier’s berichtete sie aus dem Spanischen Bürgerkrieg, da war Gellhorn noch keine 30, und profilierte sich damit als Kriegsberichterstatterin. Fortan schrieb sie aus aller Welt über bewaffnete Konflikte, deren Inhalte und Fortgänge, vielmehr jedoch über deren Beteiligte und Opfer. Gellhorn schrieb und lebte wie eine Getriebene, berichtete von Schlachtfeldern und eingekesselten Städten, von der deutschen Besetzung Tschechiens, vom finnisch-sowjetischen Winterkrieg, aus einem italienischen Heim für Kriegswaisen, aus dem befreiten Dachau, erlebte den D-Day auf einem Lazarettschiff, traf Chiang Kai-shek im chinesischen Bürgerkrieg und Sukarno im Krieg um Java, war zwischenzeitlich einmal verheiratet mit Ernest Hemingway, vorübergehend einmal mit einem Redakteur der Times und war langjährig eine enge Freundin Robert Capas, begleitete den traumatischen Vietnamkrieg, den geopolitisch bedeutsamen Sechstagekrieg im Nahen Osten, den brutalen Bürgerkrieg in El Salvador. Ein Angebot, als Reporterin über die Jugoslawienkriege zu schreiben, lehnte die bereits über 80jährige dann doch ab, aus Altersgründen. 1998 starb Gellhorn in London, fast 90jährig – weil sie es so entschieden hatte.
Für gewöhnlich stelle ich AutorInnen nicht allzu ausführlich vor, wissen Sie, aber wenn das kein Jahrhundertleben ist, weiß ich’s auch nicht.
Im Bewusstein ihres Gewichts erlaubte sich Gellhorn in ihren Reportagen auch deutliche, politische Urteile.

Sukarno war immer genau das, was er schon am Anfang gewesen war, ein gewiefter Demagoge, ein Opportunist, nur ein kleiner Diktator mehr. Die US-Obrigkeit wird niemals müde, diesen Typ Politiker zu unterstützen.
[Aus: Der Krieg auf Java]

Neutralität schien für Gellhorn insbesondere angesichts humanitärer Krisen nicht immer eine gebotene journalistische Pflicht, sondern mitunter eher eine Sache für Feiglinge zu sein. Beispielsweise zürnte sie, in einer Art Epilog auf ihre Vietnam-Berichterstattung:

Macht verdirbt, eine alte Binsenweisheit, aber warum macht sie die Mächtigen auch so dumm? Ihre Machtpläne zerrinnen mit der Zeit zu nichts, auf grausame Kosten anderer; dann stecken die Mächtigen ihre dummen wichtigen Köpfe zusammen und hecken die nächsten ähnlich gearteten Pläne aus. Ein Saigoner Arzt, ein armer Mann im Dienst der Armen, verstand mehr von der wirklichen Welt als die Machthaber im Weißen Haus. „Die Menschen sind überall gleich. Sie wissen, was Gerechtigkeit ist und was Ungerechtigkeit.“ Vergessen wir es nicht. [Aus: Letzte Worte über Vietnam. 1987]

Es ist schier unglaublich viel Material, viel Zeit, viel Erleben, was Gellhorn in ihrem Schreiben komprimierte. Zuviel, um das einfach nebenher zu verschlingen, an so ein paar Frühlingstagen im Garten oder auf der Couch. Genug, um es immer wieder, dann und wann, aufzuschlagen und allerlei menschliche Fragen und Wertvorstellungen daran zu prüfen.


> Martha Gellhorn, Das Gesicht des Krieges (Dörlemann)


Im Verlag Dörlemann liegen große Teile von Martha Gellhorns Kriegs- und Reisereportagen vor, auch private Briefwechsel und ihre Novellen, die sich eher dem Zwischenmenschlichen widmen.

SONDERZUSTÄNDE > Mit sich selbst allein

Aus den Sterntagebüchern des Weltraumfahrers Ijon Tichy:

Als ich am Montag, dem zweiten April, in der Nähe der Betelgeuze vorüberflog, durchschlug ein Meteor, kaum größer als eine Bohne, die Panzerung und zertrümmerte den Hubregulator und einen Teil der Steuerung, wodurch die Rakete ihre Manövrierfähigkeit einbüßte. Ich zog den Raumanzug an, stieg auf die Oberfläche der Rakete und versuchte, die Vorrichtung zu reparieren, aber ich erkannte bald, daß ich die Hilfe eines zweiten Menschen benötigte, um die Reservesteuerung festzuschrauben.

Was ungünstig ist, denn Tichy ist Alleinreisender. Schon lange. Was also tun? Erst einmal drüber schlafen.

Mitten in der Nacht hatte ich das Gefühl, daß mich jemand an den Schultern rüttelte. Ich schlug die Augen auf und erblickte einen über das Bett gebeugten Menschen, dessen Gesicht mir seltsam bekannt vorkam, ohne daß ich hätte sagen können, wer das war. „Steh auf“, sagte er, „und nimm die Schlüssel, wir gehen nach oben und drehen die Steuerschrauben fest.“ „Erstens kennen Sie mich nicht gut genug, um mich zu duzen, und zweitens weiß ich genau, daß es sie nicht gibt. Ich bin allein in der Rakete, und das schon das zweite Jahr, denn ich fliege von der Erde zum Sternbild des Kalbes. Somit sind Sie nur eine Traumvision.“

Das leuchtet ein. Bloß löst diese Feststellung freilich nicht Tichys Problem, und so muss er sich ernsthaft überlegen, wo sich Hilfe finden ließe.

Aber die Gegend war eine komplette Sternwüste, die wegen ihrer Gefährlichkeit von von allen Raumschiffen gemieden wurde, weil sich dort die geheimnisvollen Gravitationsstrudel befinden – hundertsiebenundvierzig an der Zahl -, deren Existenz durch sechs astrophysikalische Theorien erklärt wird, und von jeder anders. Der Kosmonautenkalender warnte vor ihnen wegen der unberechenbaren Folgen der relativistischen Effekte.

Was das bedeuten könnte, dämmert Tichy, als er sich am nächsten Abend nach harter Arbeit im ächzenden Motorenraum erschöpft ins Bett fallen lassen möchte, es aber von jemand anderem besetzt findet.

Ich begriff sofort, daß ich das war, und zwar vom Vortag, genauer: aus der Nacht zum Montag. Ohne mir über den philosophischen Aspekt dieser recht eigenartigen Erscheinung besondere Gedanken zu machen, begann ich sogleich, den Schlafenden an der Schulter zu zerren und zu rufen, er möge rasch aufstehen; ich wußte nämlich nicht, wie lange seine montägliche Existenz in meiner dienstäglichen fortdauern würde, weshalb es angezeigt war, möglichst schnell und gemeinsam die Steuerung auszubessern. Der Schlafende jedoch machte nur ein Auge auf und sagte, daß er nicht wünsche, von mir geduzt zu werden, dann meinte er, ich sei nur ein Traumgespinst.

Hier beginnt erst der Flug durchs tückische, sturmtosende Strudelfeld, in einer Maschine, die steuerlos den Gewalten ausgesetzt ist. Wie lange die Trudelei anhalten wird, lässt sich nicht abschätzen, und wie der alte Kasten am Laufen gehalten werden kann angesichts der außerordentlichen Belastung, die auf unbestimmte Zeit auf die Systeme einwirken wird, auch nicht. Der allein reisende Kosmonaut macht sich auf einiges gefasst, selbst seine eigene Verdopplung bringt ihn nicht recht aus der Ruhe – aber auch das war ja erst der Anfang.

Das Bad war verschlossen. Man hörte darin Laute, als ob jemand gurgelte. „Wer ist dort?“, rief ich überrascht. „Ich“, rief eine Stimme aus dem Inneren. „Was denn nun wieder für ein Ich?“ „Ijon Tichy.“ „Von welchem Tag?“ „Vom Freitag. Was willst du?“

Im Verlauf der nächsten Tage oder Wochen – ach, das mit den Zeitspannen wird schnell unübersichtlich – lernt Ijon Tichy sich selbst einmal von allen Seiten kennen: Laufend kommen neue Tichys dazu, stiften Chaos oder versuchen sich nützlich zu machen, erweisen sich je nach Lage als gute Kameraden, Sturköpfe, Nörgler oder kleine Helden, und die Rückkopplungen ihrer Interaktionen verschachteln sich immer heilloser. So gerät die Siebente Reise des Ijon Tichy zu einem der kompliziertesten Abenteuer, von denen seine Sterntagebücher ausführlich berichten, und nie fügte sich gerade diese Episode so gut in meine Stimmungslage wie aktuell.


>Stanisław Lem, Sterntagebücher (Suhrkamp)


Die polnische Originalausgabe der Sterntagebücher mit Ijon Tichys gesammelten Reiseberichten erschien 1971. Ich habe dieses Buch immer wieder und in unzähligen Ausgaben in der Hand gehabt, habe es ausgeliehen, selbst gekauft, verliehen, verleihverloren, an andere verkauft, wieder gekauft, und es bis heute nicht einmal am Stück gelesen. Muss man auch gar nicht. Bei Bedarf schlägt man es auf und liest z.B. von flottierendem Weltraummüll, der sich, von Strömungen zusammengetrieben, zu breiten Teppichen verdichtet (erinnert Sie das an etwas?), nach und nach eine Art Schwarmintelligenz entwickelt und bald seine Verursacher heimsucht. Oder von interstellaren Religionsstiftern. Oder Killerkartoffeln. Oder, oder, oder.

SONDERZUSTÄNDE > Abstand und Nähe

Mal an die Elbe heute? Das Wetter ist mäßig gut, der Weg nicht weit, und sollte man in den Wiesengürteln entlang der ländlichen Elbufer tatsächlich andere Menschen sichten, kann man leicht meterweise Abstand voneinander halten. Wo ließe sich starten, durchs menschenleere Grün schlendern? Google Maps‘ Satellitenbilder zeigen kleine Trampelpfade, Flächen für Gummistiefelgänge, Gräben, Knicks, sandige Buchten im Flussufer. Ich verfolge eine bestimmte Spazierstrecke (mit einem Blick, Satellit sei Dank, der früher Turmfalken, Kranichen, dem lieben Gott usw. vorbehalten war), um sie mir einzuprägen. Mitten auf dem Wege wechselt die Umgebung, als ich eine nicht existierende Grenze überschreite – hier winterbraune Äcker, und dort sommergrüne Felder. Da grenzen zwei Datenpakete aneinander, aufgenommen in unterschiedlichen Jahreszeiten. Zurück: Sandige Maulwurfshügel treten aus nacktem, grauem Boden hervor, Bäume werfen magere Schatten und die Elbe dümpelt dunkel. Vorwärts: Ein dicker Grasteppich liegt kugelrunden Baumkronen zu Füßen, der Sonnenschein hellt die Sandflächen auf, Lichtsprengsel spielen auf dem Wasser, oder sind das doch Gänse? Einen Schritt zurück: Novemberblues. Zwei Schritte vor: Junilicht. Zurück, voran, zurück – was für ein schöner Spaziergang wäre das, wo man, einfach so, aus dem Winter in den Frühling, den Sommer ginge, und das nach Belieben gleich nochmal!
Schön wäre es auch, mal wieder nach Kiel zu fahren. Jetzt. Wir führen einfach los und kämen in anderthalb Stunden an, und mein Kind wäre wieder so klein wie damals, als wir dort wohnten, und wir gingen mit Plastikautos, Sandförmchen und Seifenblasen auf unseren Spielplatz im Park und danach einmal an der Tirpitzmole vorbei, einmal der Gorch Fock winken und den Möwen beim Krebsefangen zugucken, und das Ostseewasser würde duften und rauschen. Unser Spielplatz sieht von oben unverändert aus, denke ich, ich erkenne die Gerüste, Rutschen, Schaukeln sofort wieder. Als wäre ich noch genauso dort wie damals. Oder als wäre damals zugleich jetzt – das Gras und all die Bäume auf den Satellitenbildern haben schließlich genau die richtige Farbe und Dichte für einen Märztag, für heute. Nein, neben der Sandgrube, sehe ich jetzt, ist eine Spiel- oder Sportfläche hinzugekommen, ein kreisrunder Tartanboden, dessen Funktion ich nicht so recht einordnen kann von hier oben. Ich fliege weiter, vorbei an Schilksee, wo noch immer unsere Fischbude steht, weiter, Richtung Strande, den Bülker Weg an der steinigen Fördelinie entlang bis zum Leuchtturm Bülk. Was herrscht da gerade, Spätsommer? Rapsgelbe Felder gibt es keine, bloß stoppelbraune; ich würde raten, dass sie vor kurzem abgeerntet wurden.
Ich suche auch: Hannover, Sauerweinstraße. Unverändert. Im größeren Radius fällt mir auf, dass das städtische Gebiet sommerlich buntfarbig leuchtet, bis zu einer Grenzlinie, die durchs Umland verläuft und hinter der alles grau verschleiert schlummert. Was mich irritiert, da eigentlich doch jeder, der mit der Bahn mal nach oder durch Hannover gefahren ist, den gegenteiligen Effekt kennen müsste: Aus einem sehr grünen Umland rollt man da in ein schlagartig sehr graues Stadtgebiet ein.
Entlang der B441 verläuft der Stichkanal in einem strahlenden Lindgrau und wechselt etwa auf Höhe des Seelzer Stellwerks abrupt zu Schlammgrau. Wenn ich an der B441 westwärts entlangziehe, und danach noch ein Stück weiter, komme ich zu meiner Mutter.
Meine Mutter besuchen zu fahren, auch das wäre schön, und auch das geht in Wirklichkeit natürlich nicht, nicht jetzt, und da habe ich auch schon mein Heimatdorf als Zielort eingegeben und meinen Salzberg gefunden. Ich will nur mal vorbeischauen. Einmal drüberfliegen und mal sehen, in welcher Jahreszeit mein Dorf gerade steckt.
Direkt bevor wir nach Lüneburg kamen, haben wir dort gelebt, knapp vier Jahre lang; ich war nach 15 Jahren anderswo plötzlich wieder zuhause. Sicher, das idyllische Dorfleben hat so seine Tücken, aber welches Groß- oder Kleinstadtleben hätte die nicht? Und besonders aus der Ferne vermisst sich das Idyll nun umso leichter und pauschaler.
Ich schaue zuerst in den Garten meiner Mutter. Der große Walnussbaum ist noch blattlos, sodass man Haus und Hof gut erkennen kann, und mir geht auf, dass es zu Navigationszwecken natürlich optimal ist, Bildmaterial aus dem Frühjahr zu verwenden, wo Straßenverläufe eben nicht unter Blätterkronen verschwinden.
Während ich wieder im Dorf wohnte, auf einem Nachbarhof, waren allerlei Arbeiten im Gange gewesen, die – nachdem sich das Dorf in jahrzehntelangem Dornröschenschlaf so gut wie nicht verändert hatte – Schlag auf Schlag eine Menge Altsubstanz verschwinden ließen: Straßen wurden saniert, einige hochbetagte Bäume gefällt, Häuser abgerissen, Neubauten begonnen usw. Ich war gewissermaßen noch rechtzeitig ins Dorf gekommen, um es noch mal im vertrauten Zustand aus meiner Kindheit zu sehen und es so zu verabschieden. Während ich jetzt mit meinem Satellitenauge die Straßen und Wiesen überfliege, muss ich mich fast zwingen, all die Bauarbeiter und Raupenbagger, die rund zwei Jahre lang das Ortsbild bestimmten, nicht nachträglich für Illusion zu halten. Wirklich, es ist glatt so, als wären sie nie dagewesen. In diesem Frühjahr, in das ich mich hier hineinzoome, in diesem, ich weiß nicht mehr genau, Ende Februar oder Anfang März haben sie gerade erst damit begonnen, die alte Esche stückweise zu fällen – der Baum wirft noch einen, wenn auch astamputierten Schatten, die großen Arme werden jetzt zerlegt, zerstreut liegen erste Holzblöcke auf der Wiese. Die Schloßstraße ist hier fast noch dieselbe, auf der ich im Schlepptau meiner Urgroßmutter einmal täglich unterwegs war, zum Eierholen oder Klönen. B.s alter Hof ist noch da, hier ist er noch ganz intakt – zuletzt staunte ich bei einem Spaziergang auf der Schloßstraße, wie groß die Baufläche wirklich ist, die der Abriss des Hofs freimachte, und wie weit die Neubauprojekte auf diesem Areal bereits vorangeschritten sind. Es gibt noch andere alte Gebäude, die ich unversehrt wiederfinde, und die großen Brauteichen bei S. sind noch ungefällt. Mir stehen die Augen leicht unter Wasser, als ich das alles sehe. Ich befinde mich plötzlich in einer Art Zugleichzeit – Vergangenkunft, Gegenheit und Zuwart sind ganz durcheinander, nein, einfach ausgesetzt, abgeschafft. Dass ich das alles sehen kann, obwohl es doch verschwunden ist! Auch die riesige Eiche im Garten des Hofgeländes, wo wir wohnten, unter der wir grillten, planschten und Wäsche aufhingen, steht noch. Ich fliege einmal übers Dach drüber, jetzt über unseren Rundhof: Da stehe ich, als wäre nichts gewesen – mein damaliges Auto, längst verkauft, steht wie immer auf meinem Parkplatz vor der Scheune, halb verborgen unterm Schauer.
Ich kann gar nicht entscheiden, ob mich das schmerzt oder tröstet. Ja, schwierig. Immerhin kenne ich mich gut genug, um zu wissen, dass ich ab jetzt öfters bei uns auf dem Hof vorbeischauen werde, überlegen werde, ob ich das Auto auch wirklich abgeschlossen habe, oder ob Laufrad, Duplosteine, Bälle, Plastikdinos und Playmobilfiguren noch draußen verstreut sind und wir da noch aufräumen müssen unter der Kastanie, und ob wir wohl gleich noch eine Radtour zum Mittellandkanal unternehmen oder doch lieber nicht, doch besser schnell mal die Wäsche im Garten abnehmen vielleicht, denn es sieht irgendwie nach Regen aus.