LEBEN AM FLUSS > Ich gehe manchmal dorthin, um dem Fluss beim Fliegen zuzuschauen

Scharnebeck

Es gibt so Momente, da springt einen der Geist eines bestimmten Zeitalters an, legt sich um die Schultern, den Brustkorb wie ein Mantel – kennen Sie das?
Als ich zum Beispiel letztens so eines der verbliebenen Karstadthäuser in Innenstadtlage besuchte, spukte mir dort, im Auf und Ab der Rolltreppenkaskaden, der ideelle Helmut Kohl in Freizeitjacke entgegen. Beinahe hätte ich mich für ein Teeservice interessiert.
Oder als ich dann doch mal „The Irishman“ schaute, durchaus angeödet. Ein dreieinhalbstündiger Abschiedsgruß. Scorsese, De Niro und Pacino – einerseits wurde dieses Dreigestirn hier, für posthume Zeiten, in einem großen, whiskeyfarbenen Klumpen Bernstein fixiert. Andererseits war es so etwas wie das finale relevante Aufglimmen des Norman-Rockwell-Amerika, dieser scheinbar in klare Begrifflichkeiten wie „gut“ und „böse“ unterteilbaren und zutiefst mit sich selbst beschäftigten, kleinen Welt. Männer in Anzügen, Männer mit Hüten, Frauen in Pumps, Lockenwicklern und Schürzen, Kinder beim Murmelspiel – ein Butterkuchenidyll, gezuckert mit Arbeiterethos, aber düster umrahmt von Ganovenromantik, Kriegsheldenkitsch, Gewalt. Alles an diesem Film – die Story, der Erzählmodus, Licht, Farbe, Kostüme, Szenenbilder, das gesamte Kolorit – alles lieferte diese aus Funk und Fernsehen, in Bild und Ton so vertraute Essenz des 20th Century, die ich bis weit in die 2010er hinein als etwas noch immer Lebendiges, Bestimmendes, Präsentes empfand, wenn auch auf irgendwie großelterliche Art, aber dennoch. Indem ich nun den Fernseher (sic) ausknipste und dieses spezifische Amerika von der Bildfläche verschwand, ging mir erst auf, wie obsolet es wirklich ist – sein Übertritt aus der Realität heraus und hinein in die Sagenwelt der Weltgeschichte ist längst abgeschlossen, und dieser Film ist nur eines seiner unzähligen Denkmäler.
Oder in diesem kleinen Laden am Marktplatz, wo ich neulich die Batterie einer Armbanduhr wechseln ließ. Kein „Juwelier“, sondern „Schmuck- und Uhren-Service“ – klang vielleicht modern, damals. Während sich ein freundlicher Herr am Uhrgehäuse zu schaffen machte, verfolgte ich das Ticken einer Wanduhr im Verkaufsraum, deren Zeiger zwar im Uhrzeigersinn vorangingen, nur zählte das Ziffernblatt dabei die Uhrzeit rückwärts, und diese spielerische Rückwärtsgewandtheit beschrieb einfach alles. In meiner Gegenwart, die von einer Armee von Smartwatches gemessen, vermessen und ausgewertet wird, wirkt jede analoge Uhr wie ein Fossil; ebenso prähistorisch wirkte das Ladengeschäft an sich, mit seiner salz- und pfefferfarbenen Auslegeware, der Raufasertapete und der Neonröhrenbeleuchtung. Reine Vorjahrtausendwende-Luft, Marke Kleinstadt. Mir war, als hörte ich ein Radio, sehr leise, gedämpft, aus einem Hinterzimmer vielleicht, und ich meinte, es spielte „Spending My Time“ von Roxette.
Oder beim Spaziergang entlang des Schiffshebewerks des Elbe-Seitenkanals in Scharnebeck – ab und zu komme ich dort vorbei.
Der Elbe-Seitenkanal verläuft durchs östliche Niedersachsen und verbindet Mittellandkanal und Elbe. Nördlich hinter Lüneburg fällt die Landschaft abrupt ab, der Geestrücken endet hier und der „Heide-Suez“ (regionale Wahrzeichen erhalten unvermeidbar ihre Spitznamen) muss an dieser Stelle einen Sprung von 38 Höhenmetern überwinden. Der Kanal mitsamt Schleusen, Sicherheitstoren und Schiffshebewerk wurde Mitte der Siebziger nach achtjähriger Bauzeit eröffnet – ein brachiales Mega-Projekt aus der goldenen Ära brachialer Mega-Projekte des Westens. Bei seiner Eröffnung war das Doppelsenkrechthebewerk in Scharnebeck das größte Schiffshebewerk weltweit.
Natürlich ist dieser Kanal keine Schönheit. Er ist ein funktionales Monster, eine Wasser-Autobahn. Ein über 100km langes Elend, und zur Breite der Wasserstraße kommt, insbesondere im Elbe-verbundenen Teil, noch eine wuchtige, sehr hohe Eindeichung hinzu, sodass der bauliche Einschnitt also lang und breit die Landschaft dominiert. Ohne Frage ist das Schiffshebewerk für sich genommen ein ebenso monumentaler und nicht eben lieblicher Anblick.
Ich stehe seltsam gern mitten im Hebewerk, im Durchgang unterhalb des oberen Einfahrtbeckens, über mir tausende Tonnen Stahlbeton und Wasser, hinter mir die glatte Schnittkante quer durch die Landschaft und die unterm Hebewerk hindurchführende Straße, und schaue durch die vertikale Flucht zwischen den betongrauen und roten Türmen hinaus ins Blaue. Von diesem Punkt aus kann man dem Schiffsfahrstuhl aus nächster Nähe bei der Arbeit zusehen. Innerhalb der vier Reihen von Führungstürmen transportieren zwei gigantische Tröge die Schiffe hinauf oder hinab. Das mag für Sie womöglich nicht nach Nervenkitzel klingen, aber wissen Sie: Wenn man in einen der 100m langen Tröge hinabschaut und verfolgt, wie ein großes Kanalschiff einfährt und sich im Wasserbecken zurechtmanövriert, die Schiffsmotoren irgendwann verstummen, das Einfahrtstor sich schließt und damit ein wirklich gewaltiges Stück Fluss abtrennt, und wie sich nun die Elektromotoren in Gang setzen und, überraschend geschmeidig und gar nicht dröhnend laut, dieses Stück Fluss sich einfach hebt, nach oben schwebt, direkt vor Ihrer Nase emporfliegt (ein bisschen Wasser schwappt immer über, die Gischt sprüht Ihnen ins Gesicht), 10 Meter hinauf (die stählerne Stirnwand des Trogs ist langsam an Ihnen vorübergeglitten, sie schauen jetzt unterm Trogboden hindurch in die plötzlich blendend blaue Landschaft hinaus), 15 Meter, 20 Meter – jedenfalls: Wenn einen dieses Bombastikum nicht erschlägt, dann weiß ich’s auch nicht.
Das universalmörderische 20. Jahrhundert: erschlagende Technik, erstickender Beton. Alles beherrscht von Kriegslogik. Beide Weltkriege stets im Hinterkopf, wollte man nun den Krieg der Systeme auf dem Schlachtfeld Technik-Infrastruktur-Wirtschaftswachstum entscheiden. Der Bau des Elbe-Seitenkanals wurde notwendig, weil der früher genutzte Wasserweg zwischen Mittellandkanal und Elbe, über Magdeburg verlaufend, leider bald hinter einer Mauer lag; Ausgleich musste her, und bitte gleich mit Renommierpotenzial. Das Bauprojekt schwang jedoch nicht allein die ökonomische Keule in Richtung der DDR, sondern auch die militärische: Man plante den Kanal als Teil der Westverteidigung, als strategische Barriere. Die Kanalböschungen wurden so angelegt, dass sie in bestimmten Abschnitten für Panzerverbände in West-Ost-Richtung querbar wären, in Ost-West-Richtung jedoch nicht; die zivile Wasserstraße ist teils noch heute ausgestattet mit Sprengschächten und Panzersperren.
Was durch diese Anlage fließt, ist der pure Geist des Atomzeitalters. Ein alles andere als milder Geist. Sie wissen schon. Strahlend, hungrig, rigide, getrieben, befehlshaberisch, visionär, gefährlich, verheißungsprall, drastisch, prometheisch, fortschrittssüchtig, gut-und-böse.
Zugleich empfinde ich dieses Ungetüm im Ganzen und den Abschnitt Schiffshebewerk im Speziellen als etwas Erdendes, tatsächlich, ja. Ein sehr großes Fossil aus einer im Grunde sehr kleinen Welt – verglichen mit der heutigen, nicht wahr?
Diese nur-analoge Welt, wo ich meine Kindheit verbrachte (2000 wurde ich volljährig) und die mir lieb war, steht mir heute halb traulich, halb entfremdet vor Augen. Um hinter diese Entfremdung durchs eigene Älterwerden und das allgemeine Anderswerden der Welt zurückschauen, zurückfühlen zu können, muss ich nicht unbedingt Familienfotos von 1987 durchstöbern, sondern meinetwegen eben so ein Schiffshebewerk besuchen. Dieses Ungetüm hier wurde auf Papier entworfen, geplant und kalkuliert. Die Leute setzten sich an ihre Arbeitstische und zeichneten Pläne, berechneten Massen und Kräfte, schrieben Anträge und Aufträge. Mag sein, dass die eine oder andere Schreibtischschublade ein Herrenmagazin, einen Flachmann oder eine Schachtel Weinbrand-Pralinées beinhaltete, aber zwischendurch getwittert wurde hier nicht. Das soll keine Spitze gegen die heutige Bürowelt sein. Man lebte eben im Konkreten.
Die ehedem stets mitgedachte Welt war aus Vergangenheit, gesellschaftlichem und individuellem Erfahrungsvolumen gemacht. Fotografie, Radio und Fernsehen waren bloße Vorboten einer viel tiefgreifender veränderten Weltwahrnehmung: Die stets mitgedachte Welt heute ist das Internet, diese uferlose, ubiquitäre Welterweiterung, dieses im Grunde unbegreifliche Multiversum.
Das 20.Jahrhundert – mir kam das früher vor wie eine Schulstunde, die es einfach abzusitzen galt, zwei Tage vor Ferienbeginn. Ich bin ein Kind der 80er, für mich war dieses Jahrhundert gelaufen, ich könnte da, so auf den letzten Drücker, gefühlt eh nichts mehr gestalten. Gewissermaßen verbrachte ich meine Jugend damit, mich von meinem analogen, meinem westlich orientierten, von Begrifflichkeiten wie „gut“ und „böse“ bestimmten, in Zigarettenrauch gehüllten Jahrhundert zu verabschieden. Das 21.Jahrhundert aber steht mir immer deutlicher bevor wie eine Matheklausur, die über meine Zulassung zum Abitur entscheidet, d.h. über mein weiteres Existieren auf einem rundum nicht wiederzuerkennenden Erdball, und wissen Sie, ich fürchte mich wirklich sehr vor Mathematik. Bis hierhin ist dieses Jahrhundert eine schon längst viel zu komplexe Gleichung für mich, die mit Termen wie Digitalisierung, Globalisierung, Klima, China, Konzern-gesteuerter Politik, Pandemie, veränderter Kommunikation, veränderter Kognition, weißen Turnschuhen, Swag und Populismus, Gentechnik und A.I., und die Liste geht beliebig weiter, arbeitet. Als Erwachsene des 21.Jahrhunderts denke ich in einem permanenten, sehr lauten Strudel von Satzfetzen, Fragen, Aussagesätzen, Ausrufesätzen, Tönen und Bildern, denke stets die konkrete und die erweiterte Welt zugleich, und aus diesem Strudel heraus bilden sich immer neue Gedanken, ganz ähnlich also, wie sich auch Träume bilden, als ein Nebenprodukt, wenn das Gehirn rauschhaft seine sämtlichen Datenbestände auf einmal verarbeitet – ich meine, mein Gehirn selbst funktioniert nicht mehr wie das 20., sondern vielmehr wie das 21.Jahrhundert.
Ich verstehe gut, woher solche Sehnsucht nach einem Aufgehobensein im Konkreten, im Kleinweltlichen kommt, wie sie besonders dort, wo sie am wenigsten erfüllt wird, epidemisch zu Tage tritt: im Internet. Ich verstehe das so gut, dass es mich umso persönlicher ärgert, wenn sich jemand auf einen Baseballschläger oder das Alte Testament oder welche stumpf-plakative Lösung auch immer stützt, um diese Sehnsucht zu bedienen. Dieser Selbstbeschiss – auf Kosten anderer, auf Kosten aller.
Das Schiffshebewerk, wissen Sie, ist längst eingerüstet, seine Sanierung ist im Gange. Derzeit ist nur einer der beiden Tröge noch fahrbar; die Bauträger zerbrechen sich die Köpfe, mit welchen Lösungen sich das Ungetüm, das an Betonkrebs leidet, retten ließe. Ich bin gelernte Buchhändlerin, bin dem smarten Digitalkram meiner Zeit nicht gewachsen und besitze durchaus noch weitere fossile Qualitäten; ich stehe oft da und beobachte, wie dieses mächtige Ungetüm einerseits einen Fluss fliegen lässt und zugleich doch im Sterben liegt, was winzige Menschenhände mit mühsamen, akribischen Eingriffen verborgen hinter Bauplanen verzögern, und denke dabei: Du und ich, Ungetüm.
Der Bundesverkehrswegeplan 2030 sieht den Neubau einer Schleuse vor, direkt neben dem Schiffshebewerk. Noch größeres Volumen soll bewegt werden, noch effizienter, dabei so umweltverträglich wie möglich, und bitte ohne verheerende Kostenexplosion; hier wird entworfen, geplant und kalkuliert, dass die Heide wackelt.
Auch ich muss mich ans Rechnen machen. Es nützt nichts. Egal ob man sie nun fürchtet oder nicht – es geht ja kein Weg vorbei an der komplexen Mathematik der Gegenwart und Zukunft.


Foto: Grebe, 2020

LEBEN AM FLUSS > Roland Schimmelpfennig, Die Sprache des Regens

„Petja hatte sich den Fluss hinuntertreiben lassen, allein, in der Dunkelheit. […] Er war ans Ufer geschwommen, unten bei der Mündung des Flusses. Diese Stelle nannte man den Blinden Mund. Es war eine warme Nacht. Petja kletterte hinaus ans Ufer und verschwand im Dickicht.“
Es gehört sich so in dieser kargen, deprimierenden Anderswelt, die Schimmelpfennig da entworfen hat, dass Jugendliche am Vorabend ihres 15. Geburtstages von der großen Eisenbrücke hinab in den Fluss springen. Ein bisschen so, als tauften sie sich selbst. Nach ihrem Sprung ins kalte Wasser, schwimmen sie, nun als Erwachsene, an Land zurück, um zu feiern. Auf Petja allerdings warten die Freunde nach dem Sprung vergebens.
„Sie hatten in die Tiefe gesehen, über Stunden, sie hatten nach ihm gerufen, aber er war nicht zurückgekommen.“
Ich verstehe das gut, Petja.
Die Gegend-am-Fluss ist eine abseitige, beschädigte, feindselige Lebenswelt. Law und Order liegen in den Händen einer Polizeieinheit, die zu Recht gefürchtet wird. Offenbar herrscht strenge Gesinnungspolitik. Die genaueren Umstände belässt Schimmelpfennig jedoch im Dunkeln, im Abstrakten, und so müssen, na, dürfen Sie sich Ihre eigene Deutung der Dinge zusammenstricken: Ist das hier eine Dystopie, eine Geschichte à la „Was wäre, wenn der Zweite Weltkrieg (…)“, eine Parallelwelt usw.? Auch die Figuren wollen es Ihnen nicht zu einfach machen und halten mit ihren Identitäten hinterm Berge. Obwohl immerhin ihr Bindungsgeflecht nach und nach klar wird, bleiben sie für sich genommen doch Gestalten, denen man nie so recht unter die Haut schauen kann, Spielfiguren, Symbolträger, Märchenmenschen. Jedenfalls: Sie befinden sich hier an einem Ort, wo Sie, da wette ich drauf, in irgendeinem Traum schon einmal gewesen sind.
„Die Stadt auf dem Meer war schwarz und turmhoch, ein Gebilde aus Eisen und Stahl, aus Schrauben und aus Nieten, ein Berg aus Rohren, Gängen und Treppen, und die Stadt hinterließ, nachdem sie an ihnen vorbeigezogen war, auf dem Wasser einen Film aus Öl. Die junge Frau und der Mann saßen auf den Felsen am Meer, nicht weit von der Flussmündung, und sahen der Stadt nach, bis sie in der Ferne verschwunden war. Hinter den beiden Gestrüpp, Grün, eine leichte Anhöhe und dann zugewachsenes, kaum zu durchdringendes, flaches Land. Dazwischen ein paar kleine Brachen. Die Hitze. Eine Straße. Der Fluss. Weit entfernt: einzelne Häuser, Wohnblöcke und dahinter die Felder, die Fabriken, die Raffinerie und das Stahlwerk in der Ebene.“
Adam und Eva sind es nicht, die da sitzen, sondern Isabel und ihr Freund Philipp. Sie sind auf dem langen Weg in Isabels Heimatstadt, zwecks Familienbesuch. Nicht, dass sie uns dabei an die Hand nehmen und in der Stadt-am-Fluss herumführen würden, aber sie bringen uns hin, setzen uns dort ab, und ab hier bewegen sich die städtischen Schauplätze und unterschiedlichen Zeitebenen munter hin und her. Toni, wie er eine Leiter baut, eine lange Leiter, eine sehr, sehr lange Leiter, nur wozu? Philipp, wie er sich in den Wohntürmen einer Hochhaussiedlung verirrt, einem senkrecht stehenden Labyrinth, auf der Suche nach einem bestimmten Zimmer. Julia, die Kanarienvögel hütet und außerdem eine Schildkröte, einen Schlittenhund und einen zugeflogenen Pelikan. Die Straßenschlacht nach der Schließung des Kinos. Die Vertriebene in ihrer Hütte am Fluss.
Fragen Sie nicht – projizieren Sie frei drauflos, das braucht dieser Roman. Der will Ihnen nichts Staatstragendes vermitteln, sondern ein bisschen herumtricksen in Ihrem Kopf, Sie ins Träumen versetzen; er produziert die nötigen Bilder, und die müssen Sie nur noch auf die Beine stellen und zum Laufen bringen. Oder zum Schwimmen. Eintauchen, treiben lassen, mehr müssen Sie gar nicht machen. Wissen Sie, Sie sind hier am Fluss.


>Roland Schimmelpfennig, Die Sprache des Regens (S.Fischer)


Foto: Grebe, 2020

LEBEN AM FLUSS > Flusstausch

Habe zuletzt Aue und Beeke eingetauscht…

…gegen Elbe und Ilmenau.

Die dörflichen Fließgewässer sind natürlich viel vertrauter, jeder Brückenpfeiler persönlich bekannt, jeder Stichling quasi Familienmitglied. Dagegen lassen sich die größeren Flüsse hier im Umland nicht so einfach lückenlos ausforschen. Das ist natürlich ein bisschen traurig. Aber genauso gut kann man darin ja gerade den Reiz an der Sache sehen und drauflos stromern.

Ganz unabhängig davon, welche Wasserströme und Stromergewässer Ihnen nun am liebsten sind, kann ich nur empfehlen, sich nicht zu sehr an einen bestimmten Fluss zu klammern – er wartet nie, er zieht unaufhörlich weiter, er bleibt ewig ein anderer. Wenn Sie „Ihrem“ Fluss nahe kommen, gewissermaßen seinem Wesen auf die Pelle rücken wollen, dann machen Sie keine Fotos. Machen Sie’s wie er, warten Sie nie, seien Sie so ein Ziehen und veränderliches Bleiben, und schon kommen Sie damit seinem, aber nicht nur seinem Wesen an sich, in sich fürchterlich nah.


Fotos: Grebe

LEBEN AM FLUSS > Von Vätern und Söhnen: Blues am Mississippi und am Niger

Wer Blues sagt, denkt den Mississippi mit – an wohl kaum einem anderen Ort sind Musik und Fluss so eng miteinander verbunden. Der Delta-Blues, entstanden zu Beginn des letzten Jahrhunderts, hat sich für die Entwicklung moderner Musikrichtungen als Zündfunke von unschätzbarem Wert erwiesen. In der Fortentwicklung des Neuen jedoch ging das Wissen um dessen Wurzeln weitgehend verloren. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, die den Blues hervorgebracht hatten, durchliefen grundlegende Veränderungen, es stockte dadurch auch die mündliche Tradierung des Liedguts. Neue Tonaufnahme- und Wiedergabetechniken waren noch nicht demokratisiert verfügbar. Vermutlich wäre die Vielfalt des Blues bald undokumentiert verklungen und ein großer Teil vergessen worden.

<Go and get this material while it can be found. Preserve the words and music. That’s your job.>* Mit diesen Worten wurde John Lomax von Seiten der Harvard-Universität in seiner Forschungsarbeit ermutigt, die ihn kreuz und quer durch die USA führen sollte: Die Dokumentation amerikanischer Musikfolklore. Lomax, dessen Kindheit auf der elterlichen Farm begleitet worden war von den Gesängen der Tagelöhner, befreiten Sklaven und Cowboys, hatte durch Ernteerlöse und den Verkauf seines Ponys genug Geld zusammenkratzen können um eine akademische Ausbildung zu finanzieren, die sich bald in den Kulturwissenschaftsbereich verlagern sollte, wo sie sich schließlich auf die Musikforschung konzentrierte. Beginnend mit seiner Studienzeit, sammelte Lomax über Jahrzehnte hinweg tausende von Dokumenten traditioneller amerikanischer Musik. Zunächst allein, ab den 1930er Jahren dann begleitet von seinem Sohn Alan und einem annähernd drei Zenter schweren Phonographen, begab er sich auf seine als Field Trips bekannt gewordenen Aufnahme-Reisen. Steigende akademische Anerkennung und gelegentliche Radioauftritte sorgten dafür, dass Lomax´ zunehmende Popularität teilweise auch auf die von ihm besuchten Musiker abstrahlte: Zum Beispiel beschäftigte Lomax sich intensiv mit Prison Songs – die Gefängnisse galten als Enklave ungebrochener Weitergabe traditionellen Liedguts, auch in Form der von den Chain Gangs gesungenen Work Songs – und stieß in diesem Zusammenhang auf einen ehemaligen Häftling namens Lead Belly. Diesem war als erstem Blues-Musiker eine veritable Karriere beschieden, die von Lomax durchgehend gefördert wurde. Die von Lead Belly adaptierten oder selbst geschriebenen Stücke sind ein elementarer Bestandteil der amerikanischen Musikkultur geworden. Alan Lomax setzte die Arbeit des Vaters fort, indem er einem vielleicht noch intensiveren Weg folgte. Über die USA hinaus führten ihn seine Aufnahmereisen unter anderem bis nach Haiti, Marokko, Großbritannien und auf die Bahamas. Ihn trieb die Idee an, durch das Verdeutlichen von Entwicklungszusammenhängen in regional getrennten Musiktraditionen eine Art musikalischer Internationale aufzuzeigen. Geprägt war die Musikforschung der Lomaxes jahrzehntelang von finanziellen und gesundheitlichen Widrigkeiten. Eine breite öffentliche Wertschätzung ihrer Arbeit bestand jedoch stetig. Über zehntausend Aufnahmen lagern in der Library of Congress. In digitalisierten Zeiten vereinfacht sich der Zugriff auf die Dokumentationen für die breite Öffentlichkeit. Inzwischen findet sich via Youtube eine Zusammenstellung vieler beeindruckender Aufnahmen im Alan Lomax Archive.

(*Charles Wolf and Kip Lornell, Life and Legend of Leadbelly (New York: Da Capo Press,1999), S.108)

Die Wurzeln des Blues zurückzuverfolgen, führt in letzter Konsequenz über den Ozean, den Abstammungsspuren amerikanischer Sklaven – nach Afrika. Dort hat sich derweil eine eigene Ausrichtung des Blues entwickelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Gitarre, bisher dort wenig verbreitet, ein populäres Instrument auf dem gesamten afrikanischen Kontinent. Und im Zuge verschiedener Unabhängigkeitsbewegungen vormaliger Kolonialstaaten zeigten in den 50er und 60er Jahren viele Regionen auch Mut zu ihrer musikalischen Identität. Die afrikanische Musik im Allgemeinen wurde zugänglicher für internationale Einflüsse und fand im Austausch größere Verbreitung auf dem europäischen und amerikanischen Kontinent.

Entlang des Niger zeigt sich eine ganz eigene musikalische Prägung. Den wenigsten unter uns dürften Instrumente namens Njarka, Ngoni oder Gurkel ein Begriff sein. In Verbindung mit der neu entdeckten Gitarre schufen Musiker in den Niger-Anreinerstaaten aus dem Klang jener traditionellen Instrumente und modernen Einflüssen den mittlerweile international populären Klang des Mali-Blues. Der inzwischen verstorbene Ali Farka Touré hat als zweimaliger Grammy-Gewinner unter jenen Musikern einen besonderen Status inne. Geboren am Niger und aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen, profitierte Touré in den 60er Jahren nach der Unabhängigkeit Malis von staatlichen Programmen zur Förderung lokaler Musiker. Seine erste eigene Gitarre kaufte Touré übrigens in Sofia; das Interesse an Folk-Musik erreichte in den späten 60er Jahren neue Höhen in Europa und führte auch afrikanische Musiker auf Tourneen zum Kontinent im Norden. In den 90er Jahren entstand mit dem amerikanischen Blues- und World-Musiker Ry Cooder eine Zusammenarbeit, die nicht nur Ali Farka Touré, sondern dem Mali Blues generell eine enorme internationale Aufmerksamkeit bescherte: Das Projekt Talking Timbuktu wurde mit einem Grammy geehrt und sicherte Touré auch finanziellen Erfolg. Inzwischen führt Tourés Sohn Vieux Farka Touré den musikalischen Weg seines Vaters fort und hat sich durch Auftritte in Afrika, Europa und Nordamerika als improvisationsbegabter Live-Musiker profiliert.

LEBEN AM FLUSS > Gertrud Leutenegger und Esther Kinsky in London

Zwei besondere Romane haben mich zuletzt gedanklich in die britische Hauptstadt geführt: Gertrud Leutenegger erzählt in Panischer Frühling von Stillstand und Bewegung. Und Am Fluß von Esther Kinsky beschreibt Werden und Vergehen von Mensch und Landschaft.

Ein Fluss ist Bewegung. Fließbewegungen kennzeichnen auch innere, höhere, übergeordnete Vorgänge: In uns fließt Blut, man misst Gehirnströme, man spricht vom Stream of Conciousness, ebenso von Finanzströmen oder kulturellen Strömungen, stellt die Geschichte im Ganzen wie auch das Leben des Einzelnen als Fluss dar – all dies Verborgene oder Abstrakte wird im Betrachten eines Flusses greifbar.

Die Themse ist es, die das Hintergrundrauschen zu Panischer Frühling beisteuert. Die wenig sesshafte Erzählerin des Romans hat sich in einem bewegten Leben eingerichtet, das sie inzwischen nach London geführt hat. Dort jedoch tritt jedem Bewegungsdrang ein unwirklich anmutendes Ereignis in den Weg: Die vom isländischen Vulkan Eyjafjallajökull verursachte Aschewolke sorgt für eine tagelange Flugsperre und konfrontiert die global-mobile Welt mit dem ausgestorben geglaubten Phänomen Stillstand. Leuteneggers Roman entfaltet eine reiche Symbolwelt im Spannungsfeld zwischen zwei Lebenspolen: Die Erzählerin steht zwischen Fluss und Verwurzelung – von fortgerissenen Wäldern, die den Fluss hinabtreiben, ist die Rede, ein Haus aus Kindheitserinnerungen besaß sowohl ein Waldzimmer als auch einen Seezimmer. Und die Symbolik weitet sich aus ins Gebiet der Großbegriffe: Leben und Tod, Werden und Vergehen. Das Leben ist ein Spiel der Wechsel. So besteht beispielsweise auch die Besonderheit der Themse darin, dass sie dem Tidenhub unterliegt. Analog dazu sind die Kapitel mit dem jeweiligen Wasserstand überschrieben, das Geschehen bewegt sich zwischen Low Water und High Water, die Ausschläge sind unterschiedlich hoch oder niedrig. Die Asche des Vulkans findet eine Parallele in jener Asche, an die sich die Erzählerin aus Kindertagen erinnert: Im kirchlichen Zeremoniell wird Asche auf das Haupt des jungen Mädchens gestreut um an die Sterblichkeit allen Irdischens zu gemahnen. Erblühen und Niedergang drängen sich bis in jeden nebensatzkleinen Raum hinein dicht aneinander, wo zum Beispiel in einer knappen Schilderung der prächtigen Frühlingsblüte im Park das Elend der Obdachlosen, die sich dort inmitten all der Blumen schlafend zusammenkrümmen, im selben Satz miterzählt wird. Ein bestimmter Obdachlose nimmt für die Erzählerin bald eine besondere Rolle ein: Jonathan, dem sie die Obdachlosenzeitung abkauft. Jonathan, dessen Gesicht zur Hälfte renessaincehaft zart, zur Hälfte entstellt ist. Es besteht eine Verbindung zwischen ihr und diesem Fremden. Wie tief und von welcher Art jene Verbindung wohl sein mag – dieser Frage geht die Erzählerin nach.

Auch in Am Fluß wird der Fluss zum lebensbeschreibenden Element, hier ist es der River Lea im Osten Londons. Die von ihm geprägte Marschlandschaft ist eine Welt, in der Aufschwünge und Niedergänge überall deutlich werden. Man mag sich darüber streiten, ob die Bezeichnung Roman für dieses Buch treffend ist – ich bin, anstatt mitzustreiten, lieber mitgeschwommen: Der Assoziationsstrom, den Esther Kinsky ausschüttet, ist ein wundervolles Leseerlebnis. Autobiographisch gefärbt, fügt die Autorin Beobachtungen aneinander, schildert Werdegänge und Hintergründe, die mit dem Fluss verknüpft sind, ihre tiefere Bedeutung dabei aber auf mehreren Ebenen entfalten. Ihr Erzähl-Ich arbeitet als Übersetzerin, ist tätig in verschiedenen Funktionen, in der Übertragungen von einer Sprache in eine andere vorgenommen und Bedeutungen umgewälzt werden, lebt selbst in Übergangszuständen, kommt nirgendwo an, kommt nicht zur Ruhe. Die eigene Vergangenheit vermischt sich mit Vergänglichkeitseindrücken, die sie entlang des Flusses sammelt: Im geographischen Randgebiet der Großstadt zerfasert die urbane Pracht der Metropole, soziale Randgebiete liefern menschliche Betrachtungen, Naturbeobachtungen und Industrieszenen verbinden sich. Begleitet werden die Beobachtungen von sich atmosphärisch perfekt einfügenden Abbildungen, die das Erzählte in schwarz-weißer Stimmung untermalen. Esther Kinskys Einfühlung in das von ihr so detailbewusst beschriebene Umfeld, die feine Wahrnehmung von Bedeutungsebenen, die sie elegant, intelligent, unaufgeregt in schlichtweg schöne Sprache fasst, machen dieses Buch für mich zu einer meiner liebsten Entdeckungen in diesem Jahr. Darüber hinaus zeigt sich durch Am Fluß mal wieder, dass es sich lohnt, immer ein Auge auf den Verlag Matthes & Seitz zu haben, in dessen Programm sich reichlich Schätze verstecken.


Gertrud Leutenegger, Panischer Frühling (Suhrkamp) Gebunden €19,95

Esther Kinsky, Am Fluß (Matthes & Seitz) Gebunden €22,90