PROVINZLEBEN > Stadt, Land, Fluss

The Doldrums – die Kalmen: Was im seemännischen Sprachgebrauch die gefürchteten Dauerflauten in manchen Meereszonen bezeichnet, lässt sich als charakterisierender Begriff natürlich wunderbar auf die ereignisarmen, dörflich bis kleinstädtisch geprägten Breiten übertragen, wo, fernab metropolischer Turbulenzen, das Leben im Großen und Ganzen ziemlich gleichförmig vor sich hin dümpelt.

Jagt man Rohnert Park – The Friendly City durch Google, erfährt man, dass es sich dabei um eine Planstadt mit 40.000 Einwohnern in Kalifornien handelt; dazu poppen Fotos von steril-gepflegten Vorgärten, Angelteichen und einem Wal-Mart Supercenter auf. Aber wozu kalifornische Planstädte googlen, wo ich doch auf dem Weg zum nächsten Supermarkt in der nahen Kreisstadt (40.000 Einwohner) für solche Bilder (steril-gepflegte Neubaugebiete, Angelteiche) nur aus dem Autofenster gucken muss.


Die an hiesigen Jägerzäunen befestigten Zeitungsrollen füllen sich täglich mit Nachrichten über haarsträubende Katastrophen, Mord, Totschlag, Krieg, Korruption und Dekadenz, die überall, rund um den Globus, gegenwärtig sind, nur eben nicht hier: in der soliden und sicheren Provinz, Standort ländliches Niedersachsen. In der Region hegt man freilich so seine eigenen Meinungen zu Globalgeschehen und Großstadt-News und tut diese auch kund – beim Frisör, während des Brötchenkaufs beim örtlichen Bäcker oder an der Bierbude beim Schützenfest. Und nicht selten verhält sich dabei die Stimme aus dem provinziellen Off gegenüber den Ereignissen auf der Weltbühne ganz ähnlich, wie etwa eine kinderlose, philiströse alte Tante, die sich neunmalklug über die Beziehungsformen, Erziehungsmethoden, Wohn- und Jobsituationen ihrer jüngeren Verwandtschaft auslässt. Um die etwas unmittelbarere Lebensrealität kümmert sich indes die Regional-Presse: Stadtmarketing Dödensen gibt diesjährige Termine für verkaufsoffene Sonntage bekannt / Autohaus Münkelmann präsentiert neue Kleinwagenmodelle / TSV Blumenfeld schlägt Krähenwinkel 86 mit 3:1 / Senioren-Residenz Rosengarten lädt zum Tag der offenen Tür / Autofahrerin erleidet Blechschaden bei Wildunfall auf der B443 / Kreissparkasse spendet Ausrüstung für Handballsparte des TUS Klein Audorf / Hof Blanke serviert hausgemachte Torten in neu eröffnetem Scheunen-Café / Bauarbeiten an der Hauptstraße West blockieren die Durchfahrt zur Mülldeponie / Shanty-Chor Frische Brise e.V. sorgt für musikalische Untermalung beim Heinstedter Spargelfest / Ortsbrandmeister Hannes Heinemann freut sich über geglückte Renovierung des Zeughauses / etc. Weit und breit keine Mordfälle in Sicht, hier oder in den umliegenden Gemeinden. Ebenso keine international bekannten Großveranstaltungen, welche Horden von touristischen Marodeuren in die Gegend schwemmen, die nur Krach, Verkehrschaos und am Ende hohe Entsorgungskosten für Berge von Verpackungsmüll und Bierflaschenbruch verursachen. Außerdem steht man hier wirtschaftlich gar nicht so übel da, sofern man nun nicht gerade einen Milchviehbetrieb unterhält. Wer hier lebt, hat’s also gut, und wer’s gut hat, der kann zufrieden sein. Im Umkehrschluss gilt: Wer hier nicht zufrieden ist, mit dem stimmt doch was nicht.


Kurze Unterbrechung dieses Beitrags für eine dringende Meldung der Whatsapp-Gruppe Kindergarteneltern:  Seit gestern vermisst: Gesucht wird die vierjährige Nuschka! Nuschka ist zuletzt am späten Nachmittag gesehen worden und über Nacht verschwunden geblieben! Sie hat schwarzes Fell mit weiß abgesetzten Pfötchen. Nuschka ist mutmaßlich durch eine geöffnete Terrassentür entlaufen und normalerweise KEINE Freigängerin! Die Halter gehen davon aus, dass Nuschka jetzt SEHR verängstigt ist und die Nähe zu Menschen suchen wird! Hinweise bitte an…


Wenn manche Ortsansässige bezüglich der lokalen Lebensqualität eine gewisse Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen, handelt es sich dabei natürlich um jugendliche Einzeltäter.


Architektonisch besehen hat man im mir bekannten Teil des Hannöverschen Umlands bis hin zum Landkreis Schaumburg die 1990er Jahre über zwanzig Jahre hinweg am Leben erhalten. Erst seit kurzem zeichnet sich der Trend ab, etwa bei städtischen Bauprojekten, von der typischen Vor-Jahrtausendwende-Formsprache Abstand zu nehmen und auch in der Außengestaltung die klassische Uli-Stein-Cartoon-Farbpalette durch zeitgemäße Farbtöne aus dem Spektrum eines neuen IKEA-Katalogs zu ersetzen; der private Häuslebauer allerdings ist bislang eher selten zum Stilwandel aufgelegt.
Mag sein, dass der derzeitige Eigentumsbauboom in der Region zurückzuführen ist auf die aktuell niedrige Baufinanzierung, oder meinetwegen auf diese virale Begeisterung für die Romantik des Landlebens – hier im Dorf zumindest verlaufen Bauboomphasen analog zum Generationenwechsel: Nach Kriegsende kehrten viele Männer hierher heim, kamen viele Vertriebene hierher, die sich verstärkt ans Familiegründen und, mit Beginn des Wirtschaftswunders, auch ans Hausbauen machten (Siedlungshäuschen); deren Kinder bauten in den 1970ern munter ihre sandfarbenen, beigen, braunen Einfamilienhäuschen im Pulk an den Dorfrand an; in den 1990ern folgte der nächste Schub, und es entstanden doppelhausweise bewohnbare Riesentetrapaks mit putzigen Design-Akzenten in den Eingangsbereichen und Fensterrahmen in knallblau, außerdem einzelne Barbie-Häuschen mit glasierten (knallblauen) Dachziegeln. Inzwischen ist die nächste Eigenheim-Staffel im Bau, aber bis auf ein einziges Häuschen mit Pultdach und strenger, minimalistischer Linienführung sind hier noch keine nennenswerten Versuche in Modernität zu beobachten. In der nahen Kleinstadt immerhin wurde letztens ein größeres modernes Immobilienprojekt fertiggestellt – zwanzig ineinander verschachtelte Penthouse-Wohnungen, die ihrer Geometrie nach an einen liegenden Jenga-Turm erinnern und deren Außenoptik von strengem, flächigem Weiß bestimmt wird, aufgelockert durch anthrazitfarben geklinkerte Elemente und den Einsatz von hellem Holz.
Um aufs Dorf zurückzukommen: Ich weiß gar nicht genau, wann und warum man einst aufgehört hat, diese eigentlich ortstypischen, langlebigen Fachwerk- und Rotklinkerhäuser zu bauen, die in Schönheit altern, in Würde verwittern.


Wissen Sie eigentlich, wie man Lüttje Lagen trinkt? Man greift mit Zeigefinger und Daumen ein kleines Glas mit 5cl dunklem Broyhan-Bier, klemmt zwischen die übrigen Finger ein langstieliges Schnapsglas mit 1-2cl Korn, setzt das Bierglas an und hebt dann ruckartig den Kopf in den Nacken, sodass man das Bier und den über den Bierglasrand plätschernden Korn zusammen runterkippt. Sichbetrinken, gehobener Schwierigkeitsgrad: Man benötigt dafür eine gute Fingerfertigkeit – bei gleichzeitiger Trinkfestigkeit, sonst ist es nämlich auch mit der schönsten Fingerfertigkeit nach der sechsten Lage schon vorbei.
Sie ahnen vielleicht, von welchem Charakter eine Region ist, die eine solcherart perfektionierte Trinkkultur hervorgebracht hat?


Musikalische Fackelträger der binnenländisch-niedersächsischen Seele sind seit jeher: Fury in the Slaughterhouse, Terry Hoax und die Scorpions. Das Provinz-Mixtape, Edition Landkreis Hannover, setzt sich weiterhin zusammen aus Schlagerkrachern, Autoscooter-Mucke und radiotauglichem Durchschnitts-Pop; die B-Seite wiederum ist bespielt mit schnauzbärtigem Classic Rock und dazu viel, viel Gruftie-Kram. Während beispielsweise die Supermarktbeschallung in manchen Hamburger Märkten einen durchaus souligen Einschlag erkennen lässt, dürfte man dagegen in hiesigen Filialen musikalisch den Nerv treffen, wenn man sich irgendwo zwischen Plastik und Patschuli bewegt: Depeche Mode und Helene Fischer, sowieso, auch Roxette, Bon Jovi und den regionalansässigen Heinz Rudolf Kunze liebt man hier treu, und dazwischen könnte man bedenkenlos Deine Lakaien und die Sisters of Mercy einstreuen, oder auch Blutengel, Schandmaul und dergleichen, die der Kundschaft vom alljährlich im nicht allzu weit entfernten Hildesheim stattfindenden M’era Luna Festival her bekannt sind, im Wechsel mit Eurodance-Perlen, Andrea Berg und Silbermond abdudeln – im Geschmackskosmos des sogenannten Calenberger Landes jedenfalls fügt sich das alles ziemlich nahtlos zusammen.
Unangefochtene Könige des T-Shirt-Aufdrucks und der Autorückscheiben-Banner sind nach wie vor, seit Jahren unverändert: AC/DC, Subway to Sally und die Böhsen Onkelz.


Morgens und mittags rauschen vor dem örtlichen Kindergarten die Eltern in gebündelter Schar ein, bringen die Zwerge, holen sie ab. Familie G. fällt dabei jedes Mal durch die hemmungslos übertriebene Lautstärke auf, mit der Mamas Ska-Sortiment aus den Boxen dröhnt. Kind und ich singen lauthals kauderwelschend mit: Aye aye aye, aye aye aye! – Tell you baby – You huggin up the big monkey man!  Und: Stop your messing around – Better think of your future – Time you straighten right out – Creating problems in town – Rudy! – A message to you, Rudy! Mit Vorliebe also einschlägige Trojan- und 2-Tone-Label-Klassiker. Die Best-ofs von Prince Buster oder Toots & The Maytals. Oder artverwandtes von The Clash – Wrong ‚Em Boyo zum Beispiel. Ein paar satte Bläser und sonnigen Off-Beat in die hiesige Atmosphäre pusten – irgendjemand muss das ja machen! Bislang finde ich allerdings weder mit meiner musikalischen Alltagspraxis, noch meinem Dress-Code, noch meiner Freizeitplanung Nachahmerinnen am Ort, und es mag wohl sein, dass die übrigen Mütter gern glauben, ich würde mir in der etwas albernen Rolle der Etwas-andersartigen-Mama ganz gut gefallen. Aber das ist Quatsch. Im Gegenteil bemühe ich mich sehr, hier nicht als allzu schrullig wahrgenommen zu werden – noch nicht. Zumindest nicht, solange das im Zweifelsfall mein Sohn ausbaden muss, der sich hier gerade ein funktionierendes soziales Umfeld aufbaut. Aber was manche gewisse Eigenarten angeht, bestehe ich dann doch darauf, dass sie gepflegt und erhalten werden müssen, selbst – oder gerade – wenn man damit allein auf weiter Flur dasteht. Alldieweil bekommt mein Fünfjähriger regelmäßigen Spielbesuch, von viel mehr Kindern, als ich in seinem Alter überhaupt je mit Vornamen gekannt hätte, und denen gefällt’s bei uns zu Hause ziemlich gut.


Bei erstaunlich vielen Calenberger Landsleuten, die innerhalb eines bestimmten Jahrgangsfensters geboren wurden, gehören New Model Army zum festen Bestandteil des Platten-/CD-Schranks. Das liegt wohl an der spezifischen Doppelnatur, die die knarzigen alten Recken in diesem Umfeld entfalten: Keine andere Band brachte so gut auf einen gemeinsamen Nenner, was man hierzulande als Subkultur empfand, und gleichzeitig klingt aus den staubtrockenen, knüppelharten Bassläufen, aus Justin Sullivans schmucklosem Gekrähe und aus dem handfesten Songwriting ohne Schnickschnack eine bis heute gültige Wesensänlichkeit mit diesem an sich nüchternen, ruralen Landstrich heraus. Für den gar nicht so kleinen Teil der Landbevölkerung, der zu einer gewissen rustikalen Form von Melancholie neigt, haben sich NMA, die sich ebenso wenig verändern mögen wie man eben selbst, als langjährige Begleiter etabliert. The Ghost of Cain zählte auf jeden Fall zum Standardrepertoire für all die jugendlichen Einzeltäter hier, die sich in ihrer Unzufriedenheit an der lokalen Lebensqualität suhlten, weil es eine Platte war, die eine enge atmosphärische Verschwisterung mit dem Ortsgefühl einging und doch nach einem Aufmucken gegen ebendieses Ortsgefühl klang. Ich bekam sie mit vierzehn von der älteren Schwester einer Schulfreundin geliehen und hörte sie etwa achttausendmal, bevor ich mich dann selbst mit dem ganzen NMA-Kram eindeckte und das Bandlogo mit Autolack und selbstgeschnippelter Schablone auf meinen Rucksack sprühte. Zwar war ich nach einem halben Jahr mit dieser Phase restlos durch und ließ die CDs danach verstauben, aber umso unverwässerter verbinde ich nun mit NMA einen Sommer voller träge verbrachter Nachmittage am Flussufer.


Von Seegraben, Beeke und Aue ging’s für mich erst mal ans Leineufer. Dann weiter an die Kieler Förde, zu Schwentine und Nord-Ostsee-Kanal. Danach rüber zu Elbe und Alster. Und nun wieder zurück an den Seegraben. Wer weiß, wo ich in zwanzig Jahren bin: an der Weser, der Maas, der Birkenheider Dummbäke, oder doch der Themse? Oder vielleicht begnüge ich mich auch einfach damit, es den Lachsen nachzumachen: gegen den Strom an in die Heimat zurückstrampeln, laichen, sterben?


Die Störche sind zurück und kreiseln über den Dächern herum, staksen durch die frühjahrsnassen Äcker und Weiden, klappern. Auch die Kiebitze schreien wieder ihr Wyywitt. Die Trecker schwärmen aus, pflügen, eggen, drillen und düngen. Je nach Bodentemperatur und Pollenflug verändert die Luft hier ihren Geruch. Wenn es in der Stadt Frühling wurde, hab ich das oft erst am saisonalen Deko-Wechsel im Supermarkt erkannt und mein Dorf dann heimlich, aber schrecklich vermisst.


Die Stadt vermisse ich meist so lange, bis mir wieder in den Sinn kommt, wie viele wirklich verflucht hässliche Häuser es da gibt. In denen man dort ja tatsächlich lebt, und das auch noch haarsträubend teuer. Und dann spaziert man da durch die hübscheren Viertel, an den hübscheren Häusern entlang, in denen die Leute wohnen, die für ihre Wohnung monatlich den Gegenwert eines Gebrauchtwagens hinblättern, und denkt ganz versonnenheitsblöde bei sich, wie schön sie doch ist, die Großstadt, mit ihrem Flair, mit ihrem Charme.


Wenn ich mit siebzehn aus der Schule nach Hause kam, mit dem Bus, der zwischen Kleinstadt und Dorf pendelt, packte mich ein mitunter kaum auszuhaltendes, klaustrophobisches Gefühl. Ich guckte mir diese Gegend an, die in etwa soviel Charakter besitzt wie eine Packung Toastbrot, und war mir ganz sicher, dass ich, wenn ich noch länger hierbliebe, unweigerlich irgendwann meinen gesamten Biss verlieren würde. So wenig Leute hier, und so groß die Borniertheit und der Mangel an Neugier.
Natürlich war es das einzig Richtige, mit achtzehn sofort die Beine in die Hand zu nehmen und in die nächstbeste Stadt wegzulaufen, denn natürlich ist es schön, in der Stadt zu wohnen. Erst mal, ein paar Jahre lang jedenfalls.
Irgendwann aber, als ich so mit Ende zwanzig allmählich müde war vom Feiern, begann mich plötzlich ein mitunter kaum auszuhaltendes, klaustrophobisches Gefühl zu packen, wenn ich mich durch überlaufene Geschäfte drängelte, wenn ich mir unsere kleine Großstadt-Wohnung so anschaute und mal wieder vom stets hörbaren Gerödel der Nachbarn über und unter und neben uns genervt war, wenn ich selbst morgens um sechs im hintersten Stadtparkwinkel kein Plätzchen fand, das ich, nur mal kurz, nur für mich selbst besitzen durfte, sondern spätestens nach einer Viertelstunde schon wieder umlagert war von den ewigen Joggern, Hundehaltern, Taijiquan-Betreibern und sonstigen Frischluft-Bedürftigen.
Die Stadt bietet so viel Input, so viel Ablenkung, aber so wenig ungestörten Raum. Das ist schlechterdings das Merkmal der Stadt: ihre Dichte. So viel Leute da. Aber auch so viel Mimese und Mimikry, so oft so wenig zu entdecken unterhalb der Oberfläche. Spätestens unter den Kindergartenmamas habe ich mich dort bisweilen gefühlt wie in einer von artifiziell verfremdeten Lebewesen bevölkerten Blase, und ich war mir ganz sicher, dass ich, wenn ich noch länger hierbliebe, unweigerlich irgendwann meinen gesamten Biss verlieren würde. Ich kam mir ziemlich blöd dabei vor, am Essen zu sparen, damit von unserem Budget irgendwie Geld übrig blieb, das ich dann in überteuerten Krempel stecken konnte, auf dass ich von den Miteltern nicht scheel angeguckt werde, weil mein Kind als einziges mit den falschen Klamotten rumläuft, bei angesagtem Spielzeug nicht mitreden kann und noch nie im Szene-Familiencafé frühstücken war. Und ich hatte es schnell satt, beim Spielplatztreff so zu tun, als interessierte ich mich für vegane Backrezepte für den Kindergeburtstag und für die besten Kursanbieter in Sachen Eltern-Kind-Yoga. Nichts für ungut: Wem das etwas gibt, dem wünsche ich ehrlich viel Spaß damit, aber eben ohne mich.


Meanwhile in Schicksterhude: Die Schlange vor dem Café Eispalast hat sich laut der Eispalast-App inzwischen auf 1,3km Länge ausgedehnt, die Wartezeit beläuft sich aktuell auf ca. 2 Stunden und 27 Minuten. Ab heute bieten wir Euch wieder täglich frische, hausgemachte Eis-Kreationen! Probiert unbedingt unsere Lakritz-Rosmarinsalz-Sensation! Außerdem: Soja-Sesam-Quinoa, White Choc mit einem Hauch Amalfi-Zitrone, laktosefreies Vanilla de Luxe, Pili-Nuss-Crunch, Granadilla-Curuba-Sorbet und Cherimoya-Champagner. 


Es gibt keine Adresse, die mich so ganz von selbst zu einem interessanteren Menschen machen würde, oder zu einem einsamen, oder zu einem zufriedenen.
Was gibt mir die Stadt? Sie gibt mir zu denken. Das Dorf gibt mir zu atmen. Ich kann das eine wie das andere gut gebrauchen. Ganz vorbehaltlos zuhause fühle ich mich weder hier noch da, denn weder hier noch da gehöre ich so recht hin und füge mich sonderlich passgenau ein.
Ich habe lieber aufgehört, mein Zuhause an bestimmten Orten zu suchen – ich finde mein Zuhause in einzelnen Menschen, mit denen ich wirklich reden kann und an denen mir viel liegt. Die brauche ich, und die habe ich, hier und da; alles andere spielt für mich keine große Rolle mehr.


PROVINZLEBEN > Tristan Egolf, Monument für John Kaltenbrunner

[Die Leute] würden lieber an der Vorstellung festhalten, dass John aus heiterem Himmel in die Stadt galoppierte und sie nur so aus Spaß auf den Kopf stellte. Aber so ist es gar nicht abgelaufen. In Wahrheit, wie mehr Zeitgenossen wissen als es zugeben wollen, in Wahrheit war John Kaltenbrunner ein Einheimischer, und hinter seinen Taten stand ein ganzes Leben aufgestauter Empörung. Bis zu dem Tag, an dem er schließlich sein Kriegsross/Vehikel in Gang setzte, hauste er geräuschlos in den hintersten Winkeln von Baker, deren bloße Existenz die meisten Bewohner der Stadt am liebsten leugnen würden. Er pflügte sich durch die Arbeitswelt vom Fließband zum Schlachthaus, vom Schweineimbiss in die Kanalisation. […] Sein ganzes Leben war und blieb eine unvorstellbar üble Pechsträhne, im wahrsten Sinne des Wortes. Und so ging es immer weiter und weiter und weiter, jahrelang, über das Absurde hinaus bis an den Rand des praktisch Unmöglichen, bis all die sauren Äpfel, die Armut und der Dreck, die endlose Suche – bis sich jenes Hochoktangemisch, das ihm ein Tankstutzen namens Baker großzügig einflößte, schließlich entzündete und in die Luft flog, dass die ganze Gegend erzitterte. Das gab ein Getöse. […] Alle wurden hineingezogen: die Presse, die Behörden, die Kirche, die Fabriken, die Schulen, die Flussratten, die Hessen, die Schmalzköppe, die Trolls, jede Familie in der Stadt, die komplette Liste… Niemand kam ungeschoren davon. Einmal im Gange, traf die Abrechnung alle, quer durch die Bank, doch bis es soweit war, lauerte sie abwartend wie ein Werwolf in Quarantäne bei zunehmendem Mond.

Mittels dieser reichlich Unheil versprechenden Einleitung bereitet einen die Erzählstimme des Romans auf das Spektakel vor, das sie im Folgenden ausbreiten wird: die Lebensgeschichte des John Kaltenbrunner – ewiger Sonderling, vom Leben geprügelter Universalverlierer und später Initiator einer lokalen Beinahe-Apokalypse, die sich gewaschen hat. Dass er sie nicht selbst erzählen kann, um der grassierenden Legendenbildung um seine Person entgegenzuwirken, hat leider seine Gründe, und darum übernehmen seine Kollegen von der Müllabfuhr – im Baker-Sprachgebrauch: die Haldenschrate – diese Aufgabe. Es ist ihr kollektives Gedächtnis, das den wahren John Kaltenbrunner zu rekonstruieren versucht, indem es, mal erinnernd, mal mutmaßend, dessen Lebenslauf nachzeichnet. Und so singt hier der Chor der Haldenschrate einen 500 Seiten langen Punksong über das Provinzleben aus der sozialen Froschperspektive.

Was in den verschlafenen Breiten des amerikanischen Corn Belt so als Stadt bezeichnet wird, machen die ausgiebigen Beschreibungen des Hinterwäldler-Kaffs Baker deutlich: Kirche, Schule und ein paar Fabriken, um die herum sich Wohnhäuschen, Mietskasernen, eine eher dürftige Geschäftswelt und natürlich ein paar schäbige Bars angesiedelt haben; nicht mehr als ein trister Haufen in der Ödnis, eingekreist von Maisfeldern und Viehzuchtbetrieben. Hier herrschen ein Welt- und Werteverständnis, das seit Gründerväterzeiten keine nennenswerten Aktualisierungen erfahren hat, Selbstgefälligkeit, Missgunst und Suff. Schulsystem und Gesetzeshüterschaft werden geleitet von Bauern- und Bibeldeppen. Ein bestimmtes Identitätsempfinden leitet der typische Bewohner von Baker nicht aus den Qualitäten seiner Stadt ab, sondern aus dem ewigen kompetitiven Gezänk mit dem Nachbarstädtchen Pottville: Von solidarischem Miteinander kann in der Gemeinde, in der man unter seinesgleichen zu bleiben hat, je nachdem, ob man nun den Farmern, den Fabrikmalochern oder den eingewanderten Latinos angehört, keineswegs die Rede sein, aber ein Wir-gegen-die geht immer.

Am Rande dieser Zusammenrottung menschlicher Feindseligkeiten wächst John auf einem gottvergessenen Farmgelände auf. Madame Kaltenbrunner hat das Familienanwesen während jahrelanger Trauer um den verstorbenen Kaltenbrunner senior gleichgültig zu einer Bruchbude mit umliegender Müllhalde verkommen lassen, und Johns Lebensgeschichte nimmt hier ihren Anlauf, indem er das tut, wozu er schlichtweg geboren zu sein scheint: Er räumt auf. Zu dem, was man eine normale Kindheit nennen würde, finden sich bei John keinerlei Überschneidungspunkte; es gibt weder Freunde noch irgendwelche weiteren Anverwandten, die den Jungen aus seiner Isolation herauszerren würden, wo er sich, nach und nach, autodidaktisch zum begabten Heimwerker und Geflügelzüchter mausert und unterdessen freilich zu einem schrulligen Eigenbrötler mit autistischen Zügen heranwächst.

Das ist der Kaltenbrunner, den die meisten Schüler der Holborn in Erinnerung haben: ein zotteliger, desorientierter Scheunentroll, der stets den Kopf in den Wolken hatte. […] Eines aber steht fest: Unintelligent war er beileibe nicht. Seine schulischen Leistungen, eine Chronik der bewussten Vernachlässigung, sagen überhaupt nichts über seine wahren geistigen Fähigkeiten aus.

Was sollen ihn Schule und soziale Kontakte auch groß interessieren – schließlich werkelt er wie besessen an ganz anderen Dingen: Als selbstberufener Herrscher über den Scheunenhof (Lord of the Barnyard, so der englische Roman-Titel) putzt John das Anwesen zu einem Schmuckstückchen heraus und macht als erfolgreicher Hühnerfarmer  im ganzen Valley Furore und Profit, da ist er noch keine fünfzehn.

Bis hierhin haben wir’s mit einer – etwas kruden, versteht sich – Erfolgsgeschichte zu tun. Längst fliegt diesem Gemeinschaftsverweigerer und Agrar-Wunderkind meine sämtliche Sympathie zu; das ist bei mir wohl autobiographisch bedingt, da rennt der radikal tatkräftige Kaltenbrunner junior nun einmal offene Türen ein. Wann immer ich den Roman in die Finger kriege, um darin weiterzulesen, tue ich das mit einem ähnlichen Appetit, mit dem ich auch ein gutes Stück Fleisch verputze – nein, filigrane Kost ist das nicht, man muss es schon deftig mögen, und eine Neigung zum Schlingen mitzubringen, schadet hier auch nicht. Die Sprache ist gekonnt roh und flapsig, die Story lebt davon, dass sie auf Krawall abzielt; beide suhlen sich streckenweise etwas zu gedehnt in ihrer Saftigkeit und ergehen sich oft in umwegigen Spielereien, aber das macht nichts, mir jedenfalls nicht. Dieser Roman ist nicht angetreten, um perfekt zu sein, sondern laut, garstig und wahnsinnig unterhaltsam. Er ist das rund zwanzig Jahre alte Debut des inzwischen auch schon verstorbenen Tristan Egolf, der als Schriftsteller wie als Punk-Musiker eine Menge Talente hatte, außer vielleicht dem, sein Talent dosiert, bedachtsam einzusetzen. Klar hätte man diesen Roman auch um 200 Seiten verschlankt veröffentlichen können, aber wozu? Kunstfertige Gezügeltheit ist was für Leute, die sonst keine Hobbys haben – Egolf dagegen hat Dampf und lässt dem seinen freien Lauf. (Gewisse Wesensähnlichkeiten zwischen den beiden Angry Young Men, Egolf und Kaltenbrunner, erscheinen mir möglich.)

Natürlich begnügt sich der Autor nicht damit, seinen einsamen Helden einen skurrilen, aber zufriedenen Selfmade-Unternehmer sein zu lassen. Die Jahre auf der Farm – das war ja nur die Vorgeschichte. Das Paradies Kindheit. Mit dem ist es schlagartig aus und vorbei, als eines Tages ein Wirbelsturm durch Baker zieht; Ende Teil I des Romans. Von nun an wird Johns später berühmt gewordene Pechsträhne nie mehr abreißen.

Fürs Erste sind es die profitgierigen kirchlichen Wohltäterinnen aus der mächtigen Ortsgemeinde – durchgehend bezeichnet als die Methodistenvetteln -, mit denen John sich herumschlagen muss; später der halbe exekutive Rechtsapparat des Countys. Noch etwas später, nachdem John diverse staatlich verordnete Progamme durchlaufen hat, deren Ziel es war, ihn gerade zu biegen oder wenigstens für ein Weilchen von der Gesellschaft fernzuhalten, ist es Baker selbst, das ihm das Leben schwer macht, als er, perspektiv- und mittellos, nach ein paar Jahren in der Versenkung dorthin zurückkehrt. Dabei hätte er sich, nur um wieder bei null anzufangen, doch sonstwo niederlassen können – warum also unbedingt Baker, noch dazu in der festen Absicht zu bleiben?

Dafür musste es einen Grund geben. […] John war allzu verstrickt in seine Geschichte mit Baker, um einfach seine Sachen zu packen und fortzugehen. Er hätte es wahrscheinlich nie geschafft, zu innerem Frieden zu finden, wenn er die Stadt verlassen hätte, ohne zuvor ein paar hundert Angelshops in Schutt und Asche zu legen.

Inzwischen sind die alten Geschichten um John – wie er mit seinem Traktor namens Bucephalus zur Schule fuhr, oder wie es zu der Schießerei auf der Farm kam, etc. -, kalter Kaffee aus der städtischen Folklore, und da ihn schon damals niemand so recht gekannt hatte, erkennt ihn nun auch niemand wieder, sodass John in der Stadt nicht viel mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht als irgendein beliebiger, namenloser Taugenichts. Vom finanziellen Null-Level wegzukommen, gestaltet sich für John derweil schwierig: All seine Ausflüge in die lokale Arbeitswelt enden im Desaster. Nicht, dass das an John läge, der sich als zäh genug erweist, jeden, aber auch wirklich jeden Job zu machen – selbst in einer höllenhaften Geflügelfabrik, wo es die Aufgabe des ehemaligen Hühnerzüchters ist, geschundenen Puten im Akkord die Hälse abzuschneiden und dabei knietief in deren Blut und Gekröse zu waten, überzeugt er zunächst mit Bravour. Es ist nur das Pech, das einfach nicht locker lässt, für die dämlichsten Unfälle sorgt und scheinbar nimmermüde das Ziel verfolgt, Kaltenbrunner am besten gleich unter die Erde zu bringen.

Die Agentur hatte die Nase voll. […] Bei allen Arbeitern aus der Stadt, die sie je unter Vertrag genommen hatte, und damit sind die jämmerlichsten Exemplare des weißen Lumpenproletariats der letzten zwanzig Jahre gemeint, waren ihr noch nie so viele Beschwerden in bezug auf einen einzigen Menschen untergekommen. […] Damit stand er offiziell auf der Schwarzen Liste der Zeitarbeitsfirmen von Baker, lebenslang. Nicht nur bei der Arbeit zerrann ihm alles zwischen den Fingern, sondern in allem, was er tat, jede Stunde wieder. Wilbur konnte heute noch den Kopf darüber schütteln. Ein normaler Mensch, der ein Zimmer betreten, die Tür schließen und sich an den Tisch setzen wollte, täte das einfach, und zwar ohne besondere Vorkommnisse; John würde in derselben Situation mit dem Hosenbein am Türrahmen hängenbleiben, die Naht vom Knöchel bis zu den Eiern aufreißen, die Wand beim Versuch, sich zu befreien, beschädigen und sich schließlich auf den Stuhl setzen, nur damit ein Bein unter ihm nachgab.

Wilbur Altemeyer, der im selben Mietzwinger wie John haust, eine Etage über ihm, beobachtet seinen verschrobenen Nachbarn vorerst aus der Ferne, solange, bis von dem ehedem kraftstrotzenden Dockarbeiter nur noch ein humpelndes Häufchen Elend übrig ist, das sein Essen aus Bäckerei-Mülltonnen zusammenklaubt. Als Wilbur beschließt, John müsse dringend geholfen werden, findet John damit erstmals einen Freund. Die beiden hoffnungslosen Junggesellen haben so einiges miteinander gemein, nicht zuletzt, dass sich ihr Stellenwert auf der Baker-Sozialskala auf irgendwo unter null eingependelt hat. Wilbur, dessen eigene vergurkte Lebensgeschichte es in puncto Pech und Elend nicht ganz, aber fast mit Johns bisheriger Vita aufnehmen kann, hat es, als letzte Option auf ein irgendwie geregeltes Leben, zur Müllabfuhr verschlagen. Und als nach und nach Wilburs sämtliche naiven Versuche, John dabei zu unterstützen, in Baker irgendwie auf die Füße zu kommen, grandios in die Hose gehen, wird klar: Auch Kaltenbrunner ist nun reif für die Halde.

John wird zum Müllmann par excellence. Zwar bleibt er unter seinen neuen Kollegen, einem zusammengewürfelten Kollektiv haarsträubend verunglückter Existenzen, anfangs der gewohnt unnahbare Sonderling, setzt aber seine ganze Begabung und allmählich zurückgewonnenen Kräfte ein, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern, die Routen der Abholfahrten zu optimieren und sich und seine Mitstreiter gegen die täglichen Attacken vonseiten der boshaften, ständig zum Piesacken aufgelegten Bürgerschaft Bakers zu verteidigen. Dass sich Johns Arbeitsstil mit der Zeit zum Führungsstil aufschwingt, stößt Deponiechef Kunstler ungut auf, der sich als durchgeknallter Autokrat an seinen Mitarbeitern bislang ungebremst austoben konnte, bei John jedoch auf Granit beißt. Was als Kräftemessen zwischen Kunstler und Kaltenbrunner beginnt, schaukelt sich zunehmend hoch, reißt bald die gesamte Belegschaft der Müllabfuhr mit, mündet in den ersten Müllstreik in der Geschichte des Countys und führt schließlich in eine Generalabrechnung des sozialen Bodensatzes von Baker, sprich: der Haldenschrate mit der gesamten Stadt.

Der Bekanntheitsgrad John Kaltenbrunners schnellt nun von null auf hundert. Der Müllstreik, den John vom Zaun gebrochen hat und den er als glanzvoller Stratege mit geradezu militärischem Geschick anführt, lässt den heimischen Pöbel in seinem eigenen Unrat ertrinken – und der brütend heiße Sommer trägt das seine dazu bei. Nach den ersten Wochen, in denen man das Ganze in Baker noch als schlechten, stinkenden Scherz abtut, kommen Ungeziefer, Geier, Kojoten wie die biblischen Plagen eingefallen, gefolgt von Presseteams aus dem gesamten Bundesstaat, die in Baker Stellung beziehen, um rund um die Uhr live über den Untergang einer Kleinstadt zu berichten. Und gerade, als die örtliche Wirtschaft vollends lahmgelegt und die Hysterie so richtig im Gange ist, als erste Plünderungen gemeldet werden, Unruhen an der Tagesordnung sind und Polizei, Stadtrat und Bürgerschaft in ihren Entscheidungen schwanken, ob sie besser kapitulierend allen Forderungen der Haldenschrate nachgeben sollten oder nicht doch lieber diesem Terroristentrupp per Lynchjustiz den Garaus machen wollen – mitten in dieses Szenario hinein fällt das lang herbeigefieberte Basketball-Pokalduell zwischen den Schulen von Baker und dem verhassten Pottville. Austragungsort: Baker.

Schon klar, dass das nicht gut ausgeht. Selten wurde eine Kleinstadt literarisch dermaßen dem Erdboden gleichgemacht, um ihren Einwohnern ihre himmelschreiende Borniertheit heimzuzahlen. Der Typus des hartgekochten Lonesome Hero, der in eine Stadt kommt, um dort aufzuräumen und für Recht und Ordnung zu sorgen, findet hier seine Anwendung, indem Egolf ihn auf den Kopf stellt: Kaltenbrunner nimmt sich eine Stadt vor, in der die herrschende Ordnung nichts taugt, und um damit klar Schiff zu machen, jagt er sie erst einmal kräftig durch ein reinigendes Chaos.

Das Finale Baker-Pottville markiert gleichermaßen das Finale Kaltenbrunner gegen Baker. Am Ende stehen eine brennende Kirche, sechs Zigarettenstummel am Ufer des Patokah River, deutlich bessere Arbeitsbedingungen und Sozialleistungen für die Haldenschrate und ein panisches Schwein, das über einen Friedhof flitzt. Wäre dieser Abschluss nicht zum Heulen, wäre das alles zum Brüllen komisch – aber gerade diese Mischung aus Bitterkeit und absurder Komik ist wahrscheinlich das eigentliche Wesen des Provinzlebens.


> Tristan Egolf, Monument für John Kaltenbrunner (Suhrkamp), antiquarisch


Mit Gruß an Gerhard Emmer, von dem der Buchtipp kam. (Ewig her, ja ja. Meine Mühlen mahlen langsam, aber stetig.) Meinen geistigen Soundtrack hierzu lieferten übrigens die Pixies, Kyuss, Modest Mouse und Rollins Band!


Bild: Grebe 2017

PROVINZLEBEN > Alina Herbing, Niemand ist bei den Kälbern

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Normalerweise höre ich keine Musik nebenher, während ich lese oder schreibe. Nie. Jetzt aber will ich etwas über Niemand ist bei den Kälbern von Alina Herbing ins Laptop tippen – und dazu muss ich entschiedenermaßen das  Küchenradio anknipsen und NDR 1 Niedersachsen dudeln lassen, sonst fehlt mir hier was.

Wer den ländlich-norddeutschen Alltag nicht so richtig kennt, der versteht auch das mit dem Radio nicht so richtig, das in solchen Ortschaften, deren Skyline, wenn’s hochkommt, aus Kirchturm, Getreidesilo, Windrädern und Biogasanlage besteht, im Hintergrund eines jeden Haushalts, eines jeden landwirtschaftlichen Betriebs permanent irgendein Regionalwelle-Programm abdudelt. Und der versteht auch das mit dem ewigen Likörsaufen nicht; oder das mit dem Rechtsrock, und wie verbreitet es unter den Kids und jungen Erwachsenen ist, den zu hören; oder wie dramatisch sich die Milchpreisentwicklung auf Familienbetriebe mit kleinerer Viehwirtschaft auswirkt; oder wie normal es in so einigen Familien, in so einigen Gegenden ist, Diskussionen lieber mit körperlichen Mitteln auszutragen, und wie schwierig es das besonders den Mädels macht, da nicht automatisch und ununterbrochen den Kürzeren zu ziehen im Leben.

Und der versteht auch nicht, wie man als Mädel so blöd sein kann, sich, aus einer Laune heraus, zu wildfremden Typen in den Wagen zu setzen und nach Hamburg mitnehmen zu lassen, ganz spontan und direkt vom Feldrand weg, nur um dann schön doof dazustehen, so in Gummistiefeln, irgendwo in Hamburg. – Das verstehe ich wiederum ziemlich gut.

Der Bach, der nahe an meinem Elternhaus vorbeiplätschert, vereint sich mit ein paar weiteren Rinnsalen zu einem Flüsschen, und dieses Flüsschen ergießt sich, etwas weiter weg, in einen richtigen Fluss, und dieser Fluss läuft, in der Ferne, einem großen Strom zu, und dieser große Strom, der mündet schließlich ein ins große Meer. Und die Dorfstraße, an der ich mir als Jugendliche die Beine in den Bauch stand, während ich auf den Schulbus wartete, die geht über in eine holprige Kreisstraße, und die Kreisstraße, die führt zur vielbefahrenen Bundesstraße, und über die Bundesstraße kommt man zur Autobahn, und die Autobahn, die bringt einen in die große Stadt. Einfach irgendwo einsteigen, mitfahren so weit es geht, und weg bin ich – ging mir manchmal genauso durch den Kopf. Aber wenn man vom Dorf kommt, traut man den Auswärtigen nicht, versteht sich, und zu einem von denen ins Auto steigen, einfach so, das täte man nie und nimmer. Zweitens ist man, nur weil man Landkind ist, ja nicht gleich doof, wie das manche Städter gern glauben, und darum plant man seinen Abschied vom Landleben lieber gründlich und nachhaltig, anstatt Hals über Kopf auszubüxen und damit in einen Haufen Schwierigkeiten zu geraten. Und drittens halten Auswärtige auf Durchreise sowieso eigentlich nie im Kuhdorf an.

Christin, Mitte zwanzig, ohne abgeschlossene Berufsausbildung, ist dagegen herzlich egal, was für Schwierigkeiten sie erwarten könnten, als sie sich kurz mal von daheim absetzt, so auf die unüberlegte Tour. Das mag nach Dummheit aussehen, aber was Christin antreibt, ist natürlich die reine Verzweiflung: Wenn man, wie eben Herbings Anti-Heldin, aus einem solchen Niemandsort wie Schattin in Nordwestmecklenburg kommt, dann bleibt einem schlechterdings nichts anderes übrig, als ab und an irgendeinen potenziell lebensgefährlichen Blödsinn zu verzapfen, sonst erlebt man nämlich nichts. Gar nichts. Nie.

Seit Christin bei ihrem Freund Jan und dessen Eltern auf dem Hof eingezogen ist, hilft sie beim Melken und Kühetränken und guckt dabei zu, wie ihre Hände nach und nach schwielig werden. Heiraten, Kinder kriegen, den Hof übernehmen – alles schon vorgezeichnet. Von Quasi-Schwiegervater Frank gibt’s ein monatliches Taschengeld und eine Menge giftiger Sprüche. Und ob das zwischen ihr und dem humorlosen, schnell aufbrausenden Jan nun Liebe ist oder bloß, na ja, irgendwas, das fragt sich Christin vorsichtshalber nicht allzu ehrlich. Zwar graust ihr vor dem Leben zwischen Küche und Kuhstall, das ihr da blüht, nur sieht es mit Alternativen ziemlich mau aus. Frisörin hatte sie mal werden wollen, aber ihr Ausbildungsbetrieb ging insolvent; der Vater säuft, die Mutter ist irgendwann einfach verschwunden, spurlos. Weit und breit also keine Familie, auf die man bauen könnte, und kein Job in Aussicht. Damit ist sie in Schattin nicht allein, aber weniger einsam fühlt sie sich darum noch lange nicht. Und während Christin in Gummistiefeln durch Ackerboden und Mist stapft, guckt sie den Flugzeugen nach, die von Lübeck aus, das bloß einen Steinwurf und doch eine Welt weit weg ist von Schattin, in alle Himmelsrichtungen fliegen.

Dort, wo der Norden besonders strukturschwach ist, ist man schon froh, sich so gerade eben durchschlagen zu können, von Träumen kann da keine Rede sein. In Schattin hat man nach der Wende einfach nicht die Kurve gekriegt: Die Alten trauern den alten Zeiten hinterher – als LPG, da war man noch wer -, und die Jüngeren schmoren in trostlosen Arbeitswelten oder in trostloser Arbeitslosigkeit vor sich hin. Auf den immergleichen Schlagerpartys wird rumgehangen und gesoffen. Die immergleichen Freunde bauen die immergleiche Scheiße; manche allerdings haben sich inzwischen schon totgefahren. Als Mädchen hat man nichts zu melden, aber anstatt sich darüber zu beklagen – besonders dann, wenn wieder mal einer grob zu einem geworden ist -, kippt man sich halt noch einen Kirschlikör hinter die Binde. Da kann man beinahe verstehen, weshalb Christin sich einem doppelt so alten, schnauzbärtigen Windanlagentechniker aus Hamburg an den Hals wirft, obwohl sich die Beziehungs- oder wenigstens Fluchtoption, auf die Christin spekuliert hatte, allzu vorhersehbar als Rohrkrepierer entpuppt. Ziemlich gut verstehen kann man, warum sich Christin mitunter zu boshaften, heimlichen Zerstörungsakten hinreißen lässt: Um Schattin zu verlassen, fehlen ihr die nötigen Mittel; um sich hier, in ihrem grobschrötigen Umfeld zu behaupten, fehlen ihr die Kraft und der Wille; aber um diese öde, rohe Welt zu sabotieren und es ihr auf diese Weise heimzuzahlen, dass sie es ihrerseits wirklich nicht gut meint mit Christin, dafür genügt manchmal ein Taschenmesser, oder ein Feuerzeug, oder ein bisschen Rattengift.

Wenn Christin von alledem erzählt, in ihrer abgestumpften Art, durch die viel Elend, viel unterschwellige Aggressivität hindurchblitzen, wünscht man ihr sehr, dass sie es nach draußen schafft, weg aus Schattin, irgendwie. Gleichzeitig weiß man ganz sicher: Das wird nix. Oder wenigstens nicht mit heiler Haut. Ein paar Tage im Hochsommer – länger hält Herbing sich erzählerisch nicht auf in Schattin, und mehr braucht es auch gar nicht, um zu verdeutlichen, weshalb das mit der Autodestruktion in so hundseinsamen, lieblosen Landstrichen wie diesem ein solcher Breitensport ist.

Um mit dem zeitgenössischen, florierenden Missverständnis aufzuräumen, Landleben sei die pure Idylle, schwingt Niemand ist bei den Kälbern eifrig die Realitätskeule. Alina Herbing selbst besitzt die nötige Credibility, um sich übers Land auslassen zu dürfen: Geboren in Lübeck, aufgewachsen allerdings in einem winzigen Dorf im Meck-Pomm der Nachwendezeit – der Autorin des Heimatkollerromans kaufe ich sofort ab, dass dessen Bitterkeit von Herzen kommt. Nur hat Herbing hier allzu gründlich geliefert. Es wirkt, als hätte sie beim Schreiben eine Checkliste abgehakt: Kühe, Trecker, Windräder, Hunde, Hühner, Alkohol, Freiwillige Feuerwehr, Zeltfeten, überkommene Geschlechterrollen, Esoterikglaube, biedere Wohneinrichtungen, usf.; Erzählprinzip Was muss, das muss. Und wegen ebendieser Mustergültigkeit wirken die Figuren und ihre Kulissen zumeist schon arg blutleer. Zufällig korreliert das freilich mit dem Sujet: Den quälend drögen Alltag in einem abgehängten Landstrich beschreibt Herbing umso glaubwürdiger, indem sie auch literarisch keine großen Experimente veranstaltet. Das Bild eines Fliegenfängers samt dran klebenden Zappelinsekten wird pflichtschuldig als Allegorie des zähen, vergeblichen sich Abstrampelns im Leben bemüht. Ein Nandu, der aus einer Farm ausgebrochen ist, wird als Symbol für Freiheitswillen, für exotische Unangepasstheit, plakativ in die Geschichte hineingepflanzt und am Ende verheizt. Das ist im Großen und Ganzen so ordentlich aufgebaut, so brav nach Lehrbuch installiert; das wäre auch prima als Lektüre für den Deutsch-LK. Lebendigkeit bricht da eher selten durch – aber wenn, dann immerhin mit Wucht, und in diesen Momenten schafft der Roman dann doch etwas besonderes: Er belässt es nicht dabei, die Verschlafenheit, Kleinkariertheit, Beengtheit des dörflichen Alltagslebens nachzuzeichnen, sondern traut sich außerdem, die darunterliegende Härte zutage treten zu lassen. Dies ist ein Land-, aber kein Familienroman, und zu sich selbst findet hier auch keiner, sondern es geht um eine Mittzwanzigerin, die sich selbst dann nicht beschwert, als einer eine Zigarette auf ihr ausdrückt. Während sich bloße Tristesse und Einsamkeit dagegen notfalls noch unter den Landkitsch-Teppich kehren lassen, wagt sich Niemand ist bei den Kälbern in einzelnen Szenen an schmerzhafte Kaltschnäuzigkeit, an beiläufige Brutalität und andere harsche Varianten dörflicher Lebensrealität heran und jagt dabei jeglichen Anflug von Landromantik durch den Schredder. Das ist allemal sehr lesenswert.


> Alina Herbing: Niemand ist bei den Kälbern (Arche Literatur Verlag)


Foto: Grebe 2017

PROVINZLEBEN > Édouard Louis, Das Ende von Eddy

Nein, dies ist kein Coming-of-Age-Roman in vorsommerlicher Stimmung – von der Covergestaltung ließ ich mich dahingehend zunächst fehlleiten -, sondern ein Kindheitsrückblick, der es ernst meint: Der erst 22jährige Édouard Louis erzählt in seinem Romandebüt Das Ende von Eddy von trostlosen Zeiten des Aufwachsens in der nordfranzösischen Provinz-Tristesse.

Bezeichnenderweise beginnt Eddy Bellegueules Geschichte mit einer Prügelszene: Zwei ältere Mitschüler misshandeln den zu zart, zu still geratenen Außenseiter in einem abgelegenen Schulflur. Die Schläge und Demütigungen wiederholen sich fortan stetig. Eddys Umfeld außerhalb der Schule ist nicht sonderlich milder oder freundlicher. Sein Heimatort liegt in der strukturschwachen Picardie, einziger nennenswerter Arbeitgeber weit und breit ist eine Messingfabrik, in der die Männer des Ortes, nachdem sie mit fünfzehn, sechzehn die Schule verlassen haben, sich stumpf und krumm arbeiten, während sich die Frauen von Jugend an als Kassiererinnen oder Frisörinnen abschuften. Das war schon immer so, da kommt nichts Neues. Die einfachsten Jobs bedeuten bereits die höchste erreichbare Sozialstufe, für die allermeisten geht der Weg kein Stück weiter hinauf, aber die Fallgrube nach unten steht allen bedrohlich offen. Der Mangel ist die allgegenwärtige Regel: Mangel an Geld, an Essen, an Zahngesundheit, an Zuwendung, an Sinn. Eddys Elternhaus spiegelt, wie die meisten Häuser, den Zustand der Gegend wieder: baufällig, verwohnt, zu beengt, um Eltern und mehreren Geschwistern irgendeinen Raum für sich zu lassen – ein Druckkessel, in dem es täglich krachen muss.
Anfangs arbeitet auch Eddys Vater in besagter Fabrik, bis ein Rückenleiden ihn schließlich ans Haus fesselt. Das ohnehin magere Familieneinkommen schrumpft damit ins Erbärmliche. Endlos Pastis zu saufen und Zigaretten zu rauchen wird zur Grundbeschäftigung des Vaters, die Mutter kultiviert dagegen ihre Dickhäutigkeit. Gemeinschaftliches Fernsehen wird als Familienleben verstanden – glotzen, Klappe halten, still sitzen ist die einzige bekannte Form von Harmonie. Auch liefern die immergleichen Fernsehshows und Trickserien die einzige Alternative zu dem immergleichen Blick auf das Dorf, auf sich selbst. Die Fabrik-Region ist eine hermetisch abgeschlossene Welt, niemand verlässt sie, niemand kommt von außerhalb hinzu; schon Urlaub machen ist ein absurder Witz, den man nur in weit entfernten bürgerlichen Sphären versteht. In sich geschlossen ist auch der Kreis sich ewig wiederholender Entwicklungen und Verhaltensmuster: Man wächst nahtlos, von Kindheit an, über das Jugendalter, in die Rolle der Eltern hinein – als Junge kleiner Raufbold, dann großer Raufbold, schließlich Papa Raufbold, als Mädchen schimpft man über die Jungs, über die Kerle, irgendwann über die Ehemänner.
Auch Eddys Denkweisen und Vorstellungen bewegen sich zunächst auf diesen vorgezeichneten Kreiswegen. Nur bemerkt er schon als Kind, dass sich irgendetwas an ihm nicht in diese unverrückbare Ordnung der Dinge fügen will, etwas an ihm sticht unangenehm hervor. Wie jedes Kind hier, begreift er von Anfang an die althergebrachten Geschlechterrollen als die entscheidenden sozialen Messlatten: Wer etwas taugen will, muss ein richtiger Kerl sein, ob Junge oder Mann, muss sich prügeln, Fußball spielen, später Mädchen abschleppen, muss Muskeln haben und eine große Klappe, während die Mädchen nur als Anhängsel der Jungs, später der Männer etwas gelten.
Eddy versteht, dass die Welt so funktioniert, und so erfüllt ihn seine frühe Erkenntnis, dass er selbst so nicht funktionieren kann, mit beständiger Panik. Er erkennt seine zierliche Gestalt als herbes Problem, betrachtet sich argwöhnend im Kontrast zu den anderen Jungs, die Andersartigkeit seiner kieksigen Stimme und seiner eher femininen Gestik sind sogar seinen eigenen Eltern unangenehm. Vor allem seine Mentalität macht ihm zu schaffen: So sehr er sich von sich aus darum bemüht oder auch vom Vater dazu gedrängt wird, findet er doch keinen Weg um sich irgendwie für die Dinge begeistern zu können, die ihn als Jungen ausmachen sollten. Stattdessen ist er gut in der Schule, was besonders für den Vater eher einem Makel gleichkommt als einem Grund zur Freude. Schon mittelmäßig gut in der Schule zu sein bedeutet, sich der Streberei schuldig zu machen, und wer sich von den Anderen nach oben hin absetzt, steht sofort unter dem Verdacht, ihnen auf den Kopf spucken zu wollen. Vorsorglich wird Eddy also von seinen Mitschülern bespuckt und obendrein gezwungen den Rotz danach aufzulecken. Eddy nimmt diese Demütigungen hin, denn er versteht die Regeln, er gehorcht den Gesetzen, von denen sie bedingt werden: Nicht die Aggressivität der Anderen ist der Fehler, sondern seine eigene Weichheit.
Zwar haben die Frauen des Dorfes den kleinen Bellegueule für seine zurückhaltende und freundliche Art gern, beneiden sogar die Mutter um den lieben Kerl, den sie als anständig und vernünftig loben, sodass seine Mutter zunehmend hofft, es könne vielleicht einmal etwas Besonderes aus ihm werden. Während Eddy weiter heranwächst, verliert seine Zartheit jedoch den Bonus kindlicher Niedlichkeit, er wird mehr und mehr unfreundlich beäugt.
Eddy kämpft dagegen an, indem er gegen sich selbst ankämpft und sich mit aller Macht bei den Jungs zu bewähren versucht. Saufen, rauchen, Witze reißen. Eines Tages nehmen ein paar gelangweilte Jugendliche aus Eddys Umfeld ihn mit in einen Gartenschuppen, und anstatt wie üblich gemeinsam Pornos zu schauen, wird sich nun die Zeit damit vertrieben Mann-und-Frau zu spielen. Als dieses Spielchen auffliegt, kippt die Stimmung endgültig, und wer sich bis dahin damit begnügt hatte, den seltsamen kleinen Bellegueule zu belächeln, beginnt nun ihn offen zu beschimpfen. Die anderen Beteiligten des Spielchens werden nicht zu seinen Leidensgenossen, sondern einigen sich unausgesprochen mit dem Rest des Dorfes darauf, dass allein Eddy zum Träger dieser Schande wird.
Für Eddy wird die geladene Atmosphäre um ihn herum vollends zur Dauerbedrohung, aus der Opferrolle gibt es keinen Ausweg mehr. Und doch versucht er sich nun noch vehementer als zuvor den Anderen anzugleichen, reißt tatsächlich Mädchen auf, jeder Kuss wird strategisch platziert, jede Fummelei vor Zeugen bedeutet einen kleinen Betrag in einer Währung, in der sich Eddy von seinem Makel loskaufen zu können glaubt.
Sozial geht es dadurch sogar wieder bergauf mit Eddy, seelisch dagegen radikal bergab. Aber es gibt einen unverhofften Ausstieg aus der Talfahrt: ein Stipendium, das ihn wegbringt, weg von Zuhause, weg von der Fabrik, weg von den Prügeln der Mitschüler, weg nach Paris.

Die Frage, was einen Soziologie-Studenten aus Paris dazu treibt eine Millieustudie über das ärmliche Kleinstadtleben in der Picardie zu verfassen, beantwortet sich anders, als ich vor dem Lesen ganz automatisch vermutet hatte.
Mir kam zunächst der Vergleich mit Moritz von Uslar, Deutschboden in den Sinn, jenem Provinz-Portrait eines adligen Society-Intellektuellen aus Berlin, der sich etwas, nun ja, besonderes einfallen ließ, um doch noch irgendwie auffallen zu können in Zeiten, in denen jeder schon alles kennt und alles weiß (und sei es nur aus dem Internet) und der weiten Welt beim besten Willen kein Fünkchen echter Exotik mehr zu entlocken ist: Das echte Abenteuer findet man nicht mehr dort, wo alle schon mal waren, sondern dort, wo keiner hin will – also auf nach Brandenburg, in die schäbige Ostprovinz, ein paar Wochen lang als Schriftsteller-Schrägstrich-Reporter under cover zwischen Rentnern, Arbeitslosen und Proleten über die Nicht-Erlebnisse in einem gottverlassenen Örtchen schreiben. Das Buch, das als teilnehmende Beobachtung untertitelt ist, liefert denn auch nur das: Beobachtungen, die jedoch weniger teilnehmend sind als vielmehr ein klarer Fall von Gaffertum. Gelangweilte Bürgerkinder schauen sich gern klischeeorientierte RTL2-Formate mit hohem Proll-Faktor an um sich selbst noch ein gutes Stück kultivierter zu fühlen, als sie es tatsächlich sind; in Deutschboden überträgt ein gelangweilter Autor diesen Mechanimus in den Bereich der Literatur.
Bei Édouard Louis jedoch ist der Grad der persönlichen Teilnahme ein ganz anderer. Er tritt nicht etwa als Außenstehender mit soziologischem Besteck an das Familien- und Gesellschaftsleben in einem heruntergekommenen Städtchen heran, sondern schreibt sich mit aller Macht aus ebendiesem Gefüge hinaus: Eddy Bellegueule, der Protagonist, ist Édouard Louis, der Schriftsteller – Eddys Geschichte, Eddys Ende ist autobiographisch. Bellegueule musste erst seine Kindheit und Jugend in einem Buch abschließen und versiegeln, das Eddy-Dasein in einem ausgiebigen Schreibvorgang beenden, damit unter seinem zu Édouard Louis geänderten Namen ein neuer Mensch aus ihm werden konnte.

Verlegen wollte das so entstandene Buch zunächst niemand. Zu sehr hinge die Schilderung des Provinzalltags aus der Sicht eines jungen, verzweifelten Homosexuellen überstrapazierten Klischees nach, zu banal trete das Proletarische hier auf, zu plakativ gestalteten sich die Charaktere, so die abwertenden Beurteilungen, mit denen Louis sich konfrontiert sah. Er konterte: Was wisse der akademische Kulturbetrieb in Paris schon von der bildungsfernen Realität im ländlich und industriell geprägten Nirgendwo?

Mein Vater war brutal, wie alle Männer im Dorf. Und meine Mutter klagte über die Brutalität ihres Mannes, wie alle Frauen im Dorf. Vor allem klagte sie darüber, wie er sich aufführte, wenn er betrunken war. Bei deinem Vater weiß man nie, was kommt, wenn er einen sitzen hat. Entweder der Suff macht ihn weich, dann geht er mir auf die Nerven mit seiner Anhänglichkeit, dann kann ich mich gar nicht retten vor lauter Küsschen und meine Süße hier und meine Süße da, oder der Suff macht ihn gemein. Meistens gemein, dann macht er mich fertig. 

Wenn es nun einmal so ist, so schlicht, so plakativ, so schäbig-einfach, wozu dann nach Komplexität suchen, wo es in Wahrheit keine gibt? Das Ende von Eddy ist Edouard Louis´ privater Abschluss mit seiner unbarmherzigen Vergangenheit und eben keine neutrale Abhandlung über soziokulturelle Zusammenhänge.
Dennoch ist sein Roman keineswegs als hitziger Rachefeldzug zu lesen, im Gegenteil sind Inhalt und Ton von einer fast schmerzhaften Nüchternheit bestimmt. Louis gibt nicht den Geschmähten, der davonkam und es nun seinen Peinigern heimzahlt. Er unternimmt schlicht eine Bestandsaufnahme seines bisherigen Lebens, das er in geduckter Haltung und unter panischer Verleumdung seines wahren Ichs verbracht hat, indem er es hier – endlich – mit radikaler Genauigkeit betrachtet und beschreibt.
Was daran als vermeintliche Klischee-Wiedergabe kritisiert wurde, ist allein der Realität geschuldet, von der das Klischee oftmals rechts überholt wird. Louis ergeht sich also nicht in Ungerechtigkeiten gegenüber dieser Realität. Von den Kritikern wenig hervorgehoben, lässt Louis vielmehr allen Figuren und Geschehnissen eine konsequent ehrliche Behandlung widerfahren, ungeachtet der Sympathien oder Abneigungen, die er ihnen gegenüber hegen mag. So reduziert sich zum Beispiel die Rolle des Vaters nicht auf die Trinker-Blaupause. Zwar lernt man ihn mitunter als scheußlichen Tyrannen, mal auch als heillosen Blödmann kennen, aber zu einfach macht es sich Louis mit der Darstellung seines Vaters keineswegs. Der zeigt im Rahmen seiner emotionalen Unbegabtheit eine schwierige, sperrige Art von Liebe: Indem er, wenn seine Wut aufkocht, sich die Fäuste an der Wand kaputtschlägt, um sie nur ja nicht die Kinder treffen zu lassen, weil er es so unbedingt besser machen will als damals sein eigener prügelnder Vater. Oder indem er, nachdem Eddy von Zuhause ausbüchsen wollte, ebendiese mühsam eingehaltene Grenze doch überschreitet, ihm zur Strafe, vor allem aber aus Angst und in elterlicher Verzweiflung, eine Abreibung verpasst, und ihm danach heulend vermittelt, dass er daheim doch geliebt werde – Schwuchtel hin oder her – und um Gottes Willen nicht auf so dumme Gedanken komme dürfe. Auch die Dorfgemeinschaft wird in ihrer Ambivalenz, nicht nur in ihrer Klischeehaftigkeit gezeigt: Generell schimpft man über die Schwarzen, aber nur über die aus dem Fernsehen – den einzigen Farbigen am Ort, Jordan, hat man gern.
Und nicht zuletzt sich selbst, Eddy Bellegueule, untersucht Louis schonungslos: Wäre es ihm möglich gewesen, hätte er sich zwangsläufig so wie alle Anderen entwickelt, hätte sich den Verhältnissen gedankenlos gefügt. Während der Schulzeit, als ihm seine Andersartigkeit deutlich wird, steht für ihn an erster Stelle, sie zu verdrängen und nach Möglichkeit irgendwie abzustellen, nicht aber sie auszuleben. Es gibt eine Szene, die das Bittere daran besonders deutlich macht: In den unteren Schulklassen taucht irgendwann ein Neuling auf, der Eddy sehr ähnelt, ein neues Opfer, eine neue Schwuchtel. Eddy überlegt auf diesen Jungen zuzugehen, er könnte ihm sagen, was er sich selbst so verzweifelt von irgendjemandem einmal zu hören gewünscht hätte, Du bist nicht allein, und vielleicht sogar könnte er, indem er mit jemandem die Schande teilt, zum ersten mal einen echten Freund gewinnen. Aber die Versuchung, endlich die schwer auf den Schultern lastende Schande, anstatt sie zu teilen, billig an einen anderen loswerden zu können, ist zu groß: Als der Neue ihm auf dem Schulflur entgegenkommt, schreit auch Eddy Arschficker.
Welche Urteile jedoch über all das zu fällen sind, das überlässt Louis allein der Leserschaft – er selbst liefert nur einen Stapel detailliert verfasster Steckbriefe.

Im kurzen Epilog schildert Louis die Zeit seines Ankommens in Paris. Immer wieder während des Lesens, besonders aber in diesem Nach-Schluss, versetzen mir kleine Beobachtungen, die Louis mit seinem präzisen Blick und seiner klaren Sprache wiedergibt, einen Stich, denn ich erkenne vieles daran wieder.
Ich will betonen, dass sich meine Kindheitsgeschichte von der Eddys unterscheidet – mein Elternhaus war ein bedingungslos verlässliches und liebevolles, an Aggressivitäten oder gar Schläge wäre nie auch nur zu denken gewesen, außerdem mangelte es keineswegs übermäßig an Materiellem. Es geht mir hier aber um das Erkennen des beklemmend starken Kontrasts zwischen den einfachen Verhältnissen, aus denen man stammt, und dem Umfeld, in das man später durch Schule oder Beruf hineinkommt, ohne zu wissen, wie man sich darin bewegen soll, ohne einschätzen zu können, welchen Gebrauchswert die eigenen Erfahrungen darin überhaupt noch haben, ohne zu verstehen, wie das eigene Reden und Handeln hier wohl verstanden werden mag.
Erst, indem man anderes kennenlernt, beginnt einen das, was man kennt, was man ist, in eine verunsicherte Haltung zu zwingen. Unscheinbar anmutende Szenen und Detailbeschreibungen mit großer Signalkraft zeugen von diesem Umschlagen der Selbstbetrachtung und verraten die Aufrichtigkeit des Geschriebenen.
Mit seinem Schritt von der Provinz nach Paris stolpert Eddy von der einen Außenseiterrolle in die nächste hinein: Er passt ebensowenig in Paris ins gutbürgerlich geprägte Umfeld, das er mit geradezu ungläubigen Neulingsaugen erforscht, wie zuvor in die Dorfgemeinschaft. Dennoch findet er, gerade indem er sich diesem Kontrast aussetzt, den Weg zu seiner eigenen Identität. Die Freiheit dazu wird ihm in Paris jedenfalls erstmals gewährt.


> Édouard Louis, Das Ende von Eddy (Fischer)

PROVINZLEBEN > Dorf!

Da denkt man einmal nicht drüber nach und bemerkt im Nachhinein, dass man doch glatt einem Trend gefolgt ist:

Der moderne Mensch will partout ins Grüne. Seit Jahren grassieren in Feuilleton und Sachbuch Berichte über die Neuentdeckung des Landlebens. Es hat sich eine eigene Sparte von Zeitschriften etabliert, deren Sujet eine idealisierte, bisweilen reichlich verkitschte Form des Landlebens ist. Lebensmittel werden epidemisch mit dem Präfix Land- etikettiert. Auch musikalische Zeugnisse von Großstadtmüdigkeit und Sehnsucht nach ländlicher Einfachheit häufen sich.

Vor unserem Wechsel von Kiel nach Hannover kam, nach dem wie üblich nervtötenden Verlauf, den eine Wohnungssuche eben so nimmt, irgendwann der Tag, da uns der Rappel packte. Schluss, aus – keine Lust mehr auf überteuertes Wohnen in beengten Stadtverhältnissen mit tendenziell kinderfeindlicher Nachbarschaft. Und siehe da, nach einigen urbanen Jahren wohnen wir nun also in einem umgebauten Bauernhof.

Fachwerk, roter Backstein, Kopfsteinpflaster. Rechts ein Pferdestall, links die Wohnungen, mittig eine große Scheune und im Innenhof ein mächtiger Kastanienbaum. Der riesige Garten ist eher ein Stück abgeteilter Brachwiese, hinterm Zaun beginnen gleich die Pferdekoppeln – wir sind hier schließlich in Niedersachsen. Störche nisten auf alten Schornsteinen, hinter den Giebeln hausen Mäuse, Marder, Fledermäuse, Schleiereulen. Flüsse und Bäche durchwinden eine pfannkuchenplatte Landschaft aus Weideflächen und Feldern von Weichweizen, Futtermais, Zuckerrüben, Raps, woraus als einzige Landmarke die Kali-Abbau-Halde hervorsticht, ein gewaltiger Steinsalz-Berg, der bei Schlechtwetter die Farbe von Weiß-Grau zu Schwarz wechselt; ein Dorf voller Bergleute und Bauern. Beim Autofahren muss man freilaufende Hühner beachten und höllisch auf die Massen überall herumschleichender Hof-Katzen aufpassen. Die Zahl frei umherstreunender Dorfhunde ist in den letzten zehn Jahren wegen der zunehmenden Autozahl im Dorf auf Null gesunken, doch ansonsten hat die Zeit an diesem Ort in vielen Bereichen kaum ihre Wirkung getan. Die Klänge, die die Ruhe begleiten, sind das Muhen, Schnurpsen und Schnaufen der Kühe, die ewig krächzenden Krähen-Horden, regelmäßig ein dröhnender Trecker, Vogelgezwitscher, Hähne rufen Kikeriki; später im Jahr Grashüpfergezirp, Froschquaken, Mähdrescherbrummen.

Man könnte uns nun für ökoromantische Hipster halten oder für einen Teil jenes grünen Wohlstandsbürgertums, das zwecks naturnahen Lebens massenweise in malerische Dörfchen abwandert. Und: Wäre nicht tatsächlich etwas dran an der Idylle, wären wir ja nicht hier. Nur käme ich nie auf die Idee, als Neuling plötzlich zum Landleben zu wechseln, und auch als Landkind würde ich nicht in ein Dorf ziehen, aus dem ich nicht ursprünglich selbst komme. Ich meine das ernst: niemals.

Hier jedoch bin ich geboren und aufgewachsen, meine Familie ist mehr als alteingesessen: Hier kann (und will) mir keiner was. Es spielt dabei keine Rolle, dass ich, wie der Rest meiner Familie seit jeher, nie mit Freiwilliger Feuerwehr, Schützenverein oder Kirchengemeinde zu tun hatte. Auch die Jahre, in denen ich weg war, entscheiden nicht über die Dorf-Identität. Das regelt ein etwas eigenwilliges, archaisches Geburtsrecht, das sich übrigens auch auf meinen Mann erstreckt, der zwar selbst wohl recht dauerhaft Der-Mann-von-der-Tochter-von bleiben wird, aber trotz fehlender Einbindung ins Vereinswesen nicht als Fremdling zählt. Wir können einen noch so eigenen Kopf haben und als Sonderlinge auffallen – da die Familie über mehr als drei Generationen mit dem Ort verbunden ist, besteht ein unverrückbares Dazugehören auch abseits des Überall-Dazugehörens. Automatisch und ungefragt als Teil des Ganzen vereinnahmt zu werden: Einerseits ist es das, was einen besonders im jugendlichen Alter am Dorfleben in den Wahnsinn treiben kann, andererseits sorgt dieser Mechanismus für ein Klima, in dem auch seltsame Figuren irgendwie besser gedeihen und eine selbstverständlichere Duldung erfahren als andernorts, wo sie zur Rechtfertigung ihrer Eigenarten schon mehr als nur den Familienstammbaum abliefern müssten. (Dass trotzdem getratscht wird – immer, über jeden, von allen -, muss einem klar sein.)

Ich selbst bin bis heute Dörchens Lütsche (die Kleine bleibe ich wohl noch bis Ende 40). Über seine Urgroßmutter definiert zu werden ist hier völlig normal. Außerdem kannte jeder Dörchen, und eine sehr bezeichnende Episode für die Gepflogenheiten in diesem Dorf ist jene, wie meine Mutter und ich einmal auf dem Friedhof (op´n Kaarkhof) am Grab meiner vor Jahren verstorbenen Urgroßmutter standen und uns plötzlich zum ersten Mal aufging, dass dort eigentlich gar nicht Dörchen eingraviert stehen dürfte – schließlich war ihr Name Dora. Weder der Dorf-Arzt, der den Totenschein mit dem Kosenamen ausfüllte, noch der Steinmetz, der Bestatter oder die Pastorin (geschweige denn die restliche Dorfgemeinschaft) wäre je auf die Idee gekommen, dass daran irgendwas nicht stimmen könnte. Befreundet war meine Urgroßmutter übrigens auch mit der Familie, der dieser Hof gehört, auf dem wir nun wohnen. In meinem jetzigen Wohnzimmer ging sie also schon vor 90 Jahren ein und aus. So ist das hier eben.

Die Gentrifizierung werden wir hier wohl nicht einläuten. Doch wer weiß – der Speckgürtel der nahen Großstadt weitet sich zunehmend ins grüne Umland aus, bis statt Gülle und Idylle sterile Neubauviertel und hochglanzrenovierte Althöfe das Bild bestimmen werden. Auch in diesem Dorf gibt es sie schließlich schon, die großstädtisch aufgewachsenen Akademiker, die sich hier niederlassen um vergessene Nutztierrassen nachzuzüchten, und die ersten Bauherren von außerhalb, die die Grundstücke von Bauern aufkaufen, die aus Alters- und finanziellen Gründen ihre Höfe nicht mehr bewirtschaften. Und wir? Ziehen die Gummistiefel schließlich auch nur zum Spazierengehen an.


Bilder: aus meinem Dorf und meinem Urgroß-/Groß-/Elternhaus (Grebe 2015)


PROVINZLEBEN > Tom´s Country

Way Back Home Sonja Grebe

Zum Bild des amerikanischen Nirgendwos entlang endloser Highways zählte während der 50er Jahre die massive Werbe-Beschilderung für eine bestimme Rasierschaum-Marke: Ein Kommerzgedicht, je Zeile ein Schild – als Schlusspunkt ein großes Logo-Schild von Burma Shave. Indirekt funktionierte Burma Shave so als Maßeinheit für abgerissene Autokilometer in eintöniger Weite. Wo Trostlosigkeit und Billigpoesie aufeinandertreffen, bestehen natürliche Biotope für Tom Waits´ Figuren. Reflexhaft verbindet man mit Waits das abseitige Großstadtleben als sein klassisches Sujet; seine bittersüßen Dramen und kaputte Romantik findet er jedoch ebenso in einsamen ruralen Gegenden, in Kaffs und Kleinstädten, zwischen Farmen und Fabriken.

Hell, Marysville ain´t nothing but a white spot in the road/ Some nights my heart pounds just like thunder/ I don´t know why it don´t explode/ ´cause everyone in this stinking town has got one foot in the grave/ and I´d rather take my chances out in/ Burma Shave

(Meine Lieblingsversion dieses Songs – der miesen Bild-/Tonqualität zum Trotz.)

Mag sein, dass es eine Zeitungsmeldung war, die Waits diese Autounfall-Episode hat erzählen lassen; beim notorischen Geschichtenerfinder bleibt absichtlich meist offen, wie sich die Anteile von Erfundenem und Verbürgtem in seinen oft authentisch erscheinenden Song-Geschichten zueinander verhalten. Das Städtchen Marysville jedenfalls gibt es: Benannt ist Marysville nach Mary Murphy Covillaud, einer Überlebenden der Donner Party, einer Siedlergruppe, die im Winter 1846/47 in der Sierra Nevada nur durch Kannibalismus überlebte. Im Kalifornischen Goldrausch war Marysville ein wichtiger Ort auf dem Weg in die nördlichen Goldfelder. (Wikipedia)

Waits selbst wuchs in einem mittelgroßen Städtchen in Kalifornien auf. Nach reichlich wilden Jahren in Los Angeles und dem völlig aus dem Ruder gelaufenen Versuch, in New York ein glückliches Leben zu führen, lebt er inzwischen seit Langem mit seiner Familie auf einem abgeschotteten Farmgelände in Nordkalifornien. Dort, mitten im Burma Shave-Nirgendwo, hat er seinen Fernseher im Garten beerdigt, beobachtet gern die Truthahngeier und Opossums und tobt sich an einem, von ihm Conundrum getauften Schlagistrument aus, das er sich von einem Nachbarfarmer aus Metallschrott-Funden zusammenschweißen lassen hat. Die provinzielle Ödnis kann ihre gute oder ihre schlechte Wirkung tun, kann sich lähmend auf die Seele auswirken oder Ruhe und Freiraum schenken.

I went down to town. I lost all my mind. I´m not going down there no more.

(Den fehlenden Rest dieser Doku konnte ich leider nicht ausfindig machen – wäre sicherlich lohnend.)


Bild: Ausschnitt aus Way Back Home (Grebe, 2012) mit einem Zitat aus Blind Love von Tom Waits: They say if you get far enough away, you´ll be on your way back home. (Die Erde ist schließlich ein kugelrundes Ding – aber nicht nur das ist gemeint.)