SINN UND GEHALT > Über: Rolf Dobelli, Und was machen Sie beruflich?

Vorbemerkung:
Es gibt da draußen offenbar Menschen, eine Masse von Menschen sogar, die nicht klar denken, nicht klug handeln und sich keine Fragen stellen. Man könnte nun meinen, diese Verhältnisse ließen sich überwinden, indem die Betreffenden einfach von sich aus damit anfingen, klar zu denken, klug zu handeln und sich einige Fragen zu stellen – so jedenfalls hat man sich das damals für diese Klassenarbeit über Kant eingebüffelt („Was ist Aufklärung?“ – „Sapere aude!“). Das Marketingwesen aber kennt die Menschen da draußen besser, es weiß, dass sie sich nicht besser fühlen, sobald sie einfach von sich aus damit anfangen, klar zu denken, klug zu handeln und sich einige Fragen zu stellen, sondern dass sie sich verändert, erleuchtet und allerbestens fühlen, wenn sie ein viel besprochenes Buch gekauft haben, das ihnen erläutert, wie sie klar denken, klug handeln und welche Fragen sie sich stellen sollen.

Rolf Dobelli ist ein Bestseller-Autor, dessen Erfolg nach ebenjenem Mechanismus funktioniert. Seine Verkaufsschlager geben Selbsthilfe mit light-philosophischem Anstrich, formen ökonomische Denkmuster zu Leitlinien für die private Lebensführung um und brechen psychologische Zusammenhänge herunter auf zitierfreundliche, griffige Welterklärer-Sprüche – alles veredelt durch den weltmännischen Nimbus, der vom Autor aufs Geschriebene abfärbt. Kann man kaufen, um sich dabei hervorragend zu fühlen; kann man, als gleichzeitig repräsentatives und völlig neutrales Mitbringsel, auch jedem schenken, ohne dabei irgendwas falsch zu machen. Allein Die Kunst des klaren Denkens und Die Kunst des klugen Handelns, oder auch Wer bin ich? – 777 indiskrete Fragen sind derartig viel verkaufte Titel, dass es selbst Kochbuchprominenten die Neid-Tränen in die Augen treiben muss. Neben Martin Suter ist Rolf Dobelli der am besten verdienende Autor der Schweiz.

Dabei ist das Schreiben lediglich Dobellis Zweitprofession. Von Haus aus ist der studierte Philosoph und Betriebswirt Unternehmer. Ein smarter, gepflegter Typ, der eine perfekte und sehr fotogene Business-Attraktivität besitzt, geschmackssicher in der Wahl seiner Anzüge, gebildet, erfolgreich – ein Aushängeschild für die höchst exklusive Abteilung der Schweizer Gesellschaft, der er angehört. Dobelli arbeitete als Finanzchef und Geschäftsführer verschiedener Tochtergesellschaften der Swissair und gründete eine eigene Firma, die Zusammenfassungen wissenschaftlicher und literarischer Bücher an Firmen und Privatkunden im Abonnement verkauft: getAbstract hat sich zum inzwischen millionenschweren Aktien-Unternehmen mit Tochtergesellschaft in den USA entwickelt, alljährlich wird an der Frankfurter Buchmesse der getAbstract International Book Award vergeben (kleine zusätzliche Anmerkung ohne Werbeabsicht: Bei Abschluss eines getAbstract Business-Gold Abonnements erhält man übrigens 15 000 Prämien-Flugmeilen bei Miles&More). Darüber hinaus trat Dobelli in den letzten Jahren als Moderator einer Sendung über Wirtschaftsbücher bei NZZ Online in Erscheinung und schrieb Kolumnen für die FAZ, die Schweizer SonntagsZeitung, die Zeit, sowie derzeit für den Stern. Und dann ist da noch Zurich.Minds: Dobelli ist Begründer und Vorsitzender dieser Non-Profit-Organisation, die bei jährlichen Treffen herausragende Köpfe aus Wirtschaft und Wissenschaft zusammenbringt – ein VIP-Club, Gerhard Schröder und andere Politiker sind dabei, auch Nobelpreisträger und derlei honorige Persönlichkeiten.

Dass hinter seinen eigenen Sachbüchern also ein Karriere-Lebenslauf steckt, in dem sich Kultur und Wirtschaft verknüpfen, macht ihn als Autor zur verkaufsfördernden Autorität, während seine Position im Verkaufsranking wiederum sein unternehmerisches Profil auf Hochglanz bringt. An der Wertigkeit der Erfolgsmarke Dobelli konnte nicht einmal der kleine Plagiatsskandal 2013 ernstzunehmend kratzen, den die Aussage eines befreundeten Autors losgetreten hatte, Dobelli habe ziemlich unverfroren bei ihm abgeschrieben.

Geht man nun aber in Dobellis Veröffentlichungsliste ein paar Jahre zurück, trifft man auf eine literarische Figur namens Gehrer, die in den ersten beiden Büchern Dobellis die Protagonistenrolle bestreitet. (Nach diesen Erstlingen übrigens hat Dobelli später noch zwei weitere Ausflüge ins literarische Schreiben unternommen, ohne Gehrer – die waren so, naja, okay.) Die Romane Fünfunddreißig – Eine Midlife-Story (2003) und dessen Fortsetzung Und was machen sie beruflich? (2004) beschäftigen sich mit einem jungdynamischen Manager, der dem eigenen Altern und den damit einhergehenden Etablierungszwängen ins Auge blicken muss, und seiner eintretenden Sinnkrise, die zu ihrem Finale findet, als der Höhenflug des Erfolgsverwöhnten schließlich krisenbedingt in einem Absturz endet.

Diese Romane las ich zur Zeit ihres Erscheinens, ich mochte und mag sie beide. Mit ungespielter Lockerheit pendeln sie zwischen Selbstironie und Garstigkeit. Ich, die dem Musterknaben Dobelli rein gar nichts abgewinnen kann, weil ich für diese Art durchökonomisierten Charmes nicht empfänglich bin, finde an seinem Gehrer viel Interessantes.

Das eigentlich Interessanteste aber daran ist, dass mir die Gehrer-Romane, mit Blick auf die Entwicklung, die Dobelli seither genommen hat, inzwischen beinahe als Werk eines Schizophrenen erscheinen. Womöglich verbindet sich daher bei Dobelli gar so etwas wie Erleichterung mit der Tatsache, dass Und was machen Sie beruflich? inzwischen nur noch antiquarisch erhältlich ist? Da lässt einer, der seine eigene Firma getAbstract genannt hat, seine Romanfigur sagen: SolutionsUniverse – wer solche Firmennamen erfindet, verdient es, hingerichtet zu werden!, lässt diese Figur als Karikatur seiner selbst peinliche Selbstdarstellungsrituale exerzieren, ob als Gast im Nobelrestaurant oder bei geschäftlichen Treffen, und lässt sie dazu – ausgerechnet! – noch an der hohlen Phrasendrescherei und praktischen Nutzlosigkeit von psychologisch angehauchter Business-Ratgeber-Lektüre verzweifeln. Tatsächlich taucht ein Satz aus Und was machen Sie beruflich?, der dort im Kontext eines Vorstellungsgesprächs dessen bodenlose Hirnrissigkeit unterstreicht, später wörtlich in Dobellis Wer bin ich? – 777 indiskrete Fragen wieder auf: Angenommen, Sie würden entführt. Was wäre ihrer Meinung nach eine vernünftige Lösesumme? Auch fragt letzteres Buch: Rundheraus, was sind Sie für ein Mensch?, während Gehrer im eben erwähnten Gespräch ebenso gefragt wird: Kurz und gut: Was sind Sie für ein Mensch, Herr Gehrer? Und doch werden weder der Sarkasmus Gehrers durch seinen Autor, noch der Erfolg Dobellis durch seine Romanfigur ungültig gemacht. Gehrer besteht einfach als eine Schatten-Version des leuchtlächelnden Dobelli, und fast wirkt es, als habe der Autor diese zwischen Buchdeckeln begraben, auf dass sie ihn im wahren Leben in Frieden lasse. Mag sein, dass das bis heute prächtig funktioniert. Mag auch sein, dass Dobelli eigentlich täglich darauf wartet, dass Gehrer wahr wird.


Aber nun Gehrers Geschichte (oder vielmehr: deren zweiter Teil – dadurch, dass beide Gehrer-Romane in sich abgeschlossen sind, lassen sie sich allerdings ohne Verständnisschwierigkeiten unabhängig voneinander lesen):

Erfolg ist eine Einbahnstraße. Voran, voran – diesen Weg ist Gehrer bislang gegangen, bis hierher, in die Chef-Etage der SolutionsUniverse. Gehrer sitzt hoch oben im gläsernen Büroturm und schaut herab auf die Stadt, Zürich, die ihm zu Füßen liegt. Ein Fall aus solcher Höhe muss verheerend enden.

„Wir erwarten Sie im Konferenzraum, Montagmorgen sieben Uhr“, hatte der CEO gesagt, dann aufgehängt. Nach diesem Telefonat plötzlich ein Zittern, es geht durch Gehrer hindurch, durch den Turm, womöglich durch die ganze Schweiz. Ein Erdbeben? Nicht doch, denkt Gehrer. Kein Land ist stabiler als die Schweiz.

Es ist kein Beben, und es ist doch eins: Keine Kollision tektonischer Platten rüttelt am gläsernen Turm, in dem Gehrer sitzt – es ist das Anbrechen einer Rezessionsphase, die alles, selbst die stabile Schweiz, durchzuschütteln beginnt, die schwere Risse verursachen und Lebensgebäude zum Einstürzen bringen wird. Montagmorgen, sieben Uhr, erhält Gehrer seine Kündigung.

Was macht ein Marketingchef, der kein Marketingchef mehr ist? Erst einmal einen ganzen Tag lang duschen, aber auch das wäscht die Kündigung nicht ab. Auf ziellosen Wegen durch die Stadt irren, aber auch das hängt die Kündigung nicht ab. Seiner Frau, der erfolgreichen Rechtsanwältin, nichts davon erzählen: Allein das gebietet der Realwerdung der Kündigung gewissermaßen Einhalt. Jeanette weiß noch nichts, und solange in Jeanettes Kopf noch keine Kündigung angekommen ist, ist Gehrer immerhin noch ein kleines, psychologisches bisschen länger Marketingchef. Er lügt ja nicht, er verschweigt nur etwas – Gehrer fühlt sich da auf der sicheren Seite. Und bevor Jeanette irgendetwas bemerkt, wird er längst schon den nächsten Job angetreten haben.

Tatsächlich bemerkt Jeanette so bald nichts. Leider aber findet Gehrer auch so bald nichts im Stellenmarkt, das ihn aufatmen ließe. Die Beichte wird unausweichlich. Als Gehrer sie jedoch endlich herausbringen will, kommt sie stockend daher, wird missverstanden, Frau Gehrer kreischt auf – vor Begeisterung: Beförderung? Wie könnte man in dieses Strahlen hinein die pechschwarze Wahrheit werfen? Warum also nicht den Beförderten spielen? Gehrer ist munter und berichtet von Expansionsplänen der Firma und von Zweigniederlassungen in New York. Champagnerkorken knallen. Gehrer ist glücklich, zu Hause zu sein, Jeanette als seine Frau zu wissen, glücklich, die nächste Stufe der Karriereleiter in Angriff zu nehmen. Nein, er wird es ihr nicht sagen, er wird es einfach tun. Und eines Tages wird er vor ihr stehen als Marketingchef oder gar CEO einer noch größeren Firma – eines Biestes von einem Konzern!

So muss man denken: mit Ausrufezeichen! Gehrer geht aggressiv auf Stellenjagd. Es kommt zu Gesprächen, aber Gehrers Ausrufezeichen werden stumpfer, immer stumpfer, bald sind sie nur noch lächerlich und verschwinden dann lieber ganz. Herr Gehrer, ihre Krawatte hat einen Fleck. / Was sagt Ihre Frau zu Ihrer Entlassung? / Herr Gehrer, mit 40 sind sie nicht mehr der Jüngste! / Wie gut kennen Sie unsere Branche, Herr Gehrer? Katzenfutter ist etwas ganz anderes als Software, glauben Sie mir. / Stellen Sie sich mit dem Rücken zur Wand. Genau so. Nun schließen Sie die Augen. Hände auf den Rücken. So ist´s gut. Wenn ich mit dem Lineal auf den Tisch schlage, dann machen Sie einen Sprung vorwärts, so weit Sie können. Damit testen wir die Reaktionsgeschwindigkeit. Es bringt nichts, Leute einzustellen, die nicht reagieren können. Die Wirtschaftswelt ist voller Reaktionen! / Was liegt ihnen näher: a) einem Kind einen Zahn aus dem Mund zu schlagen oder b) mit der Zunge Staub vom Boden zu lecken? / Und so weiter, und so weiter. Kommen Sie zur Sache, Herr Gehrer! / Menschlichkeit wird bei uns großgeschrieben. Das Thema „Emotional Leadership“ ist ganz top. Also: Weinen Sie mal! Los! Weinen Sie mal! / Sie brauchen ja nicht zu arbeiten, Herr Gehrer, mit einer solchen Frau! / Es war nett, Sie kennenzulernen. / Wir bleiben in Kontakt.

Rundherum herrscht schönster Frühling, alles blüht, alles strotzt vor Kraft und Lebensfreude, alles badet sich in Licht, nur Gehrer nicht. Der flüchtet sich fürs Erste auf eine fingierte Dienstreise – was soll man schließlich sonst machen, wenn schon alle Cafés und Museen besucht worden sind, mehrfach -, dann in Aussteigerfantasien und abenteuerliche Träumereien: einfach in irgendeinen Flieger steigen, neu anfangen am anderen Ende der Welt, auf sich allein gestellt, Lonesome Gehrer, nur vorher vielleicht noch schnell eine Bank überfallen. Es kommt aber nicht zu Abenteuern, es bleibt bei einer einzigen neuen Herausforderung: sich nicht von seiner Frau zu Hause auf dem Sofa erwischen zu lassen.

Natürlich kann so was nicht gutgehen. So, wie sich die Krise am Markt nicht per Vertuschung und Weggucken hat aufhalten lassen, kann auch Gehrer mit seinen hilflosen Spielchen die Privatkrise irgendwann nicht mehr abwenden. Gehrer fliegt auf, High Noon zwischen Gehrer und Jeanette in der Küche, das Durchbrennen der Sicherungen im Haus spielt einen vielsagenden Tusch dazu.

Es kommt der Sommer, es kommt der Herbst. Freunde kommen bald nicht mehr. Es kommen Gelegenheiten – Gehrer lässt sie verstreichen. Allmählich kommen die Vorwürfe von Jeanette, im Wechsel mit vergifteten Tröstungsversuchen: Das ist ja reine Selbstsabotage, was du da betreibst! / Schau her, was ich dir mitgebracht habe: eine ganze Schachtel voller Motivations-CDs. Alle für dich! / Im Klartext: Wir sind zwar verheiratet, aber ich habe nicht vor, dich für den Rest des Lebens durchzufüttern. / Komm! Leg deinen Kopf an meine Schulter. So. Und nun packen wir´s an. Wir packen´s zusammen an. / Übrigens – in der Kanzlei kursieren schon die ersten Witze. / Darf ich dir vorstellen: Frau Schumacher. Sie wird mit dir jeden Morgen zwei Stunden Motivationstraining machen. Von acht bis zehn. Das wird dir bestimmt guttun.

Letztes Aufbäumen: Gehrer versucht´s kurz mit einer kleinen Selbstständigkeit – ein Minusgeschäft. Danach widmet er sich zum ersten Mal dem Haushalt, mit der Effizienz eines Managers. Aber was dann? Wenn die Arbeit achtzig Prozent des lebens ausfüllt, was ist wichtiger: die Arbeit oder das Leben? Und was bleibt eigentlich bestehen von diesem Begriff Leben, sobald man den ohne Gehaltseingang nicht mehr denkbaren Teil davon subtrahiert? Es fällt auf: Gehrer und Jeanette haben keine Kinder, auch keinen Hund, keine Eltern oder Geschwister werden erwähnt, nur ein einziges Mal taucht eine Freundin Jeanettes auf, mit der man in nicht rein geschäftlicher Verbindung steht. Gehrer hat nicht einmal einen Vornamen.

Es naht der Winter. Die vollkommene Stagnation ist längst erreicht, nun schaltet Gehrer um auf Eskalation: verursacht kleine Skandale, blamiert seine Frau, macht häufiger Bekanntschaft mit der Polizei. Der Sturm vor der endgültigen Ruhe. Am letzten gemeinsamen Abend sagt Jeanette: Mach uns beiden eine Freude, und geh schlafen. Ins Bett gehen, das tut Gehrer dann auch – endlich einfach liegenbleiben dürfen. Es gibt keinen Grund , das Haus zu verlassen. Der Wein im Keller reicht bis zum übernächsten Frühjahr. Daß der Briefkasten vor der Haustür überquillt, sieht er vom Bett aus.


> Rolf Dobelli, Und was machen Sie beruflich? (Diogenes), antiquarisch

SINN UND GEHALT > Bored to be wild*

Stumpfsinnige Arbeit unter prekären Bedingungen nagt an der seelischen Substanz. Wer das für reines Gejammer hält, war noch nie auf sie angewiesen. Von denjenigen, die an dieser Stelle an ihre Putzfrau oder ihren Paketboten denken und sich diese achselzuckend als ohnehin seelenlose Lebewesen vorstellen, mag ich gar nicht erst anfangen.

Bei allem Willen zur geistigen Selbstbehauptung, zwingt einem der tägliche, von Unsicherheit, finanzieller Knappheit und Perspektivenmangel bestimmte Existenz-Limbo irgendwann eine dauerhaft verrenkte, angespannte Haltung auf. Anstrengende Angelegenheit. Nur stempeln gehen zu müssen ist schlimmer.

Besser: Musik draus zu machen. Über das große Sinndefizit und das mickrige Gehalt. Und über deren Ursachen, Ausbreitung und Begleiterscheinungen; über High-End-Kapitalismus, Ungleichheit der Chancen, eine Kultur der Inhaltsleere, das große zwischenmenschliche Egal, Selbstentfremdung und die ständige Nähe zum Abgrund, der nur eine Kündigung entfernt liegt. Sicherlich eine ergiebige Stichwortliste für Gejammer. Besser: für Gepöbel und Gedicht.

*Titel eines Songs vom 2013er Sleaford-Mods-Album Austerity Dogs

SINN UND GEHALT > David Foster Wallace, Der bleiche König

[Rezensentin hier. Seit geraumer Zeit bewegt mich eine These, die persönlichen Umständen, welche hier nichts zur Sache tun, erwachsen ist und deren bekräftigende Verdeutlichung mir gerade in einem Roman begegnete: Monotonie und Wahnsinn liegen dicht beieinander. Einst schrammte ein alter Grieche an dieser These knapp vorbei; dass er sie anders formulierte, mag dem historisch bedingten Umstand geschuldet sein, dass zur Erfahrungswelt des alten Griechen eben nicht der Arbeitsalltag in einer modernen Steuerbehörde zählte. Ebenso gilt für den alten Griechen die Annahme seiner Unkenntnis bezüglich einer teils sitzend, teils rennend ausgeübten Tätigkeit in einem… aber wie gesagt, diese Umstände tun hier nichts zur Sache.]

Der Arbeitsalltag in einer modernen Steuerbehörde gestaltet sich, wie dieses anschauliche Beispiel vermittelt, wie folgt (Ausschnitt aus §25, aus dem Roman Der bleiche König, Autor: David Foster Wallace):

Ryne Hobratschk blättert eine Seite um. Latrice Theakson blättert eine Seite um. Standartprüfergruppenraum 2 gedämpft und hell erleuchtet, ein halbes Fußballfeld lang. Howard Cardwell setzt sich auf dem Stuhl zurecht und blättert eine Seite um. Lane Dean jr. fährt mit dem Ringfinger seine Kinnlade hoch. Ed Shackleford blättert eine Seite um. Elpidia Carter blättert eine Seite um. Ken Wax heftet ein Memo 20 in eine Akte. Anand Singh blättert eine Seite um. Jay Landauer und Ann Williams blättern fast synchron eine Seite um […]. Boris Kratz wippt mit einer irgendwie chassidischen Bewegung, während er eine Seite mit einer Zahlenkolonne abgleicht. Ken Wax blättert eine Seite um. Harriet Candelaria blättert eine Seite um.

Zur Vertiefung des Eindrucks verweilen wir noch ein wenig bei diesem Beispiel (weiterer Ausschnitt aus §25, ebenda, nachdem wir inzwischen mehrere Seiten umgeblättert haben):

Ryne Hobratschk blättert eine Seite um. […] Ken Hindle schlägt eine Bankleitzahl nach. Einige mit dem Kinn in die Hand gestützt. Robert Atkins blättert eine Seite um, während er noch etwas auf der Seite abgleicht. Ann Williams blättert eine Seite um. Ed Shackleford sucht in einer Akte ein dazugehöriges Dokument. Joe Biron-Maint blättert eine Seite um. Ken Wax blättert eine Seite um. David Cusk blättert eine Seite um. Lane Dean jr. spitzt die Lippen, atmet tief ein und aus und beugt sich über eine neue Akte.

Wie sich die Innensicht eines Standardprüfers während solcher Tätigkeit gestaltet, eröffnet sich unter Anderem am Beispiel des eben genannten Lane Dean jr. (siehe §33):

In vier Minuten war wieder eine Stunde vorbei, und dann konnte er eine halbe Stunde später in die Fünfzehnminutenpause. Lane Dean malte sich aus, wie er in der Pause herumrannte, mit den Armen fuchtelte, blanken Unsinn von sich gab und sich zehn Zigaretten auf einmal in den Mund steckte wie eine Panflöte. Jahr für Jahr, ein Gesicht von derselben Farbe wie der Schreibtisch. Jesus Christus. Kaffee war verboten, weil er auf die Akten spritzen konnte, aber in der Pause würde er in jeder Hand eine große Tasse Kaffee halten, stellte er sich vor, während er draußen durchs Gelände rannte und rumschrie. Er wusste, in Wahrheit würde er in der Pause mit Blick auf die Wanduhr im Aufenthaltsraum sitzen und allen Gebeten und Anstrengungen zum Trotz dasitzen und die Sekunden verticken sehen, bis er hierher zurückkommen und weitermachen müsste.

Damit erreicht der bewusste Standardprüfer jedoch längst nicht das Spitzenniveau geistigen Kompensationsdranges, welches sich innerhalb seiner Abteilung der Dienststelle 047 des Steuerprüfzentrums des IRS – International Revenue Service, kurz Service, in Peoria, Illinois, im durchaus pathologischen Bereich bewegt (siehe §26):

[…] der Kraftaufwand, angesichts extremer Langeweile hellwach und akribisch arbeiten zu wollen, kann Niveaus erreichen, auf denen routinemäßig bestimmte Halluzinationen auftreten.

Wie es sich für eine Heimstätte des Ordnungswesens gehört, unterscheidet man hierbei zwischen Heimsuchungen durch Phantome und Geistererscheinungen (siehe §26). Zunächst zu den Phantomen: Diese treten insbesondere bei extrem selbstgestrengen Mitarbeitern auf und verkörpern in ihrer jeweiligen Erscheinungsform die individuell gefürchteten Zerrspiegelseiten der betroffenen Persönlichkeit; die Prüden werden von Visionen obszöner Sexualität heimgesucht, die Ultrahygienischen sehen dreckige, flohwimmelnde Figuren an ihrem Schreibtisch stehen, die zwanghaft Ordentlichen werden von hysterischen Unordnungsphantomen belästigt, die heilloses Chaos in die Ablagereihenfolge bringen. Und nun zu den Geistern (hier diejenigen in der Standardprüferabteilung; weitere treiben sich in den anschließenden Behörden-Blöcken herum, finden im Roman jedoch keine persönliche Erwähnung): Die Unterscheidung zu den Phantomen besteht in ihrer einheitlichen Sichtbarkeit für alle Mitarbeiter. Dieser Definition nach, treten hier zwei Geister auf: Blumquist, zu Lebzeiten ein äußerst effizienter, farbloser Standardprüfer, verstarb 1980 an seinem Schreibtisch, was von seinen Kollegen erst nach einigen Tagen bemerkt wurde. Seither materialisiert er sich gern unter seinen Nachfolgern. Seine unaufdringlichen Besuche, seine ruhige Art werden von den Mitarbeitern durchweg als angenehm beschrieben. Garrity dagegen fällt durch Geschwätzigkeit auf. Er soll sich Mitte der 1960er im Nordkorridor das Leben genommen haben, als das Gebäude noch einer Spiegelfabrik gehörte, für die Garrity als Prüfer tätig war. Schenkt man der Behördenfolklore Glauben, prüfte Garrity drei Spiegel pro Minute (also 1440 Spiegel pro Tag mal 356 Arbeitstagen pro Jahr mal 18 Jahren seiner Lebenszeit) auf Produktionsfehler und war am Ende nicht mehr dazu in der Lage, sich außerhalb seiner Dienstzeit anders zu bewegen, als prüfe er immer noch Zierspiegel auf eventuelle Oberflächenschäden.*

[* Rezensentin hier. Dieses stetig wiederkehrende Spiegel-Motiv erfüllt, schwant mir, eine bedeutende Funktion, es ist für das Roman-Verständnis offenbar außerordentlich wichtig. Als verbindendes Element taucht es im Zusammenhang mit nahezu jeder relevanten Romanfigur auf und verbildlicht, meiner bescheidenen Meinung nach, einen speziellen Aspekt des zentralen Roman-Mantras von der Auflösung des Ich, während dieses sich im psychischen Aggregatzustand anstrengender und monotoner Dauerbeschäftigung befindet.]

Die Schilderungen aus dem Inneren eines monströsen staatsbehördlichen Verwaltungsapparates sind zeitlich in den mittleren 1980er Jahren angesiedelt. Vielleicht deswegen, weil dieser Zeitraum die Endphase einer Ära darstellt, in der ermüdende Massen von Formularen und Akten von Menschenhand erfasst, kontrolliert und zur Weiter- oder Endbearbeitung weitergereicht wurden: Datenverarbeitung war noch keine Bildschirmarbeit, das erdrückende Gewicht dieser Tätigkeit ließ sich also tatsächlich (er)messen, es war sichtbar in Form wachsender oder abnehmender Papierberge. Ein passendes Setting für eine zum Roman ausgeweitete Abhandlung über den Stellenwert des Stumpfsinns in der modernen Gesellschaft.

Ausgerechnet dieser Stumpfsinn ist es, der den Löwenanteil des Lebens ausmacht, aus privatem wie aus gesamtgesellschaftlichem Blickwinkel betrachtet. Und doch steht der Stumpfsinn an sich eigentlich nie im Fokus menschlicher Betrachtungen, im Gegenteil scheint es das Wesen menschlicher Betrachtungen zu sein, sich dem zuzuwenden, was ausdrücklich nicht dem Stumpfsinn zugehörig ist (siehe §9):

Warum schrecken wir vor dem Stumpfsinn zurück? Vielleicht liegt es daran, dass Stumpfes an und für sich schmerzhaft ist; vielleicht ist hier auch der wahre Kern von Wendungen wie ‚todlangweilig‘ oder ‚unerträglich öde‘ zu finden. […] Vielleicht assoziieren wir Stumpfsinn mit psychischem Schmerz, weil Stumpfes oder Schleierhaftes nicht genug Anreiz bietet, um uns von einem anderen, tieferen Schmerz abzulenken, der uns immer begleitet, und sei es nur auf unterschwellige Weise, auf dessen geflissentliches Nichtzurkenntnisnehmen die meisten von uns praktisch all ihre Zeit und Energie verwenden […].

Und dennoch, der Stumpfsinn bleibt unausweichlich, bleibt fester Bestandteil des Lebens. Sollte also nicht gerade in der Fähigkeit, sich dem Stumpfsinn widmen zu können, ohne dabei nennenswerten Schaden zu erleiden, ein gar evolutionswichtiger Vorteil für den modernen Menschen bestehen? Ein ehemaliger Praktikant des IRS äußert in §44 immerhin seine Überzeugung, die auf seinen Erfahrungen im Service fußt und der zufolge die Resistenz eines Menschen gegen Stumpfsinn schlichtweg die alles entscheidende Schlüsselqualifikation bedeutet, um in dieser Welt bestehen zu können.

Dieser Schlüssel besteht nicht aus Effizienz, Redlichkeit, Einsicht oder Weisheit. Es geht auch nicht um politische Gerissenheit, besondere Fähigkeiten im zwischenmenschlichen Bereich, bloßen IQ, Loyalität, Visionen oder andere Eigenschaften, die die bürokratische Welt Tugenden nennt und auf die sie einen untersucht. […] Der Schlüssel […] ist die Fähigkeit, Langeweile auszuhalten. Effizient in einem Milieu zu funktionieren, das alles Vitale und Menschliche ausschließt. […] In einem Wort, unlangweilbar zu sein. […] Das ist der Schlüssel zum modernen Leben. Wenn man gegen Langeweile immun ist, gibt es buchstäblich nichts, was man nicht erreichen kann.

Unlangweilbar zu sein – die unterschätzte, weil unerkannte Superpower. Tatsächlich gibt es jemanden innerhalb der Behörde, der diese Fähigkeit besitzt; konfrontiert mit unendlich langweiligen Berichten, beginnt dieser Jemand sogar zu schweben (siehe §46) – zunächst eine Handbreit überm Stuhlkissen, zunehmend abhebend, auf höchster Konzentrationsstufe dann nur noch gebremst von der Bürodecke. Nicht nur hier wird dem Stumpfsinn eine spirituelle Überhöhung zuteil, es wimmelt vor Metaphern und dramaturgischen Kunstgriffen, die den ganzen Themenkomplex auf religiöses Terrain ziehen. So erzählt etwa Standardprüfer Chris Fogle, Spitzname Abschweifungskönig, im ausgesprochen langgezogenen §22 den Ablauf seiner Hinwendung zum IRS als eine Art Erweckungsgeschichte, die gleich ein ganzes Sortiment christlicher Motive beinhaltet: Chris Fogle, der verlorene Sohn, der Kaputtnik, umherstreunend auf den traurigen Irrwegen der Spaßgesellschaft, verliert durch einen haarsträubenden, wirklich entsetzlichen Unfall den Vater und erfährt später als reuiger Sünder umfassende Läuterung, nachdem ihm zunächst eine Vision erschienen ist und ihm schließlich ein jesuitisch anmutender Ersatzdozent im Steuerprüfung-II-Seminar den entscheidenden Schubs gibt, um endlich den Pfad der Gerechten einzuschlagen, welcher ihn zur Arbeit beim IRS führt.

Nun rekrutiert sich die Mitarbeiterschaft des Service allerdings beim besten Willen nicht mehrheitlich aus Monotonie-Jüngern und Langeweile-Gurus. Aber wer arbeitet dann für den Service? Und, um Himmels Willen, warum? Erklärungen hierfür liefern die rückblickenden §§, in denen einzelne Mitarbeiter und ihre ungewöhnlichen Biografien beleuchtet werden. Für diese Mitarbeiter besteht einerseits der Sinn ihrer Arbeit beim IRS in nichts Geringerem als der Erfüllung ihrer Sehnsucht nach Kontrolle. Andererseits erfüllt dort nichts diese Sehnsucht, außer das regelmäßige Gehalt (um das sich endlose Debatten ranken und das sozusagen die Dienstsprech-Anrede eines jeden IRS-Mitarbeiters bildet, indem die Gehaltsstufenbezeichnung, z.B. G9 für einen unteren Gehaltsrang, die üblichen Anredeformen Mr. und Mrs. praktisch ersetzt – man redet permanent über Gehalt, selbst wenn in ganz anderen Zusammenhängen über Andere redet).

  • David Cusk, der von Kindheit an mit Schweißausbrüchen zu kämpfen hat, deren schlimmste Form extreme, von Panik begleitete Sturzschweißergüsse darstellen, vor denen sich der betroffene Cusk wiederum so sehr fürchtet, dass er anstelle eines normalen Erwachsenendaseins eine Existenz im sozialen Abseits entwickelt hat, die sich vollkommen auf die zwanghafte Prüfung, Beobachtung, Auswertung und natürlich Verhinderung von kombinierten Schweiß- und Panikattacken konzentriert.
  • Chris Fogle, siehe oben.
  • Meredith Rand, eine Schönheit von solch hirnerweichendem Ausmaß, dass sie wegen der Unmöglichkeit, auf Menschen zugehen zu können, ohne von diesen nur wie betäubt angestarrt zu werden (sozusagen eine schöne Medusen-Variante), den Großteil ihres geschlechtsreifen Lebens in elender Einsamkeit zubrachte. In dem Therapeuten, der sie psychologisch betreute, fand sie ihren Ehemann, im IRS ihren Arbeitgeber.
  • Lane Dean jr., der immer ein gläubiger Christ sein wollte, darin aber nie zur erhofften Seligkeit gelangte und mit seinem Job beim Service nun eine Familie ernährt, die er aus christlichem Pflichterfüllungswillen heraus gründete.  
  • Personalchef Stecyk, ein pathologisch freundlicher Übergutmensch, dessen sozialer Aktionismus, grenzenlose Hilfsbereitschaft und unerträgliches Strebertum schon seine eigene Mutter in die Depression trieben, obgleich diese keinerlei altruistischen, sondern unschuldig aufrichtigen Beweggründen entspringen (sozusagen eine hoffnungslose Jesus-Variante).
  • Claude Sylvanshine, dessen Aufgabe darin besteht, mittels seiner seherischen Fähigkeit im Bereich eigentlich unnützer persönlicher Daten und Hintergründe die bestgeeigneten Kandidaten für die Mitarbeiterrekrutierung des IRS ausfindig zu machen (sozusagen eine menschliche Version von Suchmaschine, die das zum Zeitpunkt des Roman-Geschehens noch nicht existente Google vorwegnimmt).
  • Toni Ward, eine mit allen White-Trash-Wassern gewaschene Überlebende einer verwahrlosten Kindheit, die den Rachefeldzug eines der Ex-Freunde ihrer Mum nur deshalb überlebte, weil sie die Gabe besitzt, sich absolut glaubwürdig totzustellen.
  • David Wallace, ein von schrecklichen Hauterkrankungen gebeutelter Neuzugang in der IRS-Dienststelle in Peoria (sozusagen das Gegenstück zur schönheitsgebeutelten Meredith Rand), der am Tag seiner Ankunft in eine Slapstick-artige Verwechslungsgeschichte hineinstolpert: Es gibt einen weiteren David Wallace – hochrangiger Dienstgrad, glorreiche Verdiensthistorie -, der an jenem Tag ebenfalls seinen Dienst in Peoria antreten soll und dessen Personalnummer fatalerweise mit der des Neulings (sozusagen eine Verkörperung des Fehlers im System) vertauscht wurde. Besondere Ironie dabei: Der Neuling-Wallace verdiente sich während seiner Zeit am College auf illegale Weise Geld dazu, indem er für reiche, versnobte und stinkend faule Kommilitonen Arbeiten schrieb, die er unter ihrem Namen einreichte.

Halt – da wir nun beim doppelten David Wallace angelangt sind, muss hier der Hinweis darauf erfolgen, dass David Wallace tatsächlich in dreifacher Form im Roman vertreten ist: Als zwei in einer Vertauschungskomödie verbundene Figuren – und als sich direkt an seine Leserschaft wendender Autor (siehe §§9,24).

Autor hier. Also der reale Autor, der echte Mensch, der den Bleistift führt, keine abstrakte narrative Instanz. Zugegeben, manchmal taucht in Der bleiche König eine solche Instanz auf […]. Aber das hier bin jetzt ich als echter Mensch, David Wallace, vierzig Jahre alt, Sozialversicherungsnummer 975-04-2012, und ich wende mich an diesem fünften Frühlingstag des Jahres 2005 aus meinem gemäß Formular 8829 steuerabzugsfähigen Heimbüro am Indian Hill Blvd. 725, Claremont 91711, Kalifornien, an Sie, um Ihnen Folgendes mitzuteilen:

Dies alles ist wahr. Dieses Buch ist wirklich wahr.

[Rezensentin hier. Mehr ließ sich an Inhaltlichem für eine Kurzvorstellung nicht herausquetschen, den Rest muss man, der wunderschönen Kompliziertheit wegen, bitte selbst lesen. Nur noch kurz zum Titel: Der bleiche König könnte sich auf Verwaltungschef Glendenning beziehen, der in einer Szene, in der er im Fahrstuhl feststeckt, vom Neonlicht beleuchtet reichlich blass aussieht. Glendenning verkörpert mit seiner Weigerung, die Behörde auf rechnergestützte Bearbeitungsvorgänge umzustellen, eine untergehende Epoche. Das Stichwort Informationszeitalter, das wollte ich im Roman-Kontext eigentlich noch… ach. Nun, ich könnte noch so viel…., aber wie gesagt, bitte selbst lesen.

Der bleiche König war das letzte Romanprojekt, an dem David Foster Wallace schrieb. Nach seinem Freitod im September 2008 übergab seine Familie die unzähligen, noch nicht in Reihenfolge gebrachten Roman-Fragmente an Michael Pietsch, der Wallace über Jahre hinweg als Lektor begleitet hatte. Pietsch hat aus all dem einen tatsächlich lesbaren Roman zusammengestellt, der 2011 im Original, 2013 auf Deutsch, übersetzt von Ulrich Blumenbach, erschien.

Stellenweise glaubt man in noch in Überlegung stehende Abschnitte hineinzulesen, man bemerkt einen groben sprachlichen Duktus hier, sich wiederholende Wendungen dort, doch sind diese Momente selten zu finden. Der bleiche König wirkt sprachlich ganz und gar nicht unvollendet. Nur seinen Figuren merkt man an, dass sie mit Ende der herausgegebenen Fassung noch nicht auserzählt sind, und das versetzt mir zum Schluss einen wirklichen Stich. Ich bin nicht der pseudo-sentimentale Typ, der in solchen Augenblicken das Heulen kriegt – man hat nicht das Recht, aus der Ferne und mit einem Keks im Mund einen Tod zu bejammern, über den man nichts weiß, während dort eine Familie zusammensitzt, der jener Tod gehört – aber das große Schlucken kriege ich trotzdem, als ich das Buch auslese und denke: Adoptiv-Vater Pietsch hat den Figuren merklich viel Liebe angedeihen lassen, aber Waisen sind sie und bleiben sie doch. ]


> David Foster Wallace, Der bleiche König (Rowohlt)