LATEINAMERIKA > Octavio Paz als Aufbruchsbegleiter

Neon-Schwalbe, Sonja Grebe

In der Frühe sucht das Kommende seinen Namen

In der Frühe sucht das Kommende seinen Namen
Über den schläfrigen Stämmen funkelt das Licht
Berge galoppieren an die Ufer des Meeres
Die Sonne dringt sporenblitzend in die Fluten
Der Stein stürmt an und zerschmettert Strahlen
Es trotz das Meer und schwillt am Fuß des Horizonts
Verworrene Erde Einbruch von Skulptur
Die Welt erhebt ihre noch nackte Stirn
Ein Stein geschliffen und glatt um ein Lied drin einzugraben
Das Licht entfaltet seinen Fächer von Namen
Und ein Hymnus beginnt wie ein Baum
Und Wind ist da und schöne Namen im Wind

(Octavio Paz)

Alles erkämpft sich Neuheit, Freiheit, Unberührtheit. Wie un-episch der eigene kleine Aufbruch im Weltgefüge auch erscheinen mag – Veränderung ist ein Gefühlsding, und Dinge des Gefühls sind unabhängig von Dimensionen. Praktisch gesprochen: Octavio Paz hilft mir mal wieder beim Kofferpacken. (Es geht zurück in die Heimat – da waren wir schon mal, zusammen, Octavio.)


Ein Schritt ins Gestern: Gefragt nach meiner ersten prägenden Leseerfahrung, antworte ich ohne zu zögern J.D. Salinger, The Catcher in the Rye. Ich hatte, da mir der Englischunterricht Spaß machte, mit 13 beschlossen, ein Buch im englischen Original zu lesen – nur für mich, unabhängig vom Schulunterricht. Also stiefelte ich in die Bibliothek meiner neuen Schule, griff orientierungslos in ein mit ENG-LIT überschriebenes Regal hinein und nahm recht wahllos ein Buch mit abgegriffenem silber-grauem Umschlag heraus. Altersangaben interessierten mich nicht, und kinder- und jugendgerechte Umschlaggestaltung wirkte auf mich eher abschreckend. Man muss dazu wissen: Ich war nie ein Lesekind, sondern ein Dorf- und Wiesenstreuner. Und in meinem bäuerlich-proletarischen Zuhause mangelte es sehr an Büchern, jedoch keineswegs an Geschichten: In meiner Familie funktioniert die mündliche Tradierung von Familienepisoden und innerhalb der Familie erzählten Märchen (wobei die Trennlinie zwischen jenen Kategorien gelegentlich unkenntlich ist) bis heute erstaunlich ungebrochen. Meine Kindheit verbrachte ich unter einem Dach mit den Alten und Uralten der Familie und hörte die Familiengeschichten somit nicht nur aus unzähligen Perspektiven, sondern zudem auf Hochdeutsch, Plattdeutsch und mit ostpreußischem Einschlag. Für mich kamen Kindergeschichten nicht heran an die Intensität jener Familiengeschichten, auf die ich quasi per Geburt ein besonderes Besitzrecht innehatte: Sie entstammten meiner Familie und wurden mir und meinen Geschwistern zur Weitergabe erzählt. Es gab für lange Zeit eigentlich nur zwei Bücher, die in ähnlichem Maße die Empfindung in mir hervorriefen, ihre Geschichten beträfen mich direkt und sie würden nur für mich erzählt: Erstens Maurice Sendak, Wo die wilden Kerle wohnen, das ich inzwischen meinem Sohn vorlese, obwohl die Seiten kaum noch zusammenhalten, und zweitens Mark Twain, Die Abenteuer des Tom Sawyer und Huckleberry Finns Abenteuer in einem bereits damals von meiner Schwester reichlich zerlesenen Doppelband. The Catcher in the Rye war nun das erste Buch, in dem ich mich als angehende Jugendliche plötzlich emotional verfing, denn ich fand darin einen verstehenden Widerhall, ich sah mich selbst. Von da an las ich alles, was mir in die Finger geriet, ohne jegliche Überlegung daran zu verschwenden, ob das jeweilige Buch für mich geeignet sein könnte oder vielleicht doch ein wenig zu viel des Guten wäre. Was ich nicht verstand, versuchte ich mir selbst zu erarbeiten – klappte das nicht, legte ich es ohne Wehmut für später bei Seite. Diese Herangehensweise folgte keinem System, sondern willkürlich dem einfachen Prinzip Try&Error. An dem Steppenwolf und an dem allen solchen Wölfen eigenen Geheul  – Howl (ich hatte da deutsche und englische Ausgaben) blieb ich mit dem Herzen für ein heftiges Weilchen hängen, Cormac MacCarthys Border-Trilogie dagegen verwuchs nachhaltig mit meiner Seele, seit sie in durchlesenen Nächten die jugendliche Pathetik von mir schrubbte. Und dann: Julio Cortázar, Rayuela. Dieses Buch hatte ich nichtsahnend aus der Wühlkiste des Antiquariats meines Vertrauens gerupft, fand das Cover gut, las zwei Seiten und verstand kein Wort. Natürlich kramte ich also den für Notfälle reservierten 10-Mark-Schein aus der Hosentasche und fing noch auf dem Rückweg nach Hause (mit Schülerticket per U-Bahn, Regionalexpress und schließlich Bus eine Ewigkeit zwischen Großstadt und Dorf überbrückend) an mich einzulesen. Nach zwei Tagen gefährlicher Hirnüberlastung und ebenso unguter Vernachlässigung jeglicher Schulpflichten schien endlich ein neu entstandenes Rädchen in meinem Kopf in die bis dahin überforderte Verstehensmechanik einzurasten und auf einen Schlag begriff ich, was ich da las. Wochenlang war ich völlig cortázarisiert und investierte in der Folge sämtliche Einnahmen aus Zeitungsaustragen und Babysitten in einen stetig wachsenden Stapel Bücher mittel- und südamerikanischer Autoren: Neben dem großen JC fanden sich dort Jorge Luis Borges, Ernesto Cardenal, Octavio Paz, Pablo Neruda, Carlos Fuentes, Adolfo Bioy Casares. Wie frustrierend war es damals, in Prä-Internetverkauf-Zeiten, während seltener Ausflüge in die eigentlich nahe Großstadt nach einem Teegeschäft zu suchen, in dem ich Yerba-Mate-Tee und eine kleine Kalebasse mit Trinkröhrchen (Bombilla) bekommen könnte. Die Rinderherden vor der Haustür konnten, kniff man die Augen leicht zusammen, etwas argentinisches Gefühl aufkommen lassen, aber eine Einstimmung auf meine Sehnsuchtsziele, die fortan Buenos Aires, Valparaiso, Mexico City und Montevideo hießen, ließ sich zwischen Kittelschürzen und Zuckerrüben leider unmöglich herstellen.

Das erste Buch, das ich nach dem Abitur, kurz vor dem Auszug aus dem Elternhaus in die nächstgelegene Großstadt kaufte, war ein neues Tagebuch, das ich mit einem Zitat von Octavio Paz begann, dessen Tod zu jenem Zeitpunkt noch nicht allzu lang her war:

<Die Dichtung, Hängebrücke zwischen Geschichte und Wahrheit, ist nicht ein Weg zu dem oder jenem: sie ist Schauen der Ruhe in der Bewegung, des Übergangs in der Ruhe. Die Geschichte ist der Weg: er führt nirgendwohin, wir alle beschreiten ihn, die Wahrheit ist ihn zu beschreiten. Wir gehen nicht, wir kommen nicht: wir sind in den Händen der Zeit. Die Wahrheit: uns zu wissen, von Anfang an in der Schwebe, Brüderlichkeit über der Leere.>

Mir gab dieses Zitat ein ganz spezifisches, bis heute abrufbares Gefühl. Als erwachsen empfand ich mich nicht etwa ab dem Tag der Schulverabschiedung, das Abschlusszeugnis in Händen, oder ab dem Tag, da ich ein eigenes Paar Autoschlüssel bekam, auch nicht, als ich mein Bett in einem neuen Haus aufstellte und eine erste eigene Adresse besaß. Erwachsen fühlte ich mich, als mir aufging, dass die Begriffe Leben und Dichtung schlicht dasselbe meinen: mich selbst zu erzählen. Dafür war es nun irgendwie an der Zeit. Alle Geschichten, die ich aus meiner Familie gehört hatte, waren Lebensgeschichten gewesen – erst, als ich begriff, dass diese erzählerische Tradition nicht nur Wesenszüge und Lebensrealitäten meiner Vorfahren an mich weitergab, sondern auch die Forderung an mich stellte, eine eigene Geschichte dieser fortlaufenden Kette anzugliedern, verstand ich, dass Sich-erzählen bewusst ins Leben zu treten bedeutet. Und ich glaube seither, dass auch diejenigen Autoren, deren Geschichten mir wirklich etwas bedeuteten, nichts anderes getan haben als genau das: sich selbst zu erzählen – ganz gleich, wie viele verschiedene literarische Formen das auch bei ihnen angenommen hat. Im Übrigen finden sich in jenem Tagebuch, dessen Torwächter ein Octavio-Paz-Zitat war, wohl keine literarischen Kostbarkeiten. Insgesamt ist mein Leben keine Heldengeschichte und kein anspruchsvoller Roman. Übrigens war ich nie in Buenos Aires, Valparaiso, Mexico City, Montevideo. Darauf aber kommt es nicht an. Egal, welcher Art unsere Leben sind – erst indem wir sie erzählen, schließen wir uns ein in die <Brüderlichkeit über der Leere>.


Bild: Schwalbenflug (Grebe, 2012)


LATEINAMERIKA > Timo Berger (Hrsg.), Popcorn unterm Zuckerhut

Kurzes Brasilien-Brainstorming: Amazonas, Karneval in Rio, Samba, Copacabana, João Gilberto, Kaffeeplantage, ach ja – Fußball-WM, Frauen von beneidenswerter Schönheit, Telenovela. Wer nun glaubt, dieser Buchtipp ginge konform mit der Reisebüro-Darstellung jenes gewaltigen Flächenlandes am anderen Ufer des Atlantiks, der irrt. Popcorn unterm Zuckerhut – diese Anthologie brasilianischer Kurzgeschichten habe ich (bekennende Herbst-Verweigerin) nicht etwa deshalb ausgewählt, um mich zwischen schöne Menschen an schöne Strände zu träumen, sondern wegen der konzentrierten Dosis lateinamerikanischer Doppelbödigkeit, die den kurzen und doch von viel Leben erfüllten Erzählungen innewohnt. Unter aller Melancholie, Tagträumerei oder sanfter Verliebtheit der Charaktere lauern hier Abgründe. Mal klafft so ein Abgrund dem Leser ganz plakativ entgegen, wie im Falle des Clowns, der in der Geschichte Rot und Weiß von Estevão Azevedo während seiner Auftritte bei Kindergeburtstagen seine elende Existenz unter dem grell geschminkten Lächel-Mund verschwinden lässt und damit im Ganzen als Mensch verschwindet. Oder in den Bekenntnissen eines heimlichen Tierquälers, der die Historie seiner Untaten offenlegt – eine schauderhafte Erzählung von Leandro Salgueirinho, die mit dem gefühlskalten Titel Versuchsanordnung Nr.5 überschrieben ist. In Die Zwerge erweist sich ein harmlos beginnender Besuch in der Konditorei als soziale Versuchsanordnung: Auf nur fünf Seiten zeichnet Veronica Stigger den gruppendynamischen Mechanismus nach, der aus heiterem Himmel eine Eskalation von Gewalt bewirken kann. Andernorts zeigen sich Abgründe der Liebe, bei Daniel Galera etwa, der einen jungen Mann von seiner Jugendliebe erzählen lässt: Laila, die Unerreichbare, die heimlich Angebetete, nach der er sich vom Kindergarten an vergeblich verzehrte und die ihm nur gönnerhaft den Kumpelstatus zugestand, um ihn als Bewunderer an sich zu binden, die überirdische Laila also, kommt nun, da der junge Mann eine Andere heiratet und Vater wird, auf ihn zurück, sagt endlich Ja zu ihm – aber was sagt er? Und in Camping Calamares erzählt Andréa del Fuego die Geschichte einer schäbig Sitzengelassenen, eine Kleine-Leute-Tragödie – wie Roberto Bolaño als Hausmeister in diese Geschichte passt, muss man schon selbst herausfinden.

Popcorn unterm Zuckerhut: Pipoca nennt man in Brasilien diesen Snack, den Straßenverkäufer an der Copacabana anbieten. Man kann dort aus verschiedensten Geschmacksrichtungen wählen, karamellisiert, gesalzen, pikant gewürzt – ganz ähnlich wie bei diesen Geschichten. Es sind 20 junge brasilianische Autoren, geboren zwischen 1968 und 1981, deren Kurzgeschichten in dieser Anthologie versammelt sind. Sehr verschieden in Temperament und Ton, doch von gemeinsamer Eigenwilligkeit. Zusammengestellt wurden sie von Timo Berger, dessen Verdienst um die Veröffentlichung lateinamerikanischer Prosa und Lyrik hierzulande gar nicht genug gelobt werden kann: Seine zwischen Berlin und Buenos Aires pendelnde Tätigkeit umfasst neben Übersetzungen aus dem Argentinischen, Chilenischen und Brasilianischen auch die Organisation verschiedener Poesiefestivals, regelmäßige Beiträge in Literaturzeitschriften, herausgeberschaftliche Projekte sowie eigene literarische Veröffentlichungen in verschiedenen Sprachen. Neben Berger selbst, treten in dieser Anthologie Odile Kennel, Michael Kegler und weitere Übersetzer auf, denen ein großer Anteil an diesem Leseerlebnis gebührt.


> Timo Berger (Hrsg.), Popcorn unterm Zuckerhut (Wagenbach)

LATEINAMERIKA > Guillermo Saccomanno, Der Angestellte

Die Parade-Disziplin lateinamerikanischer Literatur ist sicherlich der Magische Realismus. Dieser muss nicht zwangsläufig der klassischen Fantasy in solchem Maße ähneln wie es beispielsweise in vielen Romanen Isabel Allendes der Fall ist. Magischer Realismus zeichnet sich ganz allgemein durch das gleichberechtigte Nebeneinander realer und unrealer Elemente im Erzählten aus. Vertreter dieser Form der Phantastik finden sich natürlich nicht nur im Lateinamerikanischen, wo mit Julio Cortázar mein diesbezüglicher Liebling beheimatet ist. Unter den Deutschsprachlern kämen mir als erstes Marlen Haushofer, Die Wand oder Christian Kracht, Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten dazu in den Sinn; international Haruki Murakamis Romane und Erzählungen.

Auf dieser Ebene der Phantastik ist auch der Roman Der Angestellte des argentinischen Schriftstellers Guillermo Saccomanno angesiedelt. Wie der Titel suggeriert, befindet man sich ab der ersten Seite in einem Büro-Roman, dieser erweitert sich jedoch umgehend um das Volumen einer brachial-brutalen Dystopie. Saccomanno schafft eine Giftmischung aus Kleine-Leute-Sujet, Film Noir und nihilistischer Philosophie: Es ist die Schilderung einer Gesellschaft während der Apokalypse. Da der Explicit-Content-Hinweis, der manches Musikalbum ziert, in der Buchbranche keine Anwendung findet, nehme ich am Besten gleich an dieser Stelle vorweg: Allzu zarten Gemütern ist dringend von diesem Roman abzuraten.

Vorsicht, sagt er sich. Vorsicht vor mir. Ich bin nämlich ein anderer. 

Vielleicht sind wir das alle, mal in größerem, mal kleinerem Maße: Lebt nicht jeder von uns einem jeden Anderen gegenüber eine etwas andere Variante seiner selbst aus? Guillermo Saccomannos Angestellter, dessen Gedankenstimme diesen Roman erzählt, könnte mit diesem Satz durchaus den Leser zur Identifikation mit ihm, dem Protagonisten einladen. Zusätzlich versetzt der Anklang an Rimbauds Formel Ich ist ein Anderer den Leser in die Erwartung einer poetisch gearteten Selbstbefreiung. Der Nachhall der wiederholten Warnung Vorsicht löst jedoch nicht grundlos ein ungut in der Magengrube liegendes Gefühl aus.

Es gibt keinen Namen für den Angestellten, und es braucht auch keinen: In dieser Welt hat sich der Mensch auf seine Funktion reduziert, Leben an sich besitzt keinen eigenständigen Wert mehr. Neben dem Angestellten gibt es die Sekretärin, den Kollegen, den Chef, die Frau, das Kind, den Obdachlosen usw. Individualität ist ein nicht anwendbarer Begriff, bedingungslose Austauschbarkeit ist die Eigenschaft und das Schicksal aller. Darüber entwickelt man als Leser jedoch keine von Mitleid geprägten Empfindungen für den Protagonisten, der jenem beklemmenden Umfeld ausgesetzt ist. Im Gegenteil. Anstatt teilnehmender Identifikation erwirkt der Einblick in seine Sichtweisen einen unbehaglichen Widerwillen gegen ihn. Der Angestellte selbst erweist sich als geistiges Kind seiner Umwelt, ist charakterlich entstellt durch die Anpassung an eine empathielose, lebensfeindliche Zeit.

Zunächst fällt es nicht leicht diese Zeit einzuordnen: Horden verwilderter Klonhunde streunen durch die Stadt, eine Plage alles vernichtender Fresser, die sich über Obdachlose hermachen und von Taxifahrern systematisch überfahren werden. Im Widerspruch zum Futurismus, den die Klone und das Szenario eines Molochs, dessen Ausmaße weit über den zeitgenössischen Begriff von Großstadt hinausgehen, ausdrücken, stehen die Verweise auf eine analoge Welt: Im Büro wird mit Bleistift, Papier und Schnurtelefon hantiert. Saccomanno lässt den Leser mit der Entschlüsselung der herrschenden Rahmenbedingungen zwar allein, doch bald entwickelt sich beim Lesen eine Vorstellung von einem Ausnahmezustand nach dem Zusammenbruch einer digital gestützten Weltordnung. Sicher ist nur, dass sich eine totalitäre Ökonomie etabliert hat, die unbegrenzte und willkürliche Verfügungsgewalt über das Material Mensch besitzt.

Bereits offen sichtbare Emotionen bedeuten einen Makel, der zur Aussortierung aus dem System führen kann. Der Angestellte taugt seiner Konditionierung wegen nicht dazu, in die Riege der Machtmenschen aufzusteigen, die in seinem Umfeld über Bestand und Vernichtung von Existenzen entscheiden, doch gerade das Bewusstsein seiner eigenen Kläglichkeit, seiner Unfähigkeit zur Wirkung erfüllen ihn mit perfider Energie. In seiner funktionalen Außenhülle verschließt er seinen im Überkochen begriffenen Hass auf seine Mitmenschen, die sich ebenso wie er in psychologischen Sonderzuständen befinden – so wird beispielsweise sein Familienleben als wahres Höllenszenario geschildert: Seine aggressive, fettsüchtige Frau und die monströsen Kinder zwängen den Angestellten in den eigenen vier Wänden in eine Sklavenrolle. Das Aufbrechen dieser Rolle gelingt dem Angestellten nur in einem den Leser nicht überraschenden, ihn dennoch erschreckenden Vernichtungsakt. Auslöser für den Wandel des Angestellten vom Sklaven zum Zerstörer ist eine Begegnung. Permanent schwebt dem Angestellten die Idee einer Frau vor Augen, einer Frau, die dem rätselhaften Wort Liebe einen Inhalt verleihen könnte, einer, für die man alles auf eine Karte setzen und den Schritt in ein anderes Leben wagen würde. Zum Beispiel indem man, wie es der Angestellte so gut beherrscht, die Unterschrift des Chefs fälscht, um mit manipulierten Checks Geld zu unterschlagen, mit dem man sich dann ins Ausland absetzt. Für sich allein erscheinen ihm solche Abenteuer sinnlos, erst die ersehnte Frau gäbe ihm Antrieb und Berechtigung zum Sündenfall, zum Ausstieg aus dem anti-paradiesischen System. Eines Nachts, nachdem er seine Arbeit beendet hat und sich widerwillig auf den Heimweg vorbereitet, trifft er unerwartet auf die Sekretärin des Chefs, die sich heulend in einem Büroraum verkrochen hat. Er nimmt sich ihrer an und begleitet sie bis in ihre Wohnung. Dies ist nun also die Begegnung, die bewirkt, dass sein inneres Wesen nach außen bricht.

Von dort an braust ein Strudel aus Perversionen und gleichgültiger Gewalt durch den Roman ohne auf ausgleichende Elemente zu stoßen. Wer beim Stichwort Dystopie beispielsweise Cormac McCarthy, Die Straße vor Augen hat, erinnert sich sehr deutlich an die Schwärze des Weltendes, doch wird dort, aller Entmenschlichung zum Trotz, ein leuchtendes Flämmchen des Menschlichen weitergetragen, das in jener Schwärze nur umso klarer erstrahlt. Saccomannos Finsternis dagegen ist in ihrer Ausschließlichkeit beinahe langweilig. Die junge Sekretärin erweist sich – man ahnt das bereits – nicht als Heilsfigur, sondern als blutgierige Untergangsfee. Der Angestellte und sie treten nicht in Kontrast zum System, sondern führen die Wege des Systems im Individuellen fort. In Der Angestellte leuchtet kein Flämmchen, nur die kalt-gleißenden Suchscheinwerfer der Hubschrauber, die durch die Nächte patrouillieren, reißen gefährlich grelle Schneisen ins Dunkel.

Der Angestellte gehört zu diesen Büchern, die ich nach zwanzig Seiten weglegen wollte. Ähnlich, wie es mir bei Charlotte Roche, Feuchtgebiete erging, erschöpft sich der Sinn des Angestellten für mich im Ausprobieren eines bestimmten Tons, der Reizwirkung entfalten soll – dessen Austestung allein ermüdet mich jedoch, wenn es nicht ebenso auf inhaltlicher Ebene etwas zu entdecken gibt. Etwas in meinem Verhältnis zum Angestellten hat sich allerdings schlagartig verändert, während ich vollkommen entsetzt die Meldungen über das Verschwinden der 43 Studenten in Mexiko und die verschiedenen Aufklärungswege zu diesem Geschehen verfolgte. Dieser Fall, der ganz und gar nicht beispiellos, nur in besonderem Maße auffällig ist, zeigt ein gegenwärtiges Abgrund-Szenario: Die Grenze zwischen Staatsmacht und krimineller Gewalt ist aufgehoben, über menschliches Leben wird willkürlich verfügt, die Erde ist voll von nicht identifizierbaren Leichen – es finden sich mehr davon als es Gesuchte gibt. Vielleicht, denke ich, ist Saccomanno eben nicht einfallslos in seinem Erzählen, vielleicht erinnert er vielmehr sehr absichtsvoll und ernstzunehmend daran, wie böse diese Gegenwart bereits ist, deren Projektion in eine unbestimmte Zukunft in Der Angestellte so finster ausfällt. Wahrscheinlich ist diese seltsame Zukunft in Wahrheit sogar ebendiese Gegenwart, in einer zwar einseitig auf das Böse zugespitzten Darstellung, jedoch existent – im Diesseits, außerhalb des Buchdeckels.


> Guillermo Saccomanno, Der Angestellte (Kiepenheuer&Witsch)

LATEINAMERIKA > Perkussives Jazz-Piano: Gonzalo Rubalcaba


Als Sohn eines Pianisten und Enkel eines Komponisten kam der 1963 in Havanna geborene Gonzalo Rubalcaba von Kindheit an insbesondere mit europäischer Konzertmusik in Berührung. Er selbst wandte sich zunächst dem Schlagzeug zu, nahm später jedoch die väterliche und großväterliche Prägung auf und durchlief eine klassische Musikausbildung in den Fächern Perkussion, Klavier und Komposition. Der Einfluss auch populärer kubanischer Musik ist stark in seinem eigenwillig rhythmisch orientierten Klavierspiel spürbar. Bereits in den 1980er Jahren führten ihn Konzertreisen ins lateinamerikanische Ausland, später auch nach Europa. Dizzy Gillespie, der viele Zusammenarbeiten mit lateinamerikanischen Musikern unternahm (beispielsweise entstand gemeinsam mit Chano Pozo der Klassiker Manteca) und sich besonders gern im afrokubanischen Bereich bewegte, wurde ab Mitte der 80er zu Rubalcabas Freund und Förderer. 1990 ging Rubalcaba in die Dominikanische Republik, seit 1996 leben er und seine Familie in den USA – in Florida, wie so viele Exil-Kubaner. Zu seinen engen Wegbegleitern zählen neben Dizzy Gillespie Charlie Haden und Paul Motian, mit denen er in einem gemeinsamen Trio spielte, oder auch Jack DeJohnette und Chick Corea.


(Diesen Jazz-Standard – Autumn Leaves – in Rubalcaba-Variante mag ich auch nicht für mich behalten. Angesichts dieser Prachtbeispiele von 90er-Jahre-Herrenmode konnte ich mich allerdings erst im zweiten Anlauf so richtig auf die musikalische Ebene konzentrieren…)

LATEINAMERIKA > Fridas Farben

Sonja Grebe, Frida

In ihrem Tagebuch stellt Frida Kahlo einen persönlichen Farb-Kanon auf, der jeder Farbe eine empfundene Bedeutung zuweist:

  • Grün: warmes, gutes Licht.
  • Rötliches Purpur: aztekisch, Tlapalli, altes Blut des Birnenkaktus, die lebendigste und älteste Farbe.
  • Braun: Farbe des Muttermals, des vergehenden Blattes, die Erde.
  • Gelb: Wahnsinn, Krankheit, Angst. Ein Teil der Sonne und der Freude.
  • Kobaltblau: Elektrizität und Reinheit. Liebe.
  • Schwarz: nichts ist schwarz, wirklich überhaupt nichts.
  • Laubgrün: Blätter, Trauer, Wissenschaft. Ganz Deutschland hat diese Farbe. (Anmerkung: Ihr deutscher Vater wanderte als 19jähriger nach Mexiko aus, wo er den Namen Wilhelm ins entsprechende, spanische Guillermo änderte.)
  • Grünliches Gelb: noch mehr Wahnsinn und Geheimnis; alle Gespenster tragen Anzüge in dieser Farbe, oder zumindest kommt die Farbe in der Unterkleidung vor.
  • Marineblau: Entfernung. Auch Zärtlichkeit kann von diesem Blau sein.
  • Magenta: Blut? Na wer weiß?!

Sie schreibt dies zu Beginn der 40er Jahre, mit Anfang dreißig. Hinter ihr liegt zu jenem Zeitpunkt eine Reihe von ins Mark schneidenden Geschehnissen und Entwicklungen: Als Kind einerseits die Einengung durch das strengst katholische Weltbild der Mutter, andererseits die körperliche Einschränkung durch Kinderlähmung, infolge derer Frida Kahlo ein verkürztes Bein behält. Ein Unfall, der sie als Achtzehnjährige mit schwersten Hüftverletzungen und deren quälenden Folgen ans Bett fesselt und in ein Stahlkorsett zwingt. Ihre Entdeckung der Malerei als Trostmittel, als Kampfmittel, einsetzbar gegen das seelische Elend, das jahrelange körperliche Leiden und allzu häufige Bettlägerigkeit bewirken. Die Liebe zu Diego Rivera, den zwanzig Jahre älteren, gefeierten Künstler, den sie sehr jung heiratet. Der private Kontakt zu bedeutenden politischen und kunstschaffenden Persönlichkeiten, Leo Trotzki etwa, oder André Breton. Das schmerzhafte Ringen um ihre weibliche Identität: Als Spätfolge der Hüftverletzungen kann sie keine Kinder gebären und erleidet Fehlgeburten, ihr Mann indessen betrügt seine körperlich eingeschränkte Frau mehrfach – sie darf nicht Mutter sein und nicht alleinige Liebende. Scheidung, Alkoholsucht, vorübergehende Affären, dann: eine zweite Heirat mit Diego Rivera.
Unter dem Eindruck jener Lebenserfahrungen also schreibt Frida Kahlo ihren Farb-Kanon nieder. Ich wüsste gern, welche Farbe wohl eine neue Bedeutung für sie bekommen haben mag, als zehn Jahre später ihr langgehegter Wunsch in Erfüllung gehen wird, ihre Werke in einer Einzelausstellung zu erleben und sich damit endlich als Künstlerin anerkannt zu wissen, nachdem ihr diese Anerkennung so lange verwehrt geblieben ist – als Frau in einer patriarchalisch orientierten Kultur, als Frau eines mit seinem Erfolg und seiner nationalen Bedeutung alles andere überdeckenden Künstlers, als Frau in einem zeitlebens beschädigten Körper. Diese Ausstellung wird für Frida Kahlo von solch existentieller Wichtigkeit sein, dass sie sich, körperlich erneut ans Liegen gebunden, samt Bett zur Vernissage tragen lassen wird. Kurz darauf aber wird die teilweise Amputation ihres rechten Beines nötig werden. Ein symbolschwerer Eingriff – sie wird tatsächlich danach nicht mehr aufstehen. Die Frage, ob ihr Tod selbst herbeigeführt ist, wird ihr Mann nicht mehr medizinisch abklären lassen. Gibt es vielleicht doch das Schwarze? Oder welche Farbe ist die des Sterbens?


Bild: Frida (Grebe, 2014)