In der Frühe sucht das Kommende seinen Namen
In der Frühe sucht das Kommende seinen Namen
Über den schläfrigen Stämmen funkelt das Licht
Berge galoppieren an die Ufer des Meeres
Die Sonne dringt sporenblitzend in die Fluten
Der Stein stürmt an und zerschmettert Strahlen
Es trotz das Meer und schwillt am Fuß des Horizonts
Verworrene Erde Einbruch von Skulptur
Die Welt erhebt ihre noch nackte Stirn
Ein Stein geschliffen und glatt um ein Lied drin einzugraben
Das Licht entfaltet seinen Fächer von Namen
Und ein Hymnus beginnt wie ein Baum
Und Wind ist da und schöne Namen im Wind
(Octavio Paz)
Alles erkämpft sich Neuheit, Freiheit, Unberührtheit. Wie un-episch der eigene kleine Aufbruch im Weltgefüge auch erscheinen mag – Veränderung ist ein Gefühlsding, und Dinge des Gefühls sind unabhängig von Dimensionen. Praktisch gesprochen: Octavio Paz hilft mir mal wieder beim Kofferpacken. (Es geht zurück in die Heimat – da waren wir schon mal, zusammen, Octavio.)
Ein Schritt ins Gestern: Gefragt nach meiner ersten prägenden Leseerfahrung, antworte ich ohne zu zögern J.D. Salinger, The Catcher in the Rye. Ich hatte, da mir der Englischunterricht Spaß machte, mit 13 beschlossen, ein Buch im englischen Original zu lesen – nur für mich, unabhängig vom Schulunterricht. Also stiefelte ich in die Bibliothek meiner neuen Schule, griff orientierungslos in ein mit ENG-LIT überschriebenes Regal hinein und nahm recht wahllos ein Buch mit abgegriffenem silber-grauem Umschlag heraus. Altersangaben interessierten mich nicht, und kinder- und jugendgerechte Umschlaggestaltung wirkte auf mich eher abschreckend. Man muss dazu wissen: Ich war nie ein Lesekind, sondern ein Dorf- und Wiesenstreuner. Und in meinem bäuerlich-proletarischen Zuhause mangelte es sehr an Büchern, jedoch keineswegs an Geschichten: In meiner Familie funktioniert die mündliche Tradierung von Familienepisoden und innerhalb der Familie erzählten Märchen (wobei die Trennlinie zwischen jenen Kategorien gelegentlich unkenntlich ist) bis heute erstaunlich ungebrochen. Meine Kindheit verbrachte ich unter einem Dach mit den Alten und Uralten der Familie und hörte die Familiengeschichten somit nicht nur aus unzähligen Perspektiven, sondern zudem auf Hochdeutsch, Plattdeutsch und mit ostpreußischem Einschlag. Für mich kamen Kindergeschichten nicht heran an die Intensität jener Familiengeschichten, auf die ich quasi per Geburt ein besonderes Besitzrecht innehatte: Sie entstammten meiner Familie und wurden mir und meinen Geschwistern zur Weitergabe erzählt. Es gab für lange Zeit eigentlich nur zwei Bücher, die in ähnlichem Maße die Empfindung in mir hervorriefen, ihre Geschichten beträfen mich direkt und sie würden nur für mich erzählt: Erstens Maurice Sendak, Wo die wilden Kerle wohnen, das ich inzwischen meinem Sohn vorlese, obwohl die Seiten kaum noch zusammenhalten, und zweitens Mark Twain, Die Abenteuer des Tom Sawyer und Huckleberry Finns Abenteuer in einem bereits damals von meiner Schwester reichlich zerlesenen Doppelband. The Catcher in the Rye war nun das erste Buch, in dem ich mich als angehende Jugendliche plötzlich emotional verfing, denn ich fand darin einen verstehenden Widerhall, ich sah mich selbst. Von da an las ich alles, was mir in die Finger geriet, ohne jegliche Überlegung daran zu verschwenden, ob das jeweilige Buch für mich geeignet sein könnte oder vielleicht doch ein wenig zu viel des Guten wäre. Was ich nicht verstand, versuchte ich mir selbst zu erarbeiten – klappte das nicht, legte ich es ohne Wehmut für später bei Seite. Diese Herangehensweise folgte keinem System, sondern willkürlich dem einfachen Prinzip Try&Error. An dem Steppenwolf und an dem allen solchen Wölfen eigenen Geheul – Howl (ich hatte da deutsche und englische Ausgaben) blieb ich mit dem Herzen für ein heftiges Weilchen hängen, Cormac MacCarthys Border-Trilogie dagegen verwuchs nachhaltig mit meiner Seele, seit sie in durchlesenen Nächten die jugendliche Pathetik von mir schrubbte. Und dann: Julio Cortázar, Rayuela. Dieses Buch hatte ich nichtsahnend aus der Wühlkiste des Antiquariats meines Vertrauens gerupft, fand das Cover gut, las zwei Seiten und verstand kein Wort. Natürlich kramte ich also den für Notfälle reservierten 10-Mark-Schein aus der Hosentasche und fing noch auf dem Rückweg nach Hause (mit Schülerticket per U-Bahn, Regionalexpress und schließlich Bus eine Ewigkeit zwischen Großstadt und Dorf überbrückend) an mich einzulesen. Nach zwei Tagen gefährlicher Hirnüberlastung und ebenso unguter Vernachlässigung jeglicher Schulpflichten schien endlich ein neu entstandenes Rädchen in meinem Kopf in die bis dahin überforderte Verstehensmechanik einzurasten und auf einen Schlag begriff ich, was ich da las. Wochenlang war ich völlig cortázarisiert und investierte in der Folge sämtliche Einnahmen aus Zeitungsaustragen und Babysitten in einen stetig wachsenden Stapel Bücher mittel- und südamerikanischer Autoren: Neben dem großen JC fanden sich dort Jorge Luis Borges, Ernesto Cardenal, Octavio Paz, Pablo Neruda, Carlos Fuentes, Adolfo Bioy Casares. Wie frustrierend war es damals, in Prä-Internetverkauf-Zeiten, während seltener Ausflüge in die eigentlich nahe Großstadt nach einem Teegeschäft zu suchen, in dem ich Yerba-Mate-Tee und eine kleine Kalebasse mit Trinkröhrchen (Bombilla) bekommen könnte. Die Rinderherden vor der Haustür konnten, kniff man die Augen leicht zusammen, etwas argentinisches Gefühl aufkommen lassen, aber eine Einstimmung auf meine Sehnsuchtsziele, die fortan Buenos Aires, Valparaiso, Mexico City und Montevideo hießen, ließ sich zwischen Kittelschürzen und Zuckerrüben leider unmöglich herstellen.
Das erste Buch, das ich nach dem Abitur, kurz vor dem Auszug aus dem Elternhaus in die nächstgelegene Großstadt kaufte, war ein neues Tagebuch, das ich mit einem Zitat von Octavio Paz begann, dessen Tod zu jenem Zeitpunkt noch nicht allzu lang her war:
<Die Dichtung, Hängebrücke zwischen Geschichte und Wahrheit, ist nicht ein Weg zu dem oder jenem: sie ist Schauen der Ruhe in der Bewegung, des Übergangs in der Ruhe. Die Geschichte ist der Weg: er führt nirgendwohin, wir alle beschreiten ihn, die Wahrheit ist ihn zu beschreiten. Wir gehen nicht, wir kommen nicht: wir sind in den Händen der Zeit. Die Wahrheit: uns zu wissen, von Anfang an in der Schwebe, Brüderlichkeit über der Leere.>
Mir gab dieses Zitat ein ganz spezifisches, bis heute abrufbares Gefühl. Als erwachsen empfand ich mich nicht etwa ab dem Tag der Schulverabschiedung, das Abschlusszeugnis in Händen, oder ab dem Tag, da ich ein eigenes Paar Autoschlüssel bekam, auch nicht, als ich mein Bett in einem neuen Haus aufstellte und eine erste eigene Adresse besaß. Erwachsen fühlte ich mich, als mir aufging, dass die Begriffe Leben und Dichtung schlicht dasselbe meinen: mich selbst zu erzählen. Dafür war es nun irgendwie an der Zeit. Alle Geschichten, die ich aus meiner Familie gehört hatte, waren Lebensgeschichten gewesen – erst, als ich begriff, dass diese erzählerische Tradition nicht nur Wesenszüge und Lebensrealitäten meiner Vorfahren an mich weitergab, sondern auch die Forderung an mich stellte, eine eigene Geschichte dieser fortlaufenden Kette anzugliedern, verstand ich, dass Sich-erzählen bewusst ins Leben zu treten bedeutet. Und ich glaube seither, dass auch diejenigen Autoren, deren Geschichten mir wirklich etwas bedeuteten, nichts anderes getan haben als genau das: sich selbst zu erzählen – ganz gleich, wie viele verschiedene literarische Formen das auch bei ihnen angenommen hat. Im Übrigen finden sich in jenem Tagebuch, dessen Torwächter ein Octavio-Paz-Zitat war, wohl keine literarischen Kostbarkeiten. Insgesamt ist mein Leben keine Heldengeschichte und kein anspruchsvoller Roman. Übrigens war ich nie in Buenos Aires, Valparaiso, Mexico City, Montevideo. Darauf aber kommt es nicht an. Egal, welcher Art unsere Leben sind – erst indem wir sie erzählen, schließen wir uns ein in die <Brüderlichkeit über der Leere>.
Bild: Schwalbenflug (Grebe, 2012)