NACHTEINSAMKEIT > Die mischtechnische Collagerei und ihr Soundtrack

Mond Sonja Grebe


Every single night / I endure the flight / Of little wings of white-flamed / Butterflies in my brain / These ideas of mine / Percolate the mind / Trickle down the spine / Swarm the belly, swelling to a blaze / That´s when the pain comes in / Like a second sceleton / Trying to fit beneath the skin / I can´t fit the feelings in / Oh every single night´s alight / With my brain (Fiona Apple, Every Single Night)


Der Tisch ist voll. Papiersammelsurium ausgebreitet, Kaffeetassen dazwischen, Acryltuben, Schmiertücher, verklebte Pinsel und noch ungebrauchte, ein Senfglas-Kleckerpott, ein altes Eiswürfelfach als Palette, die letzte Wochenzeitung schützt die Tischplatte, Scheren, Cutter, Brettchen, Klebestifte, Schwamm, angeschwärzte Zahnbürste, Klopapier, eine Leinwand liegt ständig im Weg herum, ADAC Faltkarte Norddeutschland von 1992, Brigitte von 1988, Sprühkleberdose, Kuli, Edding, Kohle, irgendwo Kekse, Fineliner, Bleistift, Spitzerspäne, Pappe, Packpapier, Geschenkpapierreste, Tonkartonstreifen, Malerkrepp, auch die Wort- und Buchstabenschnipselmappe liegt offen da, obwohl ich nichts daraus brauche – man schmeiße zuerst restlos alles auf den Tisch, so die Grundregel, erst dann lege man los.


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Musik muss laufen – ich will jetzt ja nicht lesen, sondern das Gegenteil davon. Nachts, beim Bildermachen, höre ich gern Hysterisches, Theatralisches, Schrulliges. Ich habe da so ein Faible für fiebrighirnige Frauen, die ihre Stimmen und Instrumente überlasten. Es lassen sich auch ganze Nächte mit Modest Mouse bestreiten. Völlig begeistert habe ich zuletzt David Fiuczynskis Planet MicroJam gehört, Microtonaler Jazz, bis mir davon reell schwindelig in der Magengegend wurde. Klassisch Waits Bone Machine und Beefhearts Shiny Beast gehen immer. Soundfrickler wie Tortoise und Labradford allerdings genauso, dazu ein bisschen The Notwist, Autechre, Radiohead und UNKLE. Gelegentlich unvermeidbar: Pink Floyd. Mit Alban Darche, Henri Texier oder Ibrahim Maalouf geht es eher schon gegen Frühmorgen.



My heart´s made of parts of all that’s surround me / And that´s why the devil just can´t get around me / Every single night´s alright / Every single night´s a fight / And every single fight´s alright / With my brain (Fiona Apple,Every single night)


Ein Abschnitt, ein Bild, zwei Bilder – am Ende wird immer etwas fertig. Kann sein, dass es taugt, kann sein, dass es in den Müll geht. Kann sein, dass ich etwas wieder aus dem Müll heraus fische, weil es doch noch für irgendetwas brauchbar ist.

Jedes Fertigwerden ist schön, eigentlich aber traurig. Und jetzt muss ich auch noch aufräumen.


Bilder: Mondnacht; Nachttisch-Fotos (Grebe, 2015)

NACHTEINSAMKEIT > Heym’sche Nächte

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Nacht

Der graue Himmel hängt mit Wolken tief,
Darin ein kurzer, gelber Schein so tot
Hinirrt und stirbt, am trüben Ufer hin
Lehnen die alten Häuser, schwarz und schief

Mit spitzen Hüten. Und der Regen rauscht
In den öden Straßen und in Gassen krumm.
Stimmen ferne im Dunkel. – Wieder stumm.
Und nur der dichte Regen rauscht und rauscht.

Am Wasser, in dem nassen Flackerschein
Der Lampen, manchmal geht ein Wandrer noch,
Im Sturm, den Hut tief in die Stirn hinein.

Und wenig kleine Lichter sind verstreut
Im Häuserdunkel. Doch der Strom zieht ewig
Unter der Brücke fort in Dunkel weit.


Nacht in einer kleinen Stadt

Der Mond stand auf den Giebeldächern,
Er glänzte tief durch das Geäst
Der hohen Linden und der Nachtwind
Trug ihren Duft zum Fenster her.

Am Himmelsgrund zog eine Wolkenwand
Gewitterschwer, weit hinten überm Strom.
Und ab und zu huschte ein bleicher Schein
Hinauf, und Donner grollte fern.

Und da, von einem hohen Baum
Ganz nah, löste ein heller Klang
Sich, stieg empor, schwebte im Glanz uns starb.
Der Nachtwind klagt im Laube nach.


Georg Heym (1887 – 1912), der in einer Familie aufwuchs, deren grundlegende Stimmung die Schwermut war, schrieb einst über sein vom Vater ihm vorgegebenes rechtswissenschaftliches Studium in sein Tagebuch: <Meine Natur sitzt wie in der Zwangsjacke. Ich platze schon in allen Gehirnnähten. […] Und nun muß ich mich vollstopfen wie eine alte Sau auf der Mast mit der Juristerei, es ist zum Kotzen. Ich hab solchen Trieb, etwas zu schaffen. Ich habe solche Gesundheit, etwas zu leisten.> Wie seine Freunde es beschrieben, hatte Heym sich seiner Familie nie sonderlich nah gefühlt, da er mit seiner Lebensfreude, seiner Lebendigkeit in einem schwer versöhnlichen Kontrast zu seinem Vater, seiner Mutter und Schwester stand. Und doch dominiert gerade die Dreieinigkeit von Kreuz, Tod und Gruft in seinen Gedichten. Sein früher Tod wiederum erklärt sich keineswegs durch Selbsttötung oder Krankheit, denen doch <solcher Trieb>, <solche Gesundheit> entgegengestanden hätten: In dem Versuch, seinen besten Freund zu retten, der beim Schlittschuhlaufen im Eis eingebrochen war, ertrank Georg Heym in der Havel.


Foto: Grebe 2014 

NACHTEINSAMKEIT > Michael Wollnys Nachtmusiken

Der Wechsel vom September zum Oktober: Zeit des Hummeltods, das Flügelgesplirr der Libellen verstummt, aus den Kehlen dahinziehender Gänseschwärme klingt es zum Abschied wie aus rauen Klarinetten, der Froschwinterschlaf beginnt bald und die meeresrauschenden Pappelblätter werden nach und nach zu Bodenlaub. In die stille Bresche, die der Herbst schlägt, springen der tockende Fall der Eicheln und Kastanien, Regenplippeln, das zahnlose Schmatzen von Nasserde. Danach, später, stecke ich in der Wintertaubheit. Erst im Frühjahr höre ich wieder klar.

Früher einmal war die dunkle Jahreszeit die von fernem Wolfsgeheul und nahem Kaminprasseln. An Vergangenes, leicht Schauergemütliches, an die Romantik und ihre Dunkelheitsliebe erinnert mich Der Wanderer, der auf Michael Wollnys Album Nachtfahrten zu finden ist, das heute erscheint. Wollny (Klavier) und sein langjähriger Begleiter Eric Schaefer (Schlagzeug) haben die wechselnde Bassistenrolle im Trio dieses Mal mit Christian Weber besetzt. Anders als beim zuletzt erschienenen Weltentraum mit seinem zeitweiligen Popsong-Nachgeschmack, klingen die Hörproben zu Nachtfahrten (beides ACTmusic) danach, als sei der Ton hier etwas getragener, etwas klassischer – ich kann´s mir gut vorstellen als Herbst- und Winternachtmusik.



Michael Wollny (geb. 1978 in Schweinfurt) tourte bereits als Zwanzigjähriger als Konzertpianist umher und arbeitete fortan mit einer Vielzahl profilierter Jazz-Musiker wie Hubert Winter, Heinz Sauer und Nils Landgren zusammen. Neben kommerziellem Erfolg, sicherten ihm sowohl diese und weitere Ko-Produktionen als auch die Aufnahmen mit seinem eigenen Trio diverse Preise und Stipendien. Inzwischen lebt Wollny in Leipzig, wo er als Professor an der Hochschule für Musik und Theater tätig ist.


Jazznight mit Michael Wollny Trio, Nils Landgren, Lars Danielsson, Laeiszhalle Hamburg, 2014 - war schön
Jazznight mit Michael Wollny Trio, Nils Landgren, Lars Danielsson, Laeiszhalle Hamburg, 2014 – war schön

(Das Schlagwort NACHTEINSAMKEIT übrigens habe ich noch einmal aufgegriffen, nachdem es mir bereits letztes Jahr im Oktober als roter Faden diente. Manchen Schlagwörtern, dachte ich, kann ich ja mal wieder einen Besuch abstatten, sobald sich  – wie hier – neue Beladung für sie angesammelt hat.)

NACHTEINSAMKEIT > Julio Cortázar, Rückkehr aus der Nacht

2014 jährt sich der Geburtstag des argentinischen Schriftstellers Julio Cortázar zum hundertsten, sein Todestag zum dreißigsten mal. Grund genug ihm (mehr als) eine surreale Lesenacht zu widmen. Auf deren Risiken und Nebenwirkungen darf man sich freuen.

Es ist unerklärlich, wie sehr das Wachsein und das Träumen in den ersten Augenblicken der Erwachens vermischt bleiben und sich weigern, ihre Wasser zu scheiden. 

So beschreibt Gabriel, Protagonist der Erzählung Rückkehr aus der Nacht, eingangs seinen Verstörungszustand. Aber er scheint damit über den Rand der Erzählung hinaus zu sprechen, denn gleichzeitig artikuliert er in diesem Satz das Grundgefühl des Lesers, der sich in der Cortazár-Dimension verfangen hat: Hier stehen die Grundgerüste von Traum, Realität, Zeit und Raum auf frei beweglichen Füßen. Julio Cortázars Prosa ist in der surrenden, zirpenden, nebelsprühenden Schublade der Phantastischen Literatur zu Hause, wo sie in artverwandtschaftlicher Eintracht neben den Werken von Franz Kafka, Edgar Allan Poe, E.T.A. Hoffmann oder seines Landsmanns Jorge Luis Borges liegt – für Bescheidenheit im literarischen Vergleich besteht dabei für den großen JC kein Grund.

Aber zurück zu Gabriel, der mitten in der Nacht erwacht – noch unschlüssig, ob in einem Albtraum oder aus einem solchen -, aufsteht, sich im Spiegel betrachtet und dabei im Spiegelbild seiner eigenen Leiche gewahr wird, die auf dem Bett liegt, ohne ihn. Mit traumwandlerischer Gelassenheit betrachtet Gabriel die Situation zunächst als kniffelig. Eine hochgradige Akzeptanz gegenüber dem Absurden und Erschütternden ist ein weiteres Cortázar-Merkmal, das dem Leser jedoch nach wenigen Seiten keinerlei Verwunderung mehr abringt: An diesem Punkt hat Cortázars Spracheleganz längst den sanften Übergang in die Welt der aufgelösten Maximen bereitet – nahezu unbemerkt, einzig ein seltsam wohliges Unbehagen stellt sich ein. Man wittert gärende Verhängnisse, die in Zeitlupe ihrer Explosion zustreben. Cortázars Kernmotiv ist der Einbruch des Unheimlichen ins Vertraute. Das eigentliche Opfer dieses Einbruchs findet sich allerdings nicht im Geschriebenen, sondern ist das Ziel des Geschriebenen: Der Leser selbst findet sich unversehens in den vermischten Wassern von Wach- und Traumwahrnehmung treibend. Die phantastischen Elemente stehen nicht unterhaltend im Vordergrund, sondern sind das technische Mittel, um dem Leser Argwohn und Neugier gegenüber der alltäglichen Realität beizubringen, um Gewissheiten zu zersetzen und gewohnte Denkabläufe zu stören. So also auch in Rückkehr aus der Nacht: Da träumt jemand, er sei gestorben, denkt man, und fixiert damit bereits seine Vorstellung, es handele sich bei dieser Erzählung um eine Traumschilderung. Gabriel, so heißt der Erzähler mit Namen. Das erfährt man so nebenbei, aber es führt eine gedankliche Vollbremsung herbei: Erzengel Gabriel, denkt man jetzt – zuständig für Deutungen von Visionen, Engel der Verkündigung und der Auferstehung. Stopp. Nochmal von vorn lesen, um festzustellen, dass man im ersten Anlauf nur gedacht hat, man lese genau, denn nun liest man ganz anders. Aber das war erst der Anfang, und Cortázar ist längst noch nicht fertig. Mit uns.

Sein sicherer Sinn für das Verunsichernde mag wohl zurückgehen auf Cortázars Biographie, die eine Reihe von Weltenwechseln und privaten Brüchen beinhaltet. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges in Brüssel als Sohn eines argentinischen Handelsattachés geboren, wird Cortázar als Kleinkind im erschütterten Europa hin und her verpflanzt, bis die Familie schließlich nach Buenos Aires zurückkehrt. Dort verlässt der Vater die Familie und verschwindet spurlos. Julio wächst als kränkelnder Junge unter Frauen auf, die Mutter versucht die Familie mit einem Bürojob zu ernähren, der Gemüsegarten und das Hausvieh der Großmutter verhindern das Verhungern. Überliefert ist eine Geschichte, nach der Julio daran verzweifelt, dass die von ihm angepflanzten Nudeln einfach nicht wachsen wollen. Angesichts des sich weiter verschlimmernden Elends flieht der Junge sich in eine eigene Welt, das Lesen, die Bücher – alle Bücher, zu denen sich ihm in seiner Armut irgendein Zugang bietet. Der literaturhungrige Junge wird später Lehrer, in den 1940ern sogar Professor für französische Literatur. Unter dem Peron-Regime jedoch emigriert er nach Europa, wo er als Schriftsteller und Übersetzer arbeitet. Dreimal ist Cortázar verheiratet, seine letzte Ehefrau, rund dreißig Jahre jünger als er, stirbt nur drei Jahre nach der Heirat. Cortázar bleibt auf dem Kontinent seiner frühen Kindheit und stirbt in Paris.

Die Erzählungen Cortázars in der oben abgebildeten Sammlung Rückkehr aus der Nacht (zusammengestellt und mit einem Nachwort von Clemens Meyer) sind ein einladender Einstieg in sein umfangreiches literarisches Werk, das von einem ungezügelten literarischen Spieltrieb und hochkonzentrierter Sprache geprägt ist. Sein Meisterwerk Rayuela, dt. Himmel-und-Hölle, war eines meiner wichtigsten Lese-Erlebnisse.

Cortázar nachts lesen? Unbedingt! Wer nicht aufpasst, liest sich durch die Nachtstunden, hat damit aber den Schlaf gegen etwas Wertvolleres getauscht. Das manipulative Erzähltalent Cortázars ist besonders wirksam, wenn man – ebenso nachteinsam wie Gabriel – den vermischten Wassern ungestört erlauben kann Zeit, Raum und Realität um sich herum zu unterspülen. Und weil für Cortázar selbst die eigene Jenseitigkeit kein schriftstellerisches Hindernis ist um die Fließbewegungen unserer Gedanken zu steuern, nimmt er, während wir ihn lesen, an einer Stelle schon vorweg, wie sich unsere eigene Rückkehr aus der Nacht anfühlt:

Und das Orchester des Tagesanbruchs stimmte leise seine kupferfarbenen Instrumente. 


> Julio Cortázar, Rückkehr aus der Nacht (Suhrkamp)

NACHTEINSAMKEIT > Lars Danielsson, Liberetto II

Nachteinsamkeit heißt Selbstversunkenheit, der ein himmelgroßer Resonanzraum zur Verfügung steht. Der will gefüllt sein: mit Stille, mit Gedanken, mit Nachtgeräuschen, natürlich aber auch mit Musik.

Vor Kurzem erst ist das neue Album des schwedischen Jazzquartetts um Lars Danielsson erschienen: Liberetto II versammelt zwölf nachttaugliche Stücke, die trotz ihrer Zugänglichkeit nichts an Komplexität fehlen lassen. Dafür sorgt die hochkarätige Besetzung: So ist Magnus Öström, ehemals Percussionist für e.s.t., wieder im Quartett vertreten, und als Gäste beteiligen sich unter Anderem der norwegische Multiinstrumentalist Mathias Eick sowie die große dänische Jazz-Stimme Caecilie Norby. Durch viele gemischte Zusammenarbeiten sind alle am Album, nicht nur am Quartett, beteiligten Musiker längst hörbar miteinander vertraut. Diese Harmonie spiegelt sich in der Klarheit und Sättigung der für Danielsson typischen Klangfarben. Schön zum nächtlichen Begleithören.


Lars Danielsson, Liberetto II (ACT)

NACHTEINSAMKEIT > Draußen vor der Tür

Hamburger Meile, Sonja GrebeNachts auf der Elbfähre, Sonja Grebe

Spätestens seit der Romantik kennen wir Deutschen uns hinlänglich aus mit der Idealisierung der Einsamkeit. Zum einen trieb es die Romantiker in den Wald – Waldeinsamkeit ist eine der schönsten deutschsprachigen Unübersetzbarkeiten -, zum Anderen waren sie verliebt in die Nacht. Die Gemeinsamkeit von Wald und Nacht besteht in ihrer sichtverkürzenden Eigenschaft: Durch Dickicht oder Dunkel schließen sie einen Raum um ihre Besucher, bewirken damit bei ihnen das Gefühl von Vereinzeltsein. Sicher spürt man die Wirkung der Nacht ebenso in Momenten, in denen man im Schein seiner Leselampe in tiefster Ruhe zeitvergessen ein Buch liest. Andere häusliche Nachthobbys sind Nähen für Schlaflose, Mitternachtsmalerei, Mondscheinbacken etc. Man ist dabei ganz bei sich, vielleicht aber nicht ganz bei der Nacht. Ebenso wie dem Wald ist der Nacht eine Wesenhaftigkeit zu eigen, ein eigener Geruch, eigene Geräusche, ein eigener Herzschlag. Erst draußen vor der Tür entfaltet sie sich ganz.


Fotos: Grebe 2013/2014