GROSSE FRAUHEIT > Indie-Dreigestirne

Gehe ich einen etwa zwanzig Jahre großen Schritt zurück, sehe ich mich wieder als adoleszentes Etwas, dessen mentaler Wuchs irgendwie nicht der populären Idealform zustrebte. In den mittleren 90er Jahren, der neongiftigen Morgenröte der kommenden, etwa zehn Jahre andauernden Billigpop-Ära, verkörperten folgende Vertreterinnen das Prinzip Traumfrau: die Girlies. Blümchen performte Herz an Herz, Lucilectric krähte Weil ich´n Mädchen bin, Gwen Stefani verdrehte die männlichen Köpfe meiner geschlossenen Jahrgangsstufe mit ihrem teils gehauchten, teils geröhrten I´m Just a Girl. Die eigentlich charaktervoll-schöne Heike Makatsch hoppelte, gackerte und trällerte sich durch diverse knallbunte Jugendformate von VIVA interaktiv bis Bravo TV und avancierte, in meinem Umfeld zumindest, zum Maß aller Mädchen-Dinge. Gleichzeitig waren die Spice Girls entsetzlich omnipräsent und produzierten eine Bugwelle nicht minder erfolgreicher Nachfolge-Girl-Groups, deren Namensgebungen unbegreiflicherweise niemanden so recht alarmierten: Atomic Kitten etwa, oder Sugarbabes.

Teil dieser Kommerzveranstaltung namens Girl-Power-Bewegung zu werden war denkbar einfach: Brachte man politisches und kulturelles Desinteresse bereits mit, konnte man den Rest des dafür Nötigen größtenteils bei C&A kaufen: Bandana-Kopftücher, Sonnenbrillen mit runden Buntgläsern, bauchfreie Tops, rosa Accessoires, zu klein geratene Röckchen (aus der Kinderabteilung). Dazu brauchte man dann unbedingt selbstklebende Glitzerbindis, Fingernagel-Klebetattoos, Fake-Nasenringe, Bauchnabel-Piercings, die obligatorischen DocMartens-Stiefel in diversen Farben, puppiges Make-Up, Zöpfchen. Fertig – nur im Wechsel kichern und schmollen musste man schon noch selbst.

Ebenso simpel wie die Girlie-Philosophie an sich gestaltete sich mein Verhältnis zu meinen Mit-Mädchen: Ich konnte die Girlies nicht ausstehen und die Girlies mich nicht. Man warf sich gegenseitig Erbärmlichkeit vor; ich ihnen wegen ihrer Mischung aus Barbie-Gehabe, infantilem Trotz und Karnevalsstimmung, und sie mir wegen meiner Tool-Shirts. Und meiner manierierten Ernsthaftigkeit. Etwas an diesem Ernst ging bei mir jedoch auf durchaus reelle Vereinsamungsgefühle zurück: Alle meine gegenwärtigen Helden waren männlich, die meisten meiner Freunde ebenfalls. Wo waren denn diese Frauen, zu denen ich so gern hätte aufschauen wollen, in Erwartung irgendeiner Motivation von oben? Ich empfand meine Jugend als scheußliche Transit-Zeit, die ich so schnell es nur ginge hinter mir lassen wollte, gleichzeitig war mir klar, dass ich nicht zur Unternehmensberaterin heranwachsen würde – ich benötigte für meine Werdens-Ziele also etwas alternativen Input.

Patti Smith und Debbie Harry? Waren hübsch anzuschauen in ihrem strammen Selbstbewusstsein, das mit ebensoviel Hirn wie Herz unterfüttert war. Leider beide bereits damals zu Tode ikonografiert. Poly Styrene? Siouxsie Sioux? Ja, die lebten auch noch, befanden sich aber seit langen Jahren im Off-Modus. Aktivistinnen mit bewegenden Ideen? Die Zeit der großen Systemumbrüche war ein gerade abgefahrener Zug, dem ich mit meinen Kinderschritten nicht hatte nacheilen können – und dann, als ich genug gewachsen war um die klobigen Lederstiefel (mit gehäkelten Buntbändern) zu schnüren, war die Loveparade, die von Marusha durch Berlin geführt wurde, der einzige veritable Massenzug der Gegenwart. Aktuelle Autorinnen übrigens standen für mich unsichtbar im Toten Winkel. Von diesem Sektor war ich so vollkommen abgeschnitten, dass ich erst Jahre später im großen Panoramarückblick das Ausmaß meiner Entfernung davon begriff.

Im Allgemeinen schienen mir die Musikerinnen am zugänglichsten. Und eines Abends stolperte ich über ein Ding mit zerzaustem Dunkelhaar, das wohl im Schlepptau von Nick Cave bei mir eingezogen sein musste. Es hieß Polly Jean Harvey, war ein wenig herb und sperrig, ganz seelenvoll stimmungsschwankend und machte allgemein einen sehr einladenden Eindruck auf mich. Eine Andere, eine zarte Hysterikerin mit rotem Haarmeer, schlich sich via Plattenschrank meiner älteren Schwester in meinen Einzugsbereich. Da blieb Tori Amos dann auch. Aus diesen zwei Sondererscheinungen machte erst das Auftreten einer hibbeligen Naturgewalt für mich ein bedeutsames Trio: Mit Björk entdeckte ich ein Phänomen für mich, dessen pauschale Anziehungskraft auf mich ich wohl nie so recht verstehen werde.

Nachdem diese Drei mir endlose Weiten eines hübschen Neulands zugänglich gemacht hatten, fand ich mich dort bald ganz gut zurecht und traf auf Catpower, Kim Deal und Andere. Darunter auch diese Anwärterin auf einen Quartett-Platz zur Erweiterung des eng miteinander verbundenen Dreigestirns: Schon zu damaligen Zeiten war Fiona Apple für mich eine vielversprechende Orientierungsfigur, die allerdings noch reichlich biografischen Platz für Weiterentwicklung besaß – mit 20 muss man noch keine Wirkungsfrau sein. Wurde sie aber schnell. Heute bildet die gelegentlich nervtötende, aber auch zur Selbstironie fähige Exzentrikerin gemeinsam mit zwei weiteren speziellen Exemplaren ein neues Musikerinnen-Dreigestirn für mich: der ätherisch anmutenden Annie Clark, alias St.Vincent, und der total verhuschten, während ihrer Auftritte jedoch umso energischeren Anna Calvi. Diese Drei – zwischen 1977 und 1982 geboren und damit auch genau mein Alter teilend (die Jüngsten hier sind Annie Clark und ich) – wirken aus meiner heutigen Perspektive ebenso stabilisierend auf mich und mein Gemüt wie damals Harvey, Amos & Gudmundsdottir. Für mich sind Apple, Clark & Calvi Wohlfühlfiguren; sie laufen ein wenig neben der Leitspur, welche heute zwar nicht mehr die Girlies vorgeben, dafür aber diese viel zu smarten, vollkontrollierten, pseudo-erwachsen denkenden Y-Mädchen.



GROSSE FRAUHEIT > Ingeborg treffen (im Hôtel de la Paix)

Ingeborg Bachmann 


Ingeborg Bachmann, Hôtel de la Paix

Die Rosenlast stürzt lautlos von den Wänden,
und durch den Teppich scheinen Grund und Boden.
Das Lichtherz bricht der Lampe.
Dunkel. Schritte.
Der Riegel hat sich vor den Tod geschoben.


Durch Ingeborg Bachmann fand ich zu der Überzeugung, das Schreiben an sich, und das lyrische Schreiben insbesondere, müsse Schachspiel mit Worten sein. Gern hätte ich sie kennenlernen mögen, die Ingeborg, trotz oder gerade wegen meiner Vermutung, dass wir einander wohl nicht gemocht hätten. Aber neugierig gewesen wäre ich doch auf sie, die Zurückgenommene, die Präzise, die sich Betäubende.

GROSSE FRAUHEIT > Auf Provinzflucht mit Judy Henske


Im Büro eines Provinz-College und später einer Quäker-Kooperative zu arbeiten, mag für viele eine erfüllende Aufgabe sein. Judy Henske teilte wohl nicht diese Zufriedenheit und schulte sich kurzerhand selbst um, von der Sekretärin zur Sängerin. Geboren wurde Judy Henske 1936 in einer Kleinstadt im Nord-Osten der USA namens Chippewa Falls/Wisconsin. Immerhin konnte der Nachbarstaat Illinois mit Chicago eine veritable Metropole als Fluchtpunkt anbieten. Aber das war für Judy Henske längst nicht alles in Sachen Fernziele: Ende der 50er Jahre zog es sie aus dem waldreichen Norden den Stränden und der Sonne Kaliforniens entgegen, wo sie in San Diego zeitweise auf einem Schiff wohnte und singend durch die Kaffeehäuser Los Angeles´ tingelte. Dort schloss sie sich Anfang der 60er einer Gesangstruppe namens Whiskey Hill Singers an, die sich jedoch bald wieder zerstreute. Henske landete auf Umwegen in Hollywood, wo sie an einer Dokumentation über die Folk-Bewegung und an Album-Aufnahmen anderer Musiker mitwirkte. Außerdem trat sie als schnell populär gewordener Side-Act in der Judy-Garland-Show auf, flog wegen ihres deftigen Humors jedoch bald wieder aus der Besetzung – so schlug sie sich also weiter als Solo-Sängerin durch. Regelmäßig ging sie für Auftritte nach New York und lernte dort Woody Allen kennen, kurze Beziehung inklusive. Der Mann, den sie später heiratete, hieß dann aber Yerry Jester, Mitglied des Modern Folk Quartet. Das Musiker-Ehepaar hielt sich mit pausenlosen, auch gemeinsamen Auftritten in New York und entlang der Ostküste über Wasser. Für eine Karriere als Entertainerin ging Henske nach Los Angeles zurück, floppte aber gründlich und wechselte wieder an die Ostküste, als Yester Ende der 60er Jahre dort einem vielversprechendem Band-Projekt namens The Lovin´ Spoonful beitrat. Parallel dazu kehrte Henske wieder ganz zur Musik zurück und nahm gemeinsam mit Yester ein Psychedelic-Folk-Album auf, das Frank Zappa auf seinem Label Straight Records verlegte. Das Ehepaar wirkte fortan als Rosebud gemeinsam weiter – bis schließlich das Ende Rosebuds und damit auch der Ehe zwischen Henske und Yester ins Haus stand, als sich Henske und der für Rosebud als Keyboarder verpflichtete Craig Doerger verliebten. Seither lebte Judy Henske weitestgehend im Privaten und trat erst ab den 90er Jahren wieder vereinzelt musikalisch auf. Obwohl ihr Einfluss mit der Zeit in Vergessenheit geriet, gilt sie als wichtige Inspirationsquelle vieler amerikanischer Schriftsteller und Musiker.