POTPOURRI DER GEFÜHLE > Schlaglöcher

Schlaglöcher

Erinnern Sie sich an das unruhige Quirlen eines ganz neuen, unverbrauchten Verliebtseins? Wie anstrengend! Erschöpfend, nicht wahr?
[Die Stimme, sagt er, die Stimme sei es gewesen, die ihn damals endgültig von den Füßen geholt habe. Erlegt wie einen Hasen. Denn nichts anderes ist Liebe ja: eine Jagdveranstaltung. Zunächst also eine ziemlich archaisch-brutale Sache, das ganze, und erst wenn eine solche Episode einen selten glücklichen Verlauf nimmt, nennt man das dann Romantik – aber wo war ich gerade? Ich bin meinerseits damals in diese unschuldige Jagdfalle gegangen, die sein Lachen war, so ein Lachen, das sich wie eine leuchtend warme, summende Grube vor mir auftat, und weg war ich.]
Mit der Zeit beruhigt sich die Lage, früher oder später.
[Es vergehen 10 Jahre, 15 Jahre, keiner hat’s gemerkt, und plötzlich ist man eines dieser Jubiläumspärchen und miteinander siamesisch verwachsen, ein festes Gespann, ein Traditionsgebilde. Manche mit Kind, manche ohne, je nach Schicksal bzw. Geschmack. Auch einen solchen geglückten Verlauf nennt man dann Romantik. Andere sind inzwischen längst getrennt oder gerade dabei.]
Und was kommt dann?
[18 Jahre vergangen, keiner hat’s gemerkt, und plötzlich sind wir eben nicht mehr 19 Jahre alt, wir sind so viel älter und so unturbulent geworden, du liebe Güte, wir sind, was man gemeinhin erwachsen nennt, oder? Das kann man meinetwegen Romantik nennen, aber in erster Linie steht dahinter ein Haufen Arbeit. Ich meine Herzschläge, die zehren. Und Zufallsglück, klar.
Und die Sache ist auch die, dass es der Zweieinigkeit durchaus förderlich sein kann, wenn das Leben draußen seine volle Scheußlichkeit ausspielt – draußen bei der Arbeit, draußen auf dem Wohnungsmarkt, draußen auf dem weiten Feld des Zwischenmenschlichen usw. Wenn man dann ein Wir sein kann, so ein Wir, das gegen diese Scheußlichkeit schützt, dann ist das mitunter zwar ein reichlich pragmatischer Zusammenhalt, aber nennen Sie das ruhig auch einmal Romantik, oft genug ist es das nämlich wirklich. Die Sache mit uns ist also die, dass wir traditionell immer genug Scheußlichkeit um die Ohren hatten, dass uns deswegen gar nicht, oder höchstens einmal flüchtig, in den Sinn gekommen wäre, einander als scheußlich zu empfinden.
Und jetzt? Ist das Leben – keiner hat’s gemerkt – plötzlich um eine oder auch zwei Stufen angenehmer, unkomplizierter, weniger scheußlich geworden, verglichen mit dem Stand der Dinge, den wir traditionell gewohnt waren.
Fragt sich nun: Was soll man auf einmal anfangen mit dieser Unscheußlichkeit?
Plötzlich stellt man fest, glücklich zu sein. Man kann einfach so glücklich sein, sehr gut kann man das sogar, sieh mal einer an. Man streitet sich plötzlich um diese belanglosen Dinge, wie das auch andere stinknormale Pärchen so tun, wer den Müll rausbringt und solche Sachen, ja, und das ist dann auch schon alles, herrlich!
Warum bitteschön nennt man Langeweile, was in Wirklichkeit doch vielmehr eine durch haufenweise Arbeit und eine Menge Zufallsglück erreichte Romantik ist? Ach was, Seligkeit ist das! Was sollte jetzt, was sollte hier schon noch Scheußliches auf uns lauern, sag mal?]
Na, neue Turbulenzen, andere Turbulenzen natürlich. Was dachten Sie denn?
[Dass alles so bliebe, so unscheußlich, so unturbulent, ist ja reines Wunschdenken. Mach ein Foto von unserem Esstisch zur Abendbrotzeit – diese ruhigen, gemeinsamen Abendstunden jetzt, die wir so lieben – und schon hast Du ein monochrom Banketje, eins dieser schlichten Mahlzeitstillleben, die Zufriedenheit nachzeichnen und zugleich Wehmut vorwegnehmen. Es ist alles eitel… Wenn uns nun doch irgendwann einmal die Ernüchterung einholen kommt? Die Langeweile? Was, wenn wir bloß dachten, die Jagdveranstaltung sei für uns gelaufen, und Dich, wer weiß, wieder eine Stimme von den Füßen holt, aber eine andere diesmal?
Wie lange schlafen Scheußlichkeiten für gewöhnlich?
Es gibt am Ende immer was zu fürchten. Und zu lieben genauso.]


Bild: Grebe 2020

POTPOURRI DER GEFÜHLE > James Gordon Farrell, Troubles

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Weil von mir glücklicherweise niemand verlangt, ich müsse bezüglich meiner Kriterien irgendeine Art von Objektivität walten lassen, kann ich Ihnen direkt sagen, dass ich Romane, die 500seitig daherkommen und als Sittengemälde ausgewiesen werden, nur äußerst selten in die Hand nehme. Noch seltener kommt es vor, dass ich einen betreffenden Wälzer obendrein so herzlich liebgewinne, wie nun also diesen hier.
Stellen Sie sich feuchte Küstenluft vor, in die sich der Rauch von Torffeuern mischt; eine karge Gegend, nichts als Gras, Moos, Fels und Wasser. Und mitten hinein denken Sie sich jetzt bitte eine krachend überproportionierte Bruchbude mit hunderten von Zimmern voller Stuck, Samt und Edelholz, Motten, Wurmfraß und Schimmel. Und darin: Menschen, die zu Tee sitzen, während gusseiserne Badewannen durch morsche Zwischendecken rauschen.
Troubles erschien 1970 als erster Teil der Empire Trilogy, in der Farrell die Zerfallsprozesse des Britischen Weltreichs zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg zum Tanzparkett seiner Figuren macht – hier nun den Irischen Unabhängigkeitskrieg von 1919 bis 1921.
Ja, genau: vor 100 Jahren. Beschrieben in einem 50 Jahre alten Roman. Und das klingt dann mitunter so, als lausche man einer ziemlich heutigen Unterhaltung über den Brexit:

The Major only glanced at the newspaper these days, tired of trying to comprehend a situation which defied comprehension, a war without battles or trenches. […] O’Neill was now saying confidently that there was no need to worry. „All this will be cleared up now within five or six weeks, you can take it from me.“ […] „Yes, yes, to be sure,“ agreed the Major dubiously. „It must end soon. That’s what we used to say in the trenches,“ he added with a faint smile. „Of course, of course, “ O’Neill said, failing to perceive the Major’s irony. 

Heute ist die Union freilich eine andere und nicht die Republik Irland diejenige, die rauswill, sondern Großbritannien, oder besser Britannien, oder wie auch immer – während der Streit um etwaige Grenzverläufe derselbe ist.
Die „trenches“, die der englische Major erwähnt, sind die des Ersten Weltkriegs, denen er nicht ganz unbeschädigt entrinnen konnte. Mit dem Zivilleben holen ihn auch zivile Themen wieder ein. Angela Spencer zum Beispiel, die der Major – mit zivilem Namen Brendan Archer – 1916 während eines kurzen Heimaturlaubs in Brighton kennenlernte, Turteleien inbegriffen. Drei Jahre lang schrieb die Tochter eines Hoteliers Liebesbriefe und unterzeichnete diese stets als „Your loving fiancée“, was den Major stets milde erstaunte, aber sei’s drum – in der Absicht, die Verhältnisse zu klären und gegebenenfalls eine Hochzeit vorzubereiten, macht sich der nach Fronteinsatz und langem Klinikaufenthalt nun einigermaßen genesene Major im Sommer 1919 auf den Weg nach Kilnalough, Irland, dem Wohnsitz seiner mutmaßlich Verlobten.
Dabei ist die eigentliche Heimat der englandtreuen und erzprotestantischen Spencers weniger das strukturschwache Küstenstädchen Kilnalough selbst – ihr Leben findet hauptsächlich im Majestic statt, dem familieneigenen Prachthotel, dessen Fassade und scheinbar endlose Masse an Zimmern dem Namen eindeutig gerecht werden. Eine isolierte Festung, bewacht von der Bronzestatue Queen Victorias, die den Gästen, aber ebenso den irischen Bediensteten anzeigt, welcher Geist hier herrscht. Das Majestic ist – Sie ahnen längst, wie diese Geschichte funktioniert – natürlich mehr als ein bloßes Hotel: Es ist ein steinernes Manifest anglo-irischer Überheblichkeit, gelegen auf dem höchsten Punkt einer schmalen Halbinsel, von wo aus es sich recht angenehm auf die niederen Reviere des Katholizismus herabblicken lässt, und der Patriarch Edward Spencer führt diesen Klotz mit ähnlichem Habitus und in ganz ähnlichen Strukturen wie ein Feudalherr.
Nur, die pompöse Residenz hat ihren Zenit längst überschritten. Als der Major in Kilnalough eintrifft, lernt er das Majestic bereits als faulenden Apfel kennen. Es erreicht seit Jahren keine Auslastung mehr, schreibt nur noch rote Zahlen und sein guter Ruf verfällt parallel zur Bausubstanz. Im Pool wuchern Seerosen, Katzen ergreifen Besitz von ungenutzten Gesellschaftsräumen. Was der Major für Sommergäste hält, erweist sich als eine Schar alter Damen, die wegen ihrer jahrelangen Haustreue von Edward längst als Familienangehörige behandelt werden und, seit ihre Gelder bedauerlicherweise irgendwann aufgebraucht waren, stillschweigend freie Kost und Logis genießen. Nicht zuletzt Edward selbst, den man hier schnell als den (unfreiwilligen) Bannerträger britischer Schrulligkeit identifiziert, trägt seinen Teil zur Vanitas-Atmosphäre bei: Der Witwer ist ein emotionales Pulverfass, bewegt sich zwischen cholerischen Ausbrüchen, Jovialität und Schwermut, er widmet sich exzessiv seinen Hunden und Schweinen, versucht sich auch mal als Erfinder und ignoriert stets die Bedürfnisse seines Hauses und die seiner Kinder. Ein stattlicher, löwenköpfiger, bärbeißiger Unglücksvogel, dessen Verstand nach und nach genauso erodiert wie Haus und Empire.
Und der Major, dessen ziviler Name in diesen Roman beinahe nie Erwähnung findet? Der kommt ursprünglich als Besucher, und bleibt dann lange, lange, wie einst Hans Castorp, nur dass sich diesen Zauberberg eher Monty Python hätten ausdenken können. Es mag seinem soldatischen Wesen geschuldet sein, dass der Major im Majestic sofort dem Gefühl aufsitzt, sich vielmehr im Einsatz anstatt an einem Erholungsort zu befinden. Und Edwards Feldherrenmanier unterstützt diesen Eindruck nach Kräften. Dem Hausherren kommt ein qualifizierter Kampfgefährte gerade recht, sowohl in der Schlacht um den Erhalt des maroden Hauses, als auch zur Verteidigung gegen die überall lauernden (oftmals imaginären) „Shinners“, wie die Partisanenkämpfer von Sinn Fein hier genannt werden. Schon die erste Begegnung der beiden verläuft militärisch druckvoll – kaum dass der Major seinen ersten Schritt ins Majestic getan hat, zerrt Edward ihn sogleich an die Front.

[…] now they had reached Edward’s study, a room smelling strongly of dogs, leather and tobacco. It turned out to contain a staggering amount of sporting equipment piled haphazardly on an ancient chaise-lounge scarred with bulging horsehair wounds. Shotguns and cricket stumps were stacked indiscriminately with fishing-rods, squash and tennis rackets, odd tennis shoes and mildewed cricket bats. „Take your pick. More in the gun room if those won’t do. You’ll find the ammo over there.“ Edward pointed at a drawer which had been removed from a sideboard and was lying on the floor beside the empty, blackened grate. A huge and shaggy Persian cat was asleep on the pile of scarlet cartridges it contained, scarcely bothering to open its yellow eyes as it was lifted away and deposited on a brass-mounted elephant’s foot. By now they had been joined by two or three other men in white flannels who were also rummaging for ammunition to suit their respective firearms; evidently a tennis match had been in progress. The Major, who had no intention of shooting anyone on his first day in Ireland if he could possibly avoid it, tugged dubiously at a .22 rifle which had become entangled with a waterproof wader, a warped tennis racket and hopelessly tangled coils of fishing-line.

Bis unters Dach Unordnung, unzurechnungsfähige Männer, Katzen, Katzen, Katzen. Wohl oder übel – der Major betrachtet das Haus von Beginn an als Objekt seines Pflichtgefühls, als eine Stellung, die es zu halten gilt, und er bleibt. Er bleibt viel länger als Angela. Er bleibt so lange, dass er irgendwann selbst der Schicksalsfamilie aus gestrandeten Gästen und Gastgebern angehört; auch er genießt stillschweigend freie Kost und Logis, und ebenso stillschweigend nimmt er nach und nach die Verantwortung für das Majestic und seine Bewohner in die eigenen Hände.
Die Troubles um die Unabhängigkeit Irlands wüten unterdessen landesweit. Im Majestic spürt man davon wenig – von Edwards hysterischen Scheingefechten einmal abgesehen. Bis es für die anglo-irische Filterblase reell gefährlich wird und an der Frühstückstafel kein Besteck, sondern Revolver neben den Tellern liegen (die entsprechende Munition in den Zuckerdöschen), dauert es ganz schön lange. Doch was sich in der Zwischenzeit innerhalb des Hauses an Unruhen ereignet, das entspricht durchaus den großen Geschehnissen, gespiegelt auf kleinkosmischer Ebene. Hier toben Stolz, Verzweiflung, Sehnsucht, Trauer, Liebe, Anstand, Begehren und Hass auf engstem Raum. Es ringen verschlagene, nachtsichtige Katzen mit treuherzigen, blinden Hunden um Revieransprüche. Es wird scharf geschossen, geliebt, gelitten, geblutet, sich geschämt, sich amüsiert, sogar gestorben. Draußen wird Queen Victoria auf ihrem Ehrenplatz in der Hotel-Auffahrt angegriffen – drinnen wird eine lange nicht beachtete Marmor-Venus vom Staub befreit. Die Spencer-Kinder – Bruder Ripon, sowie die stets brandgefährlichen Zwillingsschwestern Faith und Charity – bescheren Edward graue Haare, indem sich ihre amourösen Absichten weder um konfessionelle Grenzen noch Anstandsregeln scheren. Und während Angela, des Majors ziemlich antriebslose „loving fiancée“, zunehmend kränkelt, kommt im Gegenzug deren liebste Freundin, die irische, katholische Sarah, nach einer ominösen Bettlägerigkeit Stück für Stück wieder auf die Beine, und diese Beine, ach!, haben geradezu bezaubernd zart-zierliche Waden! Wobei es aber dann doch eher der bezaubernde, herrische Kopf ist, der dem Major das Leben schwer macht. Sarah ist seine große, private Herausforderung. Um nicht zu sagen Schlacht. Fehlt sie ihm in seiner Nähe, läuft der ansonsten doch sehr kampferprobte Major kläglich aus dem Ruder.

He mastered with difficulty a great explosion of rage […], but he knew that the real reason for his irritation was the deprivation of Sarah’s company, for which, feverish and vulnerable, he felt an acute longing.

Schlimmer ergeht es ihm eigentlich nur, wenn die irrlichternde Sarah in seiner Nähe IST. (Sie kennen das vielleicht?)
Der letzte Winter im Majestic lehrt die Hausgemeinschaft bereits das Fürchten und den Major das Leiden, aber das ist noch nichts gegen den kommenden Frühling, der zum großen, apokalyptischen Feuerwerk (der Gefühle) gerät, und ich wünschte sehr, Rowan Atkinson hätte all dies dereinst verfilmt als Blackadder-Serienspecial, ja, das wäre wundervoll gewesen, aber egal jetzt – diese Geschichte ist extrem unterhaltsam, tiefgründig, anrührend und genügt sich selbst, vollauf.


> James Gordon Farrell, Troubles, Teil 1 der Empire Trilogy; die Originaltitel der Teile 2 und 3 lauten The Siege of Krishnapur und The Singapore Grip


Foto: Grebe 2016

POTPOURRI DER GEFÜHLE > Hass

Stellen Sie sich einmal eine Parabel vor. Nein, keine literarische jetzt. Sie erinnern sich – 10. Klasse, Funktionsgleichungen usw.: ein U-förmiger Graph, dessen gebogene Arme spiegelgleich verlaufen und im Scheitelpunkt zusammentreffen. Zeichnen Sie also auf ihr gedankliches Kästchenpapier nun bitte ein Koordinatensystem und eine darin nach Belieben angelegte Parabelkurve. So. Und die eine Parabelhälfte versehen Sie mit dem Wörtchen Liebe. Und die andere mit dem Wörtchen Hass.
Wozu diese Übung? Weil wir ständig ignorieren, dass die beiden Geschwister sind. Der Hass ist der schwarze Zwilling der Liebe. Im Ernst! Die beiden teilen ein und denselben Ursprung, nämlich den Magmakessel des Elementaren. Was auch immer in der Lage ist, unsere Liebe / unseren Hass auf sich zu ziehen, besitzt eine existenzielle Qualität, es beschäftigt uns mit äußerster Intensität, es lodert in den Tiefen der Knochen, nimmt uns vollständig in den Griff und quetscht ungeahnte Energien aus uns hervor – selbst unsere Ängste verkriechen sich lieber in ihre Mauselöcher, wenn wir auf dem Rücken eines solchen Gefühls anmarschiert kommen.
Ich glaube, dass nur, wer auch wirklich lieben kann, die Fähigkeit zu wirklichem Hass besitzt. Denken Sie an die Spiegelgleichheit: Wenn Sie nicht wissen, wie es sich anfühlt, etwas mit der Kraft einer Kernschmelze zu lieben – wenn Sie einen solchen Grad von Intensität also nie kennengelernt haben, dann erreichen Sie den auf der Hass-Skala genauso wenig. Dann haben Sie gewissermaßen nicht das Zeug dazu.
Oftmals spricht man von einem Hass, der plötzlich um sich greife oder überkoche, und meint damit oftmals eigentlich den Zorn – der einem wilden Impuls entspringt und somit eher als der böse Zwilling des kopflosen Begehrens gelten kann. Während der Zorn ein explosiver, blindwütiger Geselle ist, der mitunter ebenso spontan wieder verraucht wie er sich entzündet, ist der Hass ein unsterblicher, konzentriert arbeitender Gott. Hass ist, wie die Liebe, hartnäckig und gezielt auf wenige, bestimmte Personen gerichtet. Der Zorn / das Begehren sind da viel flexibler.
Manchmal lese ich so Kommentar-Ketten auf Twitter, Sie wissen schon, die so vor Gift und Geifer triefen, dass Sie direkt glauben, aus dem Gerät, mittels dessen Sie sich da durchscrollen, müsste es tropfen, eine ordentliche Pfütze voll. Manchmal schaue ich mich argwöhnisch auf diesen Internetseiten um, die sich ganz legal der Romantik von Grundgesetzabschaffung und Menschenvernichtung widmen. Manchmal gerate ich auf einem Parkplatz, in einer Kassenschlange, in der Fußgängerzone, im Zug, im Schwimmbad – suchen Sie’s sich aus – in eine dieser unsäglichen Pöbeleien hinein, die offenbar so untrennbar zum Leben dazugehören wie Zähneputzen oder Noroviren, und mir ist klar, dass ich vor allem deswegen unverletzt und (mit Glück) unbespuckt aus solchen Angelegenheiten hervorgehe, weil ich weder dunkelhäutig, schwarzhaarig, sichtbar religiös oder Rollstuhlfahrerin bin, noch Greta-Zöpfe, Merkel-Blazer oder irgendeine Form von Arbeitskleidung trage, weil ich in einer allgemein ziemlich gnädigen Stadt wohne und bislang auch einfach – denn als mittelgroße Frau ziehe ich meistens den Kürzeren, was das körperliche Kräfteverhältnis anbelangt – Glück hatte.
Verrohung, Hate Speech, hassmotivierte Angriffe auf Mitmenschen, ach, diese flächendeckend präsente Hass-Massenware, dieser ganze, quicklebendige Hass-Mainstream – was taugt der Begriff Hass überhaupt, um das ganze einzuordnen? Ich meine, wo es doch zu einem so beliebten Hobby, zum Breitensport geworden ist, willkürlich seine Mitmenschen – direkt oder anonym, in echt oder in Internetland – mal eben anzugreifen, aus Bock, verbal, brutal, illegal, scheißegal?
Hass ist ein Gefühl. Ein furchtbar intensives. Eines, das sogar dem Hassenden selbst eine Qual ist. Der reaktive Hass ist ein genauso zielgebundenes, genauso unwillkürliches Gefühl wie die Liebe.
Indessen ist die Sache mit den Gefühlen immer, von Natur aus, eine etwas diffuse, klar. Wenn man nun aber alles, was auf irgendeine Weise laut, böse, gewaltlüstern ist, mit dem Wörtchen Hass versieht, macht man aus einer diffusen Kategorie eine beliebige. Vor allem jedoch gibt man Leuten, deren einzige Freude es ist, sich mit der Aggressivität eines besoffenen Rottweilers an der Gesellschaft auszutoben, damit eine besondere Rechtfertigungsbasis: Gefühle kommen ja nicht aus dem Nichts – sie werden hervorgerufen! Von ETWAS hervorgerufen, klar? Unsere Gefühle sind wichtige Zeugen! Unsere Gefühle sind Reporter, deren Berichte Ihre werte Aufmerksamkeit verdienen, denn sie dokumentieren die Lage in den Krisengebieten, die unser Alltag sind, kapiert? Unsere Gefühle sind Botschafter im Auftrage unserer geschundenen Seelen, jawohl, also besitzen sie quasi diplomatische Immunität, merkt Euch das, Ihr F*#§%+!
Überlegen Sie, wie furchtbar praktisch es doch ist, eine Regung der niedersten Triebe – reine Gewaltlust nämlich – zum Ausdruck eines tief empfundenen und zutiefst menschlichen Gefühls zu erklären, um nicht zu sagen: zu veredeln. Sehen Sie mal, was für schamloser Mist plötzlich Validität erlangt, indem er als Gefühlsausdruck verkauft wird!
Menschen haben Gefühle, gute, böse, verwirrende. Das ist der Ausweis des Menschlichen schlechthin. Aber wissen Sie: Wer es mal eben so zwischen dem Frühstück und der Runde mit dem Hund, oder beim Schwätzchen mit KollegInnen, oder in der Kassenschlange im Supermarkt, oder zu Tisch bei einer Familienfeier, oder – Sie wissen genau, was ich meine: Wer es mal eben so zwischen zwei Schlückchen Kaffee fertigbringt, seinen Mitmenschen zu sagen, sie sollen doch bitteschön durchgefickt, gehäutet, an die Wand gestellt werden oder zusehen, wie ihre Kinder am Spieß braten, der hat alle möglichen Probleme, aber Gefühle hat er keine. Selbst Hass wäre dafür ein zu großzügiger Begriff. Gefühle sprechen an dieser Stelle nicht aus dem Menschen – da zeigt sich im Gegenteil, dass sie fehlen, die Gefühle, da sind weit und breit keine in Sicht. Da ist bloß Bock auf Tollwut, Lust auf billige Gewalt, kopfloser Hau-drauf-Instinkt. Und das, Leute, genau dieses Fehlen von Gefühlen, ist der Ausweis des Unmenschlichen, und sonst gar nichts.