Kann man Menschen portraitieren, einzig indem man in Details und Fragmenten über sie und ihre Gegend redet, indem man nur von ihren Kleinigkeiten erzählt, den Grasbüscheln in ihren Gärten, den Plastikkränzen auf ihren Friedhöfen, den Flecken auf ihren Handschuhen? In Banatsko, ihrer stillen Betrachtung des nördlichen Banats, unternimmt Esther Kinsky diesen Versuch – mit durchwachsenem Ergebnis.
Vor rund zehn Jahren zog es Esther Kinsky zu einer Recherchereise ins Banat, eine vom Vergessen bedrohte Kulturregion, die Ungarn, Rumänien und Serbien miteinander verbindet. Zuvor hatte die Slawistin, die vorrangig als Übersetzerin für polnische, russische und englische Literatur arbeitet, fünfzehn Jahre lang in London gelebt – der Kontrast zu den einfachsten Lebensverhältnissen im Banat könnte schwerlich größer sein. Dennoch wählte sie dort, im Banat, ihr zeitweiliges Zuhause: nahe der rumänischen Grenze, im südungarischen Battonya. Kinsky lebt heute im Wechsel in Battonya und Berlin.
Banatsko ist das serbische Adjektiv zu Banat. Das alte, gelbe Haus, in das die Erzählerin (wahrscheinlich Esther Kinsky selbst – das bleibt jedoch uneindeutig, aber auch unwichtig für das Erzählte) einzieht, gehört zu einem Straßenzug, der einst ganz serbisch war. In dem Haus hatte die Tante ihres Nachbarn gelebt, eines alten Serben. Die Rumänen kommen regelmäßig über die Grenze um Fleisch zu kaufen, die Ungarn verkaufen ihre Zigaretten auf rumänischen Märkten. Serben, Ungarn, Rumänen begegnen sich allenorts, heiraten untereinander, streiten miteinander, erzählen einander Geschichten während lang andauernder Zugfahrten. Stetig sind so die drei Sprachen präsent, worauf Kinsky, die Übersetzerin, oft ihre Aufmerksamkeit richtet.
Das ungarische Wort für Grenze ist határ. (…) Trotz des scharfen Wortes ist die Vorstellung vom Grenzverlauf abseits der scheinwerferbeleuchteten Grenzübergangsstellen nicht genau. Man erzählt sich gern Geschichten über Begebenheiten in Zusammenhang mit der Grenze wie über ein Fabeltier, das dort draußen im Ungewissen schlummert.
Wie die Staatsgrenzen erinnern auch die Abgrenzungen zwischen dem Gestern, Heute und Morgen an eine Schlange, die ihre Linienform nur gelegentlich sichtbar werden lässt, indem sie auf dem Weg von einem Dickicht zum nächsten eine seltene Lichtung überquert. Es herrscht weltvergessene Zeitlosigkeit in dieser Region: Die Häuser, Straßen, Felder, die Menschen und ihre Lebensabläufe unterscheiden sich in ihren Eigenschaften und ihren Zusammenhängen kaum von denen in früherer Zeit und werden wohl auch in Zukunft nicht ihren Charakter verändern – und das trotz der großen Systemveränderungen, die das Staatendreieck über Jahrzehnte durchwanderte. Die Jahreszeiten bedeuten immerhin etwas: Melonenernte im Spätsommer, Hunger im Winter. Die Jahre selbst dagegen: nichts.
Hier gibt es nichts zu sehen, sagte er. Was hier geschieht, versinkt und versickert im Boden. Leidenschaften, Hoffnungen, Kämpfe, das Kriegsgestöhn der Jahrhunderte, davon nähren sich hier das Schilfgras und die Frösche (…) Es ist, als würde Jahr für Jahr mit den dicken Schichten Froschlaich auf Tümpeln und Pfützen (…) der Klang der Trommeln, Hörner und Soldatenstiefel wieder ausgebrütet. Dabei gibt es hier nichts zu gewinnen. Nichts als die Leere, das Warten. Alle hier warten auf irgendetwas, seit Jahrhunderten. Auf die Liebe, auf den Tod, auf einander, auf den Krieg, auf das nächste Hochwasser, auf die Fähre. Hier ist Warteland.
Während die Erzählerin die Grenzgebiete bereist, die das Banat in sich vereint, verändert sie kaum ihren Blick auf Mensch und Ding. Es ist kein Angekommensein spürbar, kein Aufgehen in irgendeinem Gemeinschaftswesen. Zwar plaudert sie mit ihren Nachbarn in Battonya, spricht mit den Menschen, die ihr unterwegs begegnen, beginnt sogar eine vorsichtige Liebschaft. Wärme entfaltet sich dennoch nicht, der Blick schaut weiterhin auf Fremdgegenstände, auf Fremdkörper.
Ich wusste nicht mehr, was mir fremd und was vertraut war. Ich sah den Winter gehen, ich streifte an der Grenze entlang, in die Nachbarländer hinein, begann kleine Dinge zu fotografieren, deren Sinn sich mir vielleicht enthüllen würde, wenn ich sie auf einem Bild sah.
Die Überschriften der kurzen Kapitel lauten Arad, Senta oder Lenauheim, immer wieder Battonya, sie nennen die Namen der besuchten Ortschaften oder sie bezeichnen, worum es in erlebten Episoden ging, wie etwa Der Fisch oder Der Melonenwächter. Dazwischen eingestreut finden sich ein paar kurze Rückblicke, überschrieben mit Stadt und Das frühere Land. Einmal ist darin einigermaßen eindeutig die Rede von England, Kinskys früherem Land. Bei der Stadt wird nicht konkret gemacht, um welche es sich nun handelt, es spielt auch keine Rolle, es ist ein Musterhausen im Metropolenformat, so schwergewichtig sich der Bezug zu Kinskys Biografie und deren Hauptstädten London und Berlin auch aufdrängt. Zwischen den großen Städten einerseits und den abseitigen Kleinststädten andererseits besteht eine besondere Gemeinsamkeit: Wer neu an solche Orte kommt um dort zu leben, der kann dort gut für sich allein leben. Die Großstadt gewährt Freiräume durch Anonymität. Im Niemandsland sichert man sich schon allein durch den Sonderstatus als Fremdling, als Zuzögling die Unberührbarkeit des Unikums.
Esther Kinskys Roman Am Fluß entstand später als Banatsko, in beiden klingt zwischen allen Zeilen hindurch, dass dort ein auf Distanzfragen ausgerichtetes Wesen schaut, denkt und schreibt. Schön schreibt – beide Bücher sind voll magischer Sätze, voll leiser, unstrapazierter Poesie. Während das eine den River Lea und das abseitige London jenseits der Hochglanzfassaden schildert, erzählt das andere aus dem ebenso schmucklosen Banat, beide nutzen dabei die Form des erzählenden Betrachtens für sich und schaffen eine Atmosphäre, die man beinahe greifen kann, jedoch kaum Inhalte, die man nachzeichnen könnte. Noch weniger entwickelt man beim Lesen ein Gespür für die erzählenden Frauenfiguren, was ihr Verhältnis zu ihrem jeweiligen Umfeld betrifft. Gleichwohl man in ihre Gedankenströme blickt, erfährt man nichts Verwertbares über ihre grundlegenden Eigenschaften, ihre Beziehungsgeflechte oder maßgebenden Orientierungen. Man kommt nicht an ihre Substanz heran, vielmehr halten sie sich den Leser ein Stück weit komfortabel vom Hals, indem sie ihn tief in ihre Kleinstbetrachtungen hineinziehen. In Am Fluß reduziert Kinsky ihr Schreiben in besonderem Maße auf ihre individuelle Perspektive, das Erzählen subjektiver Eindrücke und Gedanken mäandert im Tempo und im Verlauf des Flusses. Diese Reduktion ergab ein schönes Lese-Erlebnis, fand ich. Banatsko steckt noch auf halbem Wege zu dieser Form fest: schon abgelöst von Handlungsbögen und tiefgehenden Hintergrundbeleuchtungen, dies aber noch nicht konsequent genug. Mit den geisterhaft bleibenden Dorfbewohnern, den Menschen, die auf Ausflugsschilderungen kurz auf- und wieder abtauchen, den kurz angerissenen Familienfiguren weiß ich nichts anzufangen. Mit den meditativen Betrachtungen von geangelten Fischen, Blasen werfenden Linoleumböden und porös gewordenen Küchenvorhängen dagegen schon – allerdings erst nach gewisser Anlaufzeit. Die Langsamkeit und Stille des Erzählten beginnen eben gleichfalls nur langsam und still zu wirken.
> Esther Kinsky, Banatsko (Matthes&Seitz)