GLOBAL THINKING > Nir Baram, Weltschatten

Als Israeli im Allgemeinen und als Sprössling einer israelischen Politikerfamilie im Besonderen kommt man wohl nicht umhin, die Themen Gesellschaft und  Politik irgendwie sehr persönlich zu nehmen. Nir Baram, dessen Vater und Großvater beide in der Arbeitspartei, beide Minister unter Rabin waren, hat sich der linkspolitischen Familienlinie als Autor, Herausgeber, Journalist und Aktivist verschrieben und sich in seiner Heimat als Gesellschaftskritiker profiliert. Baram setzt sich umtriebig für den Dialog zwischen Israelis und Palästinensern ein, lehnt dabei die Zwei-Staaten-Lösung ab und fordert stattdessen das Ende der Segregation, gemeinsamen Alltag, gemeinsame Schulen, gleiche Bürgerrechte für beide Seiten. (Anfang des Jahres erschien bei Hanser unter dem Titel Im Land der Verzweiflung. Ein Israeli reist in die besetzten Gebiete eine Sammlung von Reportagen, in denen Baram von seinen Besuchen und Gesprächen jenseits der Grünen Linie berichtet.)
In seinem fünften Roman widmet sich Baram nun dem Thema Globalisierung und zieht dafür ein ganz ähnliches Betrachtungsmuster heran, wie es auch seinen Beiträgen zur israelisch-palästinensischen Frage zugrunde liegt: Solange die Mächtigen den Unterdrückten das Recht auf Beteiligung verweigern, verstärkt sich der Strudel aus schwelenden und offenen Konflikten immer weiter, bis am Ende die Mächtigen selbst davon erfasst und zerstört werden. Aus dem Weltschatten entspringt hier eine Flamme des Aufstands, die den Globus in Brand setzt – wer sich nun aufgerufen fühlt, kann direkt Die Internationale vor sich hin schmettern, in der es heißt: Das Recht wie Glut im Kraterherde nun mit Macht zum Durchbruch dringt. Reinen Tisch macht mit dem Bedränger! Heer der Sklaven, wache auf! Beinahe schade, dass es bei Buchkauf kein rotes Fähnchen gratis gab. Aber ist Weltschatten denn wirklich ein kämpferischer Roman?

Drei verschiedene Ebenen, die sich selbst als geschlossene Sphären verstehen und doch unmittelbar miteinander korrelieren, lässt Baram in Weltschatten kollidieren: Es sind erstens die Strippenzieher, zweitens die Profiteure, drittens die Verlierer der Globalisierung. Jedem dieser drei Lager ist eine eigene bestimmte Erzählperspektive zugeordnet. Das erleichtert der Leserschaft die Orientierung im Figuren- und Ereignisspektrum; gleichzeitig erzählt bereits die gewählte Perspektive etwas über den jeweiligen Grundcharakter der Gruppen.

Als Weltlenker treten die Mitglieder einer Consulting-Firma auf, die den Mächtigen zu gewünschten Erfolgen verhilft. MSV – Mayo, Steinbeck, Vanderslice, so die Namen der Gründungspartner – erarbeitet und führt Kampagnen für Präsidenten und solche, die es werden wollen, für Mega-Konzerne und mitunter für ganze Staaten. Die erfahrenen Campaigner liefern maßgeschneiderte Image-Lösungen und bilden darüber hinaus einen einzigartigen Kontakt-Knotenpunkt zwischen Medien, Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Finanzwelt. Wer so erfolgreich darin ist, die öffentliche Wahrnehmung zu analysieren und zu steuern, dessen eigener Ruf ist freilich lupenrein: MSV pflegt eine Außendarstellung, die den Beraterstab ins Licht der guten Sache stellt, seine Mitglieder gar zu Fackelträgern demokratischer Werte stilisiert. Das MSV-Grundlagenpapier betont, man vertrete nur Klienten, deren Werteverständnis mit dem der Firma übereinstimme, was bedeutet: Nicht für aufsteigende Diktatoren, sondern für Hoffnungsträger, die für eine gerechte und freiheitliche Grundordnung stehen, setzt man sich laut Eigenbekunden ein.
Diese Schicht am oberen Ende der Machtskala, bevölkert mit Entscheidungsträgern, die globales Gewicht besitzen, ist ein enger und wirkungsvoll abgeschirmter Raum, zu dem man sich von unten her nur schwer Zugang verschaffen kann. Baram beleuchtet ihn daher von innen und zeichnet die Abgeschlossenheit dieses Zirkels nach, indem er die Ereignisse auf MSV-Ebene in Form eines E-Mail-Verkehrs zwischen den Beratern erzählt, der private und politische Konstellationen, Firmenstrategien und globale Verflechtungen offenlegt.
Zunächst zwischen den Zeilen, nach und nach dann auch direkter, liest man aus diesen Nachrichten heraus, dass die Verantwortlichen von MSV sich im Verlauf ihrer glanzvollen Karrieren nicht nur um linke Politik, sondern auch um ein paar schwerwiegende linke Dinger gekümmert haben. Zwar wird den einzelnen Beratern durchaus ein idealistischer Grundantrieb zugestanden, von dem sie sich während ihrer geschäftlichen Praxis jedoch schleichend entfremdet haben, der gute Zweck heiligt mitunter die schlechtesten Mittel, und so verkommen die hehren Ziele des MSV zum Mäntelchen, das allerlei verdorbene Geschäfte verdeckt. Was würde man auch sonst über mächtige Saubermänner zu lesen erwarten, als dass ihre Hände mächtig schmutzig sind? So weit, so na gut.

In der Allerweltszone zwischen den großen einzelnen Entscheidern und der großen Masse der Machtlosen, im Finanzwirtschaftssektor des kleinen Israel, bewegt sich Gavriel Manzur, über den ein auktorialer Erzähler in nüchternem Ton berichtet. Als sich in den Achtzigerjahren zunehmend ausländische Investoren an Israel heranwagen, um sich neue Märkte zu erschließen, kommt auch der jüdische New Yorker Geschäftsmann Michael Brookman auf den noch jungen Gavriel zu: Man müsse sich gemeinsam dafür einsetzen, den Zusammenhalt des amerikanischen und israelischen Judentums zu stärken. So beginnt Gavriel, in Israel eine Stiftung aufzubauen, die den jüdisch-kulturellen Austausch zwischen den Ländern fördern soll, wofür Michael zu Beginn die finanziellen Mittel stellt. Dass diese Stiftung in erster Linie dazu dient, die US-amerikanische Wirtschaft auf israelischem Boden zu verwurzeln, ist offensichtlich – für den naiven Gavriel allerdings wird der rein ökonomische Zweck seiner Unternehmung erst deutlich, als bei einem der ersten transkontinentalen Treffen nur über die Interessen von US-Exporteuren, insbesondere der Obstbauern, und die zu hohen israelischen Einfuhrzölle, insbesondere für Äpfel, gesprochen wird. Nachdem hier für Gavriel sprichwörtlich der Apfel der Erkenntnis gefallen ist, entwickelt er sich in den Folgejahren zu einem geschickten Vermittler für US-Wirtschaftsinteressen, steigt, als Günstling Michaels, schnell in die höheren gesellschaftlichen Kreise Israels auf, wodurch seine Stiftung floriert und bald auch in großem Stil über Geldmittel verfügt. Beträchtliche Summen daraus fließen wiederum in Michaels Unternehmungen in aller Welt. Dass er sich somit daran beteiligt, leichtfertig mit Millionensummen zu spekulieren, geht bei Gavriel nicht einmal auf Größenwahn zurück, eher weiß er einfach nie so recht, was er eigentlich tut und eigentlich will – ein Mangel, der ihm selbst durchaus bewusst ist und den er zu kompensieren versucht, indem er sich allzu bereitwillig von anderen leiten lässt.
Gavriel ist ein Opportunist aus Mangel an eigenem Können; was er verkörpert, ist die Banalität des Skrupellosen. Privat bleibt Gavriel ein fader Charakter, man lobt ihn stets als guten Zuhörer, nie als mutigen Macher, er heiratet eine anständige Frau und tut sich nicht sonderlich als Mitgestalter dieser Ehe hervor, er trifft Geschäftspartner, aber keine Freunde, denn es gibt keine, er verfolgt Projekte, aber keine wirklich eigenen Interessen.
Ein erfolgreicher, und doch so langweiliger Mensch – dass sich die Kapitel über Gavriel Manzur ohne viel Drall voran schleppen, mag sogar erzählerisch beabsichtigt sein. Schwierig nur, Interesse für einen Charakter zu entwickeln, an dem selbst der Autor anscheinend keinen Spaß hat. Er wahrt einen distanzierten Blick auf ihn, und er gönnt Gavriel, dem Gewinnler ohne eigene Ideen und Ideale, keine Größe. Umso mehr gönnt er ihm dafür die große Katastrophe zum Schluss. Das ist nachvollziehbar, verliert durch seine Plakativität aber an Reiz.

Schließlich der Blick nach unten: Im gegenwärtigen Liverpool, seit dem Niedergang seiner Schwerindustrie und Hafenwirtschaft eine der zehn ärmsten Städte Großbritanniens, entwickelt eine Clique aus orientierungslosen Unterschichtskids die Idee von einem weltweiten Protest – wogegen genau, das können sie selbst kaum definieren, mit Sicherheit allerdings gegen ihre eigene lausige Lebensrealität. Hier erzählt ein Ich, ein Wir – eine Stimme, die anonym bleibt und dadurch für alle spricht, für die Liverpooler Gruppe, für die, die sich ihr später anschließen werden, am Ende auch für die Toten des großen Aufstands; im Roman ist es die einzige Stimme einer restlosen Identifizierung mit einer Sache, einer Gemeinschaft.
Die Ausreißer, die ihr Headquarter mal im schimmligen Hinterraum einer Schlachterei, mal in einer leeren Garage aufstellen, haben anfangs keinen Plan, aber eine Menge Wut, und sie haben Facebook. Was mit kleinen Sachbeschädigungen eines Einzeltrupps beginnt, nimmt bald die Form einer globalen Bewegung an, als mit Julian eine ehrgeizige kleine Assange-Figur das Ruder an sich reißt, der Gruppe eine Struktur, einen Fokus, eine Onlinepräsenz gibt und ein Ziel feststeckt: 11.11., eine Milliarde Streikende. Plötzlich folgen ihnen zigtausende Anhänger im Internet, gründen sich auf allen Kontinenten Mitstreitergruppen, die mit ihnen an diesem Datum den Totalkollaps der globalen Ordnung herbeiführen wollen.
Baram baut das Liverpooler Kollektiv um Julian zu einem MSV-Gegenstück auf: Auch die Aktivisten der Verzweiflung erweisen sich als gute Campaigner für die eigene Sache, lernen, wie sich mediale Ströme beeinflussen lassen, professionalisieren ihr Informationsmanagement, bauen Netzwerke auf und erarbeiten gemeinsame Strategien; ebenso treten, parallel zum MSV, bei den Aufständlern interne Konflikte auf, wird die Integritätsfrage immer häufiger gestellt, was sich bis zur Paranoia steigert.
Die Bewegung im Ganzen entwickelt sich unterdessen zu einem kaum noch steuerbaren Flächenbrand. In Vorbereitung auf den 11.11. werden von allen Gruppen Manöver durchgeführt, die einen Vorgeschmack auf die Wucht des kommenden Untergangs liefern sollen; der Ursprungszelle sind längst die Kontrolle und die Übersicht über diese Zerstörungsaktionen entglitten. Gemeinsamer Nenner bleibt, dass diese sich nicht etwa gegen die gewohnten Ziele von Globalisierungsgegnern richten, sondern diesmal gegen Kunstgüter und kulturelle Einrichtungen – erst hier wird der Roman endlich einmal wirklich böse:

Nicht Banken, Konzerne oder Regierungen waren unser erstes Ziel […]. Wir wollten den Gleichmut der westlichen Kultur erschüttern, die abgeklärte Gelassenheit aller Liebhaber der Kultur […] und an erster Stelle derjenigen, die arbeiteten, um ihre persönlichen Ziele voranzutreiben, und gleichzeitig die Illusion pflegten, diese Welt, so wie sie ist, könne ungestört funktionieren, während andere untergepflügt werden. Wir wollten diese ehrbaren Institutionen erschüttern, in ihren alten, prächtigen Gebäuden mit den ziselierten Säulen, den hohen Decken und Kronleuchtern […] und Cocktailempfängen zu Ehren irgendeines Künstlers, der es wagte, das Selbstverständliche auszusprechen, oder eines Autors, der Kritik am Kapitalismus oder am Kolonialismus oder an irgendwelchen bescheuerten Fernsehshows geübt hatte. Wir wollten die Seelenruhe dieser Heuchler stören, die in ihren gediegenen Altbauwohnungen leben und mit Taschen voller Geld auf Demonstrationen gegen die Banken gehen, die mit Kulturgütern spekulieren und gleichzeitig die Illusion einer Vielfalt bedienen: Sicher gibt es Millionen, die nichts haben, aber es gibt auch eine Gegenkultur der Schönheit und Katharsis, vielleicht ändern wir diese Welt noch, vielleicht engagieren wir uns noch mal, um der Labour Party zu helfen oder der SPD in Deutschland oder den Sozialisten in Spanien […]. Gar nicht zu reden von den […] Petitionen und Protesten dieser Heuchler, die ihre Arbeiten an Diamanten- oder Sklavenhändler verschachern, welche sich mit den erworbenen Kunstwerken den Dreck und das Blut aus der Fresse wischen […]. Es kann keine Kultur geben, solange Menschen vor die Hunde gehen, keine Katharsis, während Milliarden von Menschen nicht wissen, wovon sie im nächsten Monat oder am nächsten Tag leben sollen, und es darf auch kein Gequatsche über Gleichheit und Sozialismus geben auf Veranstaltungen für Privilegierte […]. Wir wollten, dass sie den Abgrund zu sehen bekommen, genau so, wie wir ihn täglich sehen, nicht den Marmorboden, auf dem sie im Theaterfoyer stehen, […] anstelle der Institutionen, die sie kannten, würden zerstörte, ausgebrannte Gebäude aufragen, würde es nichts mehr geben, an das man sich klammern konnte, genau so, wie wir nichts hatten, was uns Halt gab.

Nichts darf einen höheren Wert besitzen als ein menschliches Leben. Und alles, was jenes Werteverständnis zuungunsten des menschlichen Lebens verzerrt, verdient es unterzugehen – auch Kultur, wenn sie nur noch als Geldanlage dient, oder als Alibi für die Privilegierten, um sich nicht direkt, also: aktiv, ungefiltert und ohne künstlichen Sicherheitsabstand, mit dem übrigen Leben, mit den übrigen Menschen beschäftigen zu müssen.
Da ich dieser Logik durchaus etwas abgewinnen kann, müsste ich nun konsequenterweise und mit sofortiger Wirkung das Bloggen einstellen. Ebenso hätte Baram, dessen Schreibe merklich an Fahrt wie an Empathie gewinnt, als er sich mit den verwahrlosten, hoffnungslosen Jugendlichen und den Zielen ihres Furors befasst, und der wiederum selbst zur Kategorie gefeierter Autor, der Kritik am Kapitalismus übt gehört, an dieser Stelle augenblicklich der Stift aus der Hand fallen müssen, bzw. das Notebook, das übrigens vielleicht so eins mit einem kleinen Apfel drauf sein könnte, um erneut auf dieses Erkenntnisobst zurück zu kommen. Offensichtlich blogge ich immer noch, tippe dieses selbstgefällige Zeug hier, während ein IKEA-Buchregal mit viel nichtssagendem Inhalt und ein Obstkorb in meinem Blickfeld liegen, und kann dafür nur ein Argument vorbringen: Je radikaler eine Ansicht, eine Parole, eine Ideologie ist, umso größer ist ihre Verführungskraft – und umso aufmerksamer wiederum gilt es daher, ihr zu misstrauen, bevor man ihr vielleicht nachrennt. Auch Weltschatten findet dort, wo es unsere teuerste wie unsere billigste Kulturschafferei den Aufständischen als ihren rechtmäßigen Fraß vorwirft, noch nicht seinen Schlusspunkt. Baram ist mit seiner Liverpooler Zelle noch nicht fertig, sondern lässt sie erst einmal in ihrer plötzlichen Berühmtheit und Bedeutsamkeit schmoren, lässt es dann so richtig brennen, um am Ende in der Asche danach zu graben, was sich nach der ganzen Geschichte wohl als reell Widerständiges bewähren könnte. Viele der Widersprüchlichkeiten, die Baram dabei aufdeckt, sind von stichelndem Charakter, wie zum Beispiel der Umstand, dass Julian ausgerechnet zu einem abtrünnigen MSV-Mitarbeiter Kontakt pflegt – gemessen an der geringen Tragweite wie der übertriebenen Symbolik dieser Verbindung eher ein überflüssiges dramaturgisches Gimmick. Ganz entscheidend dagegen ist die Frage, was eigentlich kommen soll, sobald das Alte in Ruinen liegen wird: Diese Gruppe katalysiert die destruktive Energie der halben Erdbevölkerung, aber eine Utopie für den Tag nach dem 11.11. kennt sie nicht.

Den Gedankengängen Barams merkt man an, dass er gewohnt ist, sich mit verstrickten gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen zu befassen. Der Handlungsbogen ist hübsch ordentlich aufgebaut, da wackelt nichts. Baram verknüpft die verschiedenen Ebenen sorgfältig miteinander, verheddert sich dabei nie, greift dafür höchstens auf allzu einschlägige Beispiele für schmutzige Globalisierungseffekte zurück, wie etwa die Verwicklungen der Industrienationen in Waffengeschäfte auf dem afrikanischen Kontinent. Für Charaktere dagegen hat Baram ein nur mäßig gutes Händchen. Er bricht den Komplex Globalisierung auf seine kleinsten Elemente herunter, auf menschliche Einzelschicksale also; gerade diese wirken allerdings oft, als seien sie eher einem Musterkatalog als der eigenen Vorstellung des Autoren entsprungen, die Figuren sind allzu sehr Standardbesetzung für die ihnen zugewiesenen Rollen, und darin besteht denn auch das leichte Humpeln des Romans. Denkwürdiger als die Einzelfiguren selbst ist die zwingende Dynamik, die sie in bestimmte Positionen treibt. Aus ihrer Konstellation im Roman lässt sich, grob formuliert, diese Prognose für die Realität ziehen:

Die Einen haben uns nichts zu bieten außer einer Illusion und einer Aufrechterhaltung der kranken Ordnung. Die Anderen haben uns nichts zu bieten außer einer Gegenillusion und einer gewaltigen Betriebsstörung der kranken Ordnung. Geliefert sind wir alle, denn wie eine gesunde Ordnung überhaupt aussehen sollte, geschweige denn, wie eine solche Ordnung real funktionieren könnte, fällt einfach niemandem von uns ein.

Wir brauchen ganz neue Fähnchen, dringend.


> Nir Baram, Weltschatten (Hanser)

GLOBAL THINKING > Scherbografie

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Geheimnis bleibt dem tiefsten Geist,
Was Dasein heißt.
Gott hat das Rätsel ausgesprochen,
Sich selbst darüber den Kopf zerbrochen,
Bis er in Scherben zerschellt;
Die nennt man nun: die Welt.

Paul Heyse (1830 – 1914)


Ich kenne – mich selbst eingeschlossen – niemanden, der nicht ab und an oder gar dauerhaft von dem Gefühl beschlichen wird, sich im Leben auf einem Scherbenhaufen zu bewegen. Man besitzt einen natürlichen Gefüge-Sinn, der unversehrte Einheiten als etwas Ideales empfindet, und der aufspürt, wo man es mit bruchgefährdeten oder bereits zerstörten Unitäten zu tun hat. So, wie man von gut oder böse spricht, wendet man auch heil oder kaputt als Urteil an. Das untersuchende Gespür richtet sich auf das kleine wie auf das große Ganze aus, tastet das Private ab, prüft die engen und die weiten Kreise, in die das Individuelle eingebunden ist, auf Dellen, Risse und Lücken, und nimmt, als größte Einheit, die Kugel, auf der sich das Weltleben abspielt, in den Fokus. Die Biografie des Einzelnen, menschliche Beziehungen, ideelle Werte – schon im Kleinen stößt das Gespür allseits auf gesprengte Einheiten, auf kaputte Systeme, und wie sollte da der Gefüge-Sinn erst im Großen das Heile finden? Weltkarte, politisch: ein Mosaik aus bunten Scherbchen.

 

GLOBAL THINKING > Emma Braslavsky, Leben ist keine Art mit einem Tier umzugehen

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Üblicherweise liest man einen Roman, indem man auf der ersten Seite startet und sich dann, schön der Reihenfolge nach, bis zur letzten durcharbeitet. Nimmt man jedoch Leben ist keine Art mit einem Tier umzugehen in die Hand, den neuen Roman von Emma Braslavsky, darf man getrost einen kleinen Umweg einlegen und ganz hinten beginnen, bei den Danksagungen der Autorin, S. 459ff. Dort finden sich die Kürzel Dr., Prof. Dr. oder gleich Univ.-Prof. Dr. Dr. med. in Verbindung mit Fachbereichen und Spezialthemen wie Klimadiagnostik, Meteorologische Extremereignisse, Analyse des Vertebratengenoms, Molecular Embryology, Stammzellenforschung, International Law, Kabbala, Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie; dazu ein Captain und Yacht-Gutachter, außerdem zwei Experten für DDR-Bunkerkomplexe. Eingestreute Ortsangaben: Berlin, Buenos Aires, Sarajevo, Comer See. Für sich genommen sagt all das natürlich rein nichts aus, höchstens, dass die Schreibarbeiten der Autorin, die rund acht Jahre in Anspruch genommen haben, eben von allerlei Gesprächen und Ortseindrücken begleitet worden sind. Wenn man aber im Anschluss an den Abschluss nun den Roman – wie es sich eigentlich gehört – von der ersten Seite an zu lesen beginnt, dürfte man bereits ausreichend präpariert sein, um nicht den Fehler der Rezensentin zu teilen, im vorangestellten Personenregister ungerührt über einige Punkte hinweg zu lesen: Mister Sands und Mister Katō, Abgesandte eines milliardenschweren Konsortiums für den Kauf des Bunkers 17-5001 / Marie und Josef, geklonte Golden Retriever / Newman, der neue Mensch im Embryonalstadium. Je deutlicher man nämlich von Anfang an diesen Mischgeruch wittert, den Projekte zur Optimierung des Menschen und Katastrophenszenarien in Kombination miteinander ausströmen, umso leichter liest man sich ein.

Ansonsten wähnt man zunächst, es mit einer einfachen Satire auf die Schicht der Wohlstands-Alternativler zu tun zu haben. Die Eingangsszene liefert bissige Zeitgeist-Schelte; Emma Braslavsky reiht hier eifrig die zwingenden Bestandteile des aktuellen ökologisch, politisch und gender-korrekten Lifestyles aneinander, entblößt gleichzeitig den Egoismus, Chauvisnismus und Karrierismus ihrer Hauptfiguren Jivan und Jo und zeigt die grüne Gesellschaftswelt als kontrollsüchtiges und selbstverliebtes System, das nur diejenigen belohnt, die sich ihm heuchlerisch anbiedern:

Jivan, Anfang vierzig, Bunkerarchitekt und aus verflucht reichem Hause, ist auf dem Weg zu einem Abendessen mit Jo, Ende dreißig, selbstberufene Bessere-Welt-Aktivistin und als Jivans Ehefrau finanziell ziemlich sorgenbefreit. Es ist ein Business-Essen, mit dabei sind Verantwortliche der Organisation Animal Rights.

[Jivan] tauscht mit einem Seufzer seine uralten, bequemen Lieblingstreter aus geschmeidigem Boxcalf gegen tierleidfreies Schuhwerk aus wasserfester Mikrofaser. […] Das Blackbird’s Song ist momentan der letzte Schrei in der Stadt in Sachen veganer Küche, die Leute stehen so hartnäckig Schlange, als würde ihnen dort Absolution erteilt. Links und rechts versucht ein schnurgerades Spalier aus blühenden Hyazinthen zwischen blauen Neonlichtern eine streng überwachte Multikulti-Naturschutzpflanzenwelt daran zu hindern, sich auch den Rest des Areals einzuverleiben. Die Ledersneakers verstaut Jivan im Beutel. Bei der Gelegenheit überprüft er Hemd und Hose. […] Sein dunkelblaues Leinenhemd geht noch als tierlieb durch. Seine Hose ist allerdings grenzwertig: Wollanteile und vor allem diese Acrylfaser, nach jedem Waschgang verrecken Meeresbewohner an den Mikroplastikteilchen, und für das Rostbraun haben Hunderttausende weibliche Cochenilleschildläuse ihre Leben gelassen.

Beinahe hätte Jivan seine Lieblingsledertasche zum Treffen mitgeschleppt, gerade noch rechtzeitig fällt ihm ein, sie zu verstecken. Nur, dass er für vegane Nasen empfindlich nach Döner riecht, weil er vor dem Restaurantbesuch noch einen Sattmacher gebraucht hat, das hat Jivan nicht bedacht. Macht nichts, durch eine schnelle Lüge renkt Jivan die ausgekugelte Stimmung wieder ein. Und mit einer rührseligen Anekdote um ein eingeschüchtertes Krokodil und schließlich mit der Idee, aufblasbare Einhornhörner zu verkaufen, die es ihren menschlichen Trägern ermöglichen, ihre mythologisch verankerte Verbindung zur Tierwelt sichtbar und selbst für Tiere verständlich zum Ausdruck zu bringen, können der hallodrige Jivan und die aparte Jo die Tierrechtler vollends für sich einnehmen. Natürlich möchte Jo Animal Rights im Kampf für die sexuelle Selbstbestimmung von Giraffen und dergleichen tatsächlich gern unterstützen – in erster Linie jedoch will sie unbedingt den Posten als PR-Managerin dieser enorm kapitalstarken Organisation besetzen. Was Jivan wiederum unbedingt will, ist eine zufriedene, besser noch: eine euphorisch gestimmte Frau. Vögel und so interessieren ihn nicht, Vögeln dagegen ungemein. Später beschließt das Kollektiv den geglückten Abend, indem es einverständig ein paar Karaffen Bio-Wein leert.

Da diese Szene glatt als gegenwärtig durchgeht und noch nicht ins Unvertraute vorgreift, funktioniert sie gut als eine Art barrierefreier Einstieg in die Story. Noch macht sich nicht deutlich bemerkbar, dass der Roman zeitlich angesiedelt ist in einer Zukunft, die unserer zeitgenössischen Welt um einen kleinen, aber entscheidenden Schritt voraus ist – man erinnere sich bitte der geklonten Golden Retriever.

Der Abstand zum Jetzt ist so gering, dass Yoko Ono noch einen Gastauftritt hinlegen kann, doch gelten in dieser nahen Zukunft bereits vollkommen neue technisch-wisschenschaftliche Standards. Womöglich ist diese Zukunft aber doch entfernter als gedacht, und inzwischen haben sich Revolutionen in der Medizin ereignet, die Yoko Ono ein nahezu unsterbliches Leben ermöglichen? Man weiß es nicht. Eine wichtige Rolle spielen die Experimente der Wissenschaftler Natalie und Jakob, die es sich zum Ziel gesetzt haben, das menschliche Genom von all seinen Makeln zu befreien, sprich: entscheidend in unsere Evolution einzugreifen und nichts geringeres als den neuen, verbesserten Menschen zu erschaffen. Es ist ein Projekt von solch großer Sprengkraft, dass der Nachname des Forscherehepaars, Oppenheim, wohl nicht von ungefähr an Robert Oppenheimer, den Erfinder der Atombombe, denken lässt. Mittlerweile ist es möglich, Stammzellen beliebig zu züchten. Alles, was das Pärchen dafür benötigt, ist ein bisschen menschliches Zellmaterial, und so sammeln die beiden Haare (man beachte die Umschlagillustration des Romans) und erstellen auf dieser Basis einen manipulierten Gen-Pool für die Zukunft der Menschheit. Offenbar hat sich die Handhabung molekulargenetischer Eingriffe alldieweil wesentlich vereinfacht; Adam und Eva 2.0 können praktischerweise im Heim-Labor des hübschen Stadthäuschens der Oppenheims in Buenos Aires gezeugt werden.

Gesellschaftlich scheint sich indes kaum etwas weiterentwickelt zu haben. Frauen treten innerhalb des Machtsektors hauptsächlich dekorativ in Erscheinung, Führungsrollen übernehmen sie, wenn’s hochkommt, im spirituellen Bereich, und das Thema Mutterschaft gerät im Roman gleich für drei Frauen zur Bewährungsprobe. Nach wie vor lauten die entscheidenden Dominanzfaktoren Testosteron und Geld. Das bekommt auch Roana zu spüren, eine weitere Hauptfigur, die auf einem von Papa verordneten Survival-Trip unterwegs ist. Die gerade Neunzehnjährige soll am Fuße eines einsamen Vulkans zu Vernunft und Eigenständigkeit finden, um danach, so hofft Papa, geläutert zurückzukehren und endlich einzuwilligen, sein höchst erfolgreiches Bauunternehmen später einmal weiterzuführen. Roana schlägt sich jedoch lieber bis nach Buenos Aires durch, wo sie an diverse Weltverbesserercliquen gerät. Mal wird sie von einem verlogenen Ideologen missbraucht, mal darf sie bei einem ambitionierten Projekt nicht mitspielen, weil sie ein Mädchen ist. Ziemlich ramponiert, aber umso entschlossener sucht sie weiter nach der ganz großen Portion Lebenssinn, um ihren Hunger nach eigener Bedeutung zu stillen. Dann sind da noch Jule und No, ein Aussteigerpärchen, das in einer paradiesischen Bucht Adam und Eva spielt. Nackt, mittellos, frei – um ein völlig neues Leben zu beginnen, haben die beiden alles zurück gelassen, was man eben zivilisiert nennt. Nur einander nicht. Nicht lange, und es verfestigt sich eine Rollenverteilung: sie das Lustobjekt, er der Ernährer. Zwei, die auszogen, um die Zukunft zu suchen, und in der Steinzeit ankamen. Um die Gleichberechtigung der Geschlechter ist es in der Zukunft also trostlos bestellt. Die Gleichberechtigung der Tiere dagegen ist das dauertrendende Thema. Auch in der Zukunft können Tiere nun einmal keine eigene Stimme erheben, um sich zu verteidigen – aber eben auch keine Stimme, um denjenigen Menschen, die ihre ureigenen, eitelkeitsgesteuerten Lebensvorstellungen ungefiltert auf die Tierwelt projizieren, zu widersprechen. Eine gerechtere Welt für alle zu schaffen, davon reden die AktivistInnen und Organisationen im Roman unentwegt. Wer aber diese Alle sind, um die es vorgeblich geht, scheint man weder bei Better Planet, noch bei Life from Zero und Konsorten so genau zu wissen. Die wirklich Benachteiligten dieser Erde spielen nach wie vor einfach keine Rolle. Derweil sind die Privilegierten dieser Erde schwer damit beschäftigt, ihren persönlichen Oberflächenglanz zu optimieren, und es scheint, dass sie vor allem deswegen so gern über die Tiere und den besseren Menschen sprechen, um dem echten Menschen und dessen echten Problemen guten Gewissens aus dem Weg gehen zu können. Keineswegs mangelt es jenen ZukunftvisionärInnen am notwendigen Ehrgeiz; an Aufrichtigkeit und Selbsthinterfragung dagegen sehr. Unter den idealistischen Projekten, die Roana durchläuft, als seien es Hindernis-Parcours, findet sich beispielsweise ein Camp, in dem gut situierte Familien einen Sommer lang Kommunismus spielen dürfen. Die Verniedlichung und Kommerzialisierung des Kommunismus als Ferienvergnügen: noch anschaulicher hätte Emma Braslavsky das Absurde am Wohlfühl-Aktivistentum nun wirklich nicht verpacken können. Am Ende aber muss doch jene Welt, in der Individuen jeglicher Art das Recht auf freie Entfaltung so vehement zugesprochen wird, in der Achtsamkeit, Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und Fortschrittlichkeit so präsente, intensiv diskutierte Themen sind, unserer zeitgenössischen wenigstens irgendwas voraus haben?

Dann aber geht ein Ruck durch die Welt. Genauer: ein Internet-Hype. Mitten im Atlantik wird eine Insel von der Größe Balis entdeckt, die bislang kartographisch nicht erfasst war, eine staatliche Zugehörigkeit liegt nicht vor. Da die Insel von niemandem betreten, sondern nur aus der Ferne fotografiert wurde, steht ihre Eroberung noch aus. Unbekanntes Neuland, 5000 Quadratkilometer Projektionsfläche für utopische Ideen! Seit dem Goldrausch hat es keine derartige globale Euphorie mehr gegeben. Die Insel im Auge des medialen Sturms reißt wirklich alle in ihren Bann, Aussteiger, Forscher, Politiker, Philosophen, Luxusreisende, Umwelt-Aktivisten, und wird so auch zum Brennpunkt, in dem sich die Schicksale von Jo, Jivan, Jule, No, Natalie, Jakob, Roana und Newman schließlich überschneiden.

Völlig zu Recht hat der Verlag diesem Roman einen Bucheinband in pinkigem Beerenton verpasst und dazu noch einen Umschlag, der nur auf den ersten Blick harmlos grau aussieht – hält man ihn ins Licht, glitzert er wie Feenstaub. So viel Übertreibung muss sein, denn auch das Erzählen gibt sich nicht zufrieden, bevor es nicht auf allen Ebenen optimal too much ist. Sprachlich tobt die Autorin ihren merklichen Spaß an Aufgedrehtheit und Flapsigkeit besonders in den von Roana erzählten Abschnitten aus, ohne jedoch ins Unkontrollierte zu kippen. Strukturell lässt sie natürlich mehrere Ereignisebenen parallel laufen. Mit den Figuren springt ihre geistige Schöpferin raubeinig bis boshaft um: Da sie sich hier intensiv mit Genetik befasst, wendet Emma Braslavsky das Prinzip des Survival of the Fittest eben auch konsequent auf ihre Protagonisten an. Thematisch gibt es nichts, das als zu groß oder als unnötiger Ballast betrachtet würde, um nicht doch noch irgendwo zwischen die Zeilen hineingequetscht zu werden. So findet die Installationskunst des Autorinnen-Gatten Noam Braslavsky ihren Kurzauftritt im Roman, Jorge Luis Borges ebenfalls, und selbst die Titanic lässt die Autorin quasi ein zweites Mal untergehen.

Am Ende hat man überraschend viel gelacht während des Lesens. Und doch wird man das Gefühl nicht los, man müsse sich möglichst bald einmal etwas tiefgehender mit Bunkerkunde befassen.


> Emma Braslavsky, Leben ist keine Art mit einem Tier umzugehen (Suhrkamp)


Diesen Beitrag kann man auch auf satt.org lesen. Wer’s insbesondere mit Film und Buch am Herzen hat, sollte dort ohnehin häufiger mal vorbeischauen.


Herzlichen Dank an Suhrkamp für das Leseexemplar, um das ich gebeten hatte!