Es gibt so Momente, da springt einen der Geist eines bestimmten Zeitalters an, legt sich um die Schultern, den Brustkorb wie ein Mantel – kennen Sie das?
Als ich zum Beispiel letztens so eines der verbliebenen Karstadthäuser in Innenstadtlage besuchte, spukte mir dort, im Auf und Ab der Rolltreppenkaskaden, der ideelle Helmut Kohl in Freizeitjacke entgegen. Beinahe hätte ich mich für ein Teeservice interessiert.
Oder als ich dann doch mal „The Irishman“ schaute, durchaus angeödet. Ein dreieinhalbstündiger Abschiedsgruß. Scorsese, De Niro und Pacino – einerseits wurde dieses Dreigestirn hier, für posthume Zeiten, in einem großen, whiskeyfarbenen Klumpen Bernstein fixiert. Andererseits war es so etwas wie das finale relevante Aufglimmen des Norman-Rockwell-Amerika, dieser scheinbar in klare Begrifflichkeiten wie „gut“ und „böse“ unterteilbaren und zutiefst mit sich selbst beschäftigten, kleinen Welt. Männer in Anzügen, Männer mit Hüten, Frauen in Pumps, Lockenwicklern und Schürzen, Kinder beim Murmelspiel – ein Butterkuchenidyll, gezuckert mit Arbeiterethos, aber düster umrahmt von Ganovenromantik, Kriegsheldenkitsch, Gewalt. Alles an diesem Film – die Story, der Erzählmodus, Licht, Farbe, Kostüme, Szenenbilder, das gesamte Kolorit – alles lieferte diese aus Funk und Fernsehen, in Bild und Ton so vertraute Essenz des 20th Century, die ich bis weit in die 2010er hinein als etwas noch immer Lebendiges, Bestimmendes, Präsentes empfand, wenn auch auf irgendwie großelterliche Art, aber dennoch. Indem ich nun den Fernseher (sic) ausknipste und dieses spezifische Amerika von der Bildfläche verschwand, ging mir erst auf, wie obsolet es wirklich ist – sein Übertritt aus der Realität heraus und hinein in die Sagenwelt der Weltgeschichte ist längst abgeschlossen, und dieser Film ist nur eines seiner unzähligen Denkmäler.
Oder in diesem kleinen Laden am Marktplatz, wo ich neulich die Batterie einer Armbanduhr wechseln ließ. Kein „Juwelier“, sondern „Schmuck- und Uhren-Service“ – klang vielleicht modern, damals. Während sich ein freundlicher Herr am Uhrgehäuse zu schaffen machte, verfolgte ich das Ticken einer Wanduhr im Verkaufsraum, deren Zeiger zwar im Uhrzeigersinn vorangingen, nur zählte das Ziffernblatt dabei die Uhrzeit rückwärts, und diese spielerische Rückwärtsgewandtheit beschrieb einfach alles. In meiner Gegenwart, die von einer Armee von Smartwatches gemessen, vermessen und ausgewertet wird, wirkt jede analoge Uhr wie ein Fossil; ebenso prähistorisch wirkte das Ladengeschäft an sich, mit seiner salz- und pfefferfarbenen Auslegeware, der Raufasertapete und der Neonröhrenbeleuchtung. Reine Vorjahrtausendwende-Luft, Marke Kleinstadt. Mir war, als hörte ich ein Radio, sehr leise, gedämpft, aus einem Hinterzimmer vielleicht, und ich meinte, es spielte „Spending My Time“ von Roxette.
Oder beim Spaziergang entlang des Schiffshebewerks des Elbe-Seitenkanals in Scharnebeck – ab und zu komme ich dort vorbei.
Der Elbe-Seitenkanal verläuft durchs östliche Niedersachsen und verbindet Mittellandkanal und Elbe. Nördlich hinter Lüneburg fällt die Landschaft abrupt ab, der Geestrücken endet hier und der „Heide-Suez“ (regionale Wahrzeichen erhalten unvermeidbar ihre Spitznamen) muss an dieser Stelle einen Sprung von 38 Höhenmetern überwinden. Der Kanal mitsamt Schleusen, Sicherheitstoren und Schiffshebewerk wurde Mitte der Siebziger nach achtjähriger Bauzeit eröffnet – ein brachiales Mega-Projekt aus der goldenen Ära brachialer Mega-Projekte des Westens. Bei seiner Eröffnung war das Doppelsenkrechthebewerk in Scharnebeck das größte Schiffshebewerk weltweit.
Natürlich ist dieser Kanal keine Schönheit. Er ist ein funktionales Monster, eine Wasser-Autobahn. Ein über 100km langes Elend, und zur Breite der Wasserstraße kommt, insbesondere im Elbe-verbundenen Teil, noch eine wuchtige, sehr hohe Eindeichung hinzu, sodass der bauliche Einschnitt also lang und breit die Landschaft dominiert. Ohne Frage ist das Schiffshebewerk für sich genommen ein ebenso monumentaler und nicht eben lieblicher Anblick.
Ich stehe seltsam gern mitten im Hebewerk, im Durchgang unterhalb des oberen Einfahrtbeckens, über mir tausende Tonnen Stahlbeton und Wasser, hinter mir die glatte Schnittkante quer durch die Landschaft und die unterm Hebewerk hindurchführende Straße, und schaue durch die vertikale Flucht zwischen den betongrauen und roten Türmen hinaus ins Blaue. Von diesem Punkt aus kann man dem Schiffsfahrstuhl aus nächster Nähe bei der Arbeit zusehen. Innerhalb der vier Reihen von Führungstürmen transportieren zwei gigantische Tröge die Schiffe hinauf oder hinab. Das mag für Sie womöglich nicht nach Nervenkitzel klingen, aber wissen Sie: Wenn man in einen der 100m langen Tröge hinabschaut und verfolgt, wie ein großes Kanalschiff einfährt und sich im Wasserbecken zurechtmanövriert, die Schiffsmotoren irgendwann verstummen, das Einfahrtstor sich schließt und damit ein wirklich gewaltiges Stück Fluss abtrennt, und wie sich nun die Elektromotoren in Gang setzen und, überraschend geschmeidig und gar nicht dröhnend laut, dieses Stück Fluss sich einfach hebt, nach oben schwebt, direkt vor Ihrer Nase emporfliegt (ein bisschen Wasser schwappt immer über, die Gischt sprüht Ihnen ins Gesicht), 10 Meter hinauf (die stählerne Stirnwand des Trogs ist langsam an Ihnen vorübergeglitten, sie schauen jetzt unterm Trogboden hindurch in die plötzlich blendend blaue Landschaft hinaus), 15 Meter, 20 Meter – jedenfalls: Wenn einen dieses Bombastikum nicht erschlägt, dann weiß ich’s auch nicht.
Das universalmörderische 20. Jahrhundert: erschlagende Technik, erstickender Beton. Alles beherrscht von Kriegslogik. Beide Weltkriege stets im Hinterkopf, wollte man nun den Krieg der Systeme auf dem Schlachtfeld Technik-Infrastruktur-Wirtschaftswachstum entscheiden. Der Bau des Elbe-Seitenkanals wurde notwendig, weil der früher genutzte Wasserweg zwischen Mittellandkanal und Elbe, über Magdeburg verlaufend, leider bald hinter einer Mauer lag; Ausgleich musste her, und bitte gleich mit Renommierpotenzial. Das Bauprojekt schwang jedoch nicht allein die ökonomische Keule in Richtung der DDR, sondern auch die militärische: Man plante den Kanal als Teil der Westverteidigung, als strategische Barriere. Die Kanalböschungen wurden so angelegt, dass sie in bestimmten Abschnitten für Panzerverbände in West-Ost-Richtung querbar wären, in Ost-West-Richtung jedoch nicht; die zivile Wasserstraße ist teils noch heute ausgestattet mit Sprengschächten und Panzersperren.
Was durch diese Anlage fließt, ist der pure Geist des Atomzeitalters. Ein alles andere als milder Geist. Sie wissen schon. Strahlend, hungrig, rigide, getrieben, befehlshaberisch, visionär, gefährlich, verheißungsprall, drastisch, prometheisch, fortschrittssüchtig, gut-und-böse.
Zugleich empfinde ich dieses Ungetüm im Ganzen und den Abschnitt Schiffshebewerk im Speziellen als etwas Erdendes, tatsächlich, ja. Ein sehr großes Fossil aus einer im Grunde sehr kleinen Welt – verglichen mit der heutigen, nicht wahr?
Diese nur-analoge Welt, wo ich meine Kindheit verbrachte (2000 wurde ich volljährig) und die mir lieb war, steht mir heute halb traulich, halb entfremdet vor Augen. Um hinter diese Entfremdung durchs eigene Älterwerden und das allgemeine Anderswerden der Welt zurückschauen, zurückfühlen zu können, muss ich nicht unbedingt Familienfotos von 1987 durchstöbern, sondern meinetwegen eben so ein Schiffshebewerk besuchen. Dieses Ungetüm hier wurde auf Papier entworfen, geplant und kalkuliert. Die Leute setzten sich an ihre Arbeitstische und zeichneten Pläne, berechneten Massen und Kräfte, schrieben Anträge und Aufträge. Mag sein, dass die eine oder andere Schreibtischschublade ein Herrenmagazin, einen Flachmann oder eine Schachtel Weinbrand-Pralinées beinhaltete, aber zwischendurch getwittert wurde hier nicht. Das soll keine Spitze gegen die heutige Bürowelt sein. Man lebte eben im Konkreten.
Die ehedem stets mitgedachte Welt war aus Vergangenheit, gesellschaftlichem und individuellem Erfahrungsvolumen gemacht. Fotografie, Radio und Fernsehen waren bloße Vorboten einer viel tiefgreifender veränderten Weltwahrnehmung: Die stets mitgedachte Welt heute ist das Internet, diese uferlose, ubiquitäre Welterweiterung, dieses im Grunde unbegreifliche Multiversum.
Das 20.Jahrhundert – mir kam das früher vor wie eine Schulstunde, die es einfach abzusitzen galt, zwei Tage vor Ferienbeginn. Ich bin ein Kind der 80er, für mich war dieses Jahrhundert gelaufen, ich könnte da, so auf den letzten Drücker, gefühlt eh nichts mehr gestalten. Gewissermaßen verbrachte ich meine Jugend damit, mich von meinem analogen, meinem westlich orientierten, von Begrifflichkeiten wie „gut“ und „böse“ bestimmten, in Zigarettenrauch gehüllten Jahrhundert zu verabschieden. Das 21.Jahrhundert aber steht mir immer deutlicher bevor wie eine Matheklausur, die über meine Zulassung zum Abitur entscheidet, d.h. über mein weiteres Existieren auf einem rundum nicht wiederzuerkennenden Erdball, und wissen Sie, ich fürchte mich wirklich sehr vor Mathematik. Bis hierhin ist dieses Jahrhundert eine schon längst viel zu komplexe Gleichung für mich, die mit Termen wie Digitalisierung, Globalisierung, Klima, China, Konzern-gesteuerter Politik, Pandemie, veränderter Kommunikation, veränderter Kognition, weißen Turnschuhen, Swag und Populismus, Gentechnik und A.I., und die Liste geht beliebig weiter, arbeitet. Als Erwachsene des 21.Jahrhunderts denke ich in einem permanenten, sehr lauten Strudel von Satzfetzen, Fragen, Aussagesätzen, Ausrufesätzen, Tönen und Bildern, denke stets die konkrete und die erweiterte Welt zugleich, und aus diesem Strudel heraus bilden sich immer neue Gedanken, ganz ähnlich also, wie sich auch Träume bilden, als ein Nebenprodukt, wenn das Gehirn rauschhaft seine sämtlichen Datenbestände auf einmal verarbeitet – ich meine, mein Gehirn selbst funktioniert nicht mehr wie das 20., sondern vielmehr wie das 21.Jahrhundert.
Ich verstehe gut, woher solche Sehnsucht nach einem Aufgehobensein im Konkreten, im Kleinweltlichen kommt, wie sie besonders dort, wo sie am wenigsten erfüllt wird, epidemisch zu Tage tritt: im Internet. Ich verstehe das so gut, dass es mich umso persönlicher ärgert, wenn sich jemand auf einen Baseballschläger oder das Alte Testament oder welche stumpf-plakative Lösung auch immer stützt, um diese Sehnsucht zu bedienen. Dieser Selbstbeschiss – auf Kosten anderer, auf Kosten aller.
Das Schiffshebewerk, wissen Sie, ist längst eingerüstet, seine Sanierung ist im Gange. Derzeit ist nur einer der beiden Tröge noch fahrbar; die Bauträger zerbrechen sich die Köpfe, mit welchen Lösungen sich das Ungetüm, das an Betonkrebs leidet, retten ließe. Ich bin gelernte Buchhändlerin, bin dem smarten Digitalkram meiner Zeit nicht gewachsen und besitze durchaus noch weitere fossile Qualitäten; ich stehe oft da und beobachte, wie dieses mächtige Ungetüm einerseits einen Fluss fliegen lässt und zugleich doch im Sterben liegt, was winzige Menschenhände mit mühsamen, akribischen Eingriffen verborgen hinter Bauplanen verzögern, und denke dabei: Du und ich, Ungetüm.
Der Bundesverkehrswegeplan 2030 sieht den Neubau einer Schleuse vor, direkt neben dem Schiffshebewerk. Noch größeres Volumen soll bewegt werden, noch effizienter, dabei so umweltverträglich wie möglich, und bitte ohne verheerende Kostenexplosion; hier wird entworfen, geplant und kalkuliert, dass die Heide wackelt.
Auch ich muss mich ans Rechnen machen. Es nützt nichts. Egal ob man sie nun fürchtet oder nicht – es geht ja kein Weg vorbei an der komplexen Mathematik der Gegenwart und Zukunft.
Foto: Grebe, 2020