Isolation, Büroflucht, Versorgungsängste. Wo bin ich hier?
Fragen Sie sich das nicht auch manchmal?
Wo bin ich – herrje, kann man das denn immer so sicher wissen? Ein leises Misstrauen gegenüber der eigenen Realitätssicherheit zählt ja nicht erst seit Matrix fest zum mentalen Register. Und erst recht im pandemieverwandelten Alltag. Ein Fremdeln schiebt sich vor die gewohnte Wahrnehmung der Dinge, die vertrautesten Orte wirken seltsam fremd, die vertrautesten Menschen verhalten sich seltsam befremdlich, die vertrautesten Tätigkeiten erscheinen befremdlich seltsam.
Sollte Ihnen das alles fremd sein, kann ich Sie nur beglückwünschen. Sie sind ein weltsicherer Mensch.
Die übrigen erkennen derlei Empfindungen vielleicht wieder, vielleicht sogar sehr gut, wenn sie Miakro in die Finger kriegen.
Wo sind wir hier? In einer äußerst verseltsamten Welt. Büroleiter Nettler wird des Nachts von einem sachten „Binnenwind“ geweckt, und mit ihm blinzeln wir in sein irgendwie spießiges, irgendwie bizarres Biotop hinein:
Nettler richtete sich auf. Seine Linke stach durch die weichen Stränge seines Schlafnetzes, die Rechte stemmte sich an die hornig festen Deckenrippen. Er fühlte sich mehr als bloß wach.
Das „Mittlere Büro“ – da sind wir. Nettler und seine Mannen hausen hier wie die Mönche, verrichten ihren Dienst nach Leitlinien, die – ach, das erschließt sich nicht so genau. Jenseits der käsigen Bürowände beginnt die „wilde Welt“, über die wenig gesichertes Wissen verfügbar ist, denn sie verweigert sich einer Fixierung, sie ist ein Terrain, das organisch anmutenden Entwicklungen unterliegt, und ihre Flure, Schächte und Höhlungen verändern sich fortwährend. Nettler, der rotschopfige Blenker, der „schöne Schiller“, der starke Axler und Guler, der Dienstälteste, stehen täglich an ihren Arbeitstischen, die genauer gesagt Schautische sind. Das Glas, aus dem sie bestehen, ist allerdings keine klare Sache; es ist eine halbfeste, sich dem jeweiligen Mitarbeiter entgegenformende, nicht immer so recht durchschaubare Angelegenheit. Es gilt, aus dem schlierigen, zwiebelschichtigen Bilderstrom, der sich im „weichen Glas“ zeigt, einzelne Sichtschichten zu identifizieren und daraus Informationen zu filtern, die versorgungsrelevant sind. Sobald im „Bildstrom“ Hinweise darauf erkannt wurden, was für Gegenstände und Nährmittel sich in Kürze materialisieren werden und wo sich ein entsprechender „Materialschacht“ öffnen wird, ziehen die Männer los, um gewissermaßen zu ernten. Auf jenen Expeditionen begegnet man gelegentlich Volk aus der „wilden Welt“, soll heißen: Frauen. Besonders ihre graugelockte Wortführerin hat es in sich. Mitunter verlaufen die Märsche gefährlich, und es gibt sogar einen Vermissten zu beklagen: Der „kleine Wehler“ wurde von einer sich schließenden „Auswandung“ auf Nimmerwiedersehen verschlungen. Holen sich die Wände etwa zurück, was sie geben? Nach Zufallsprinzip spenden sie alles mögliche von Essbarem über Bekleidung bis hin zu Werkzeug und anderen Utensilien, doch weisen jene Dinge zunehmend Deformationen auf. Wandelt sich die isolierte Welt schneller, wird sie womöglich instabil? Die Qualität der „ausgewandeten“ Güter jedenfalls wird schlechter, und auch die Menge geht deutlich zurück.
Nettler hielt sich den Teller mit dem hellgrauen, sichtbar feinfaserigen Klumpen erst einmal unter die Nase, um vorsichtig daran zu schnuppern. Schiller hatte fünf kleine Süßkartoffeln rundum an den Tellerrand gelegt. Größere Exemplare seien heute nicht mehr ausgewandet. Die bescheidenen Kartöffelchen müsse man zudem mit einer gewissen Vorsicht genießen, denn inzwischen enthielten fast alle einen kleinen, steinharten Kern. Nettler bemerkte, dass der Teller nicht mehr korrekt kreisrund war und die Stärke des Blechrands zwischen messerschneidedünn und fast kleinfingerdick schwankte.
So strampeln sich Nettler und seine Männer Tag für Tag ab, bis – ja, bis das Glas vollkommen überraschend einen Hinweis auf den verschwunden Wehler gibt. Man macht sich auf, man verlässt das Büro auf unbestimmte Zeit, jetzt gilt es, den schmerzlich vermissten kleinen Wehler zu retten!
Unterdessen bewegt sich auf einer anderen Ebene eine Graugelockte, die in ihrer Funktion als Fachleutnant eine militärische Sondierungsmission leitet. Ihre Mannschaft besteht aus den Herrschaften Blank, Guhl, Achsmann, Schill, Nettmann und Weller. Ziel ihrer Mission: Ein unheimlicher, potentiell gefährlicher Riesenorganismus.
Spiegeln sich hier eine Mikro- und eine Makro-Welt? Macht die Zeit hier eine Schleife? Wo bin ich hier – in Miakro wird diese Frage nicht aufgelöst, auf Erklärungen wartet man vergebens, aber nicht umsonst. Diese verseltsamte Welt ist zugleich eine selbsterklärende, alles wirkt verfremdet und doch in sich schlüssig und vertraut. So wie man es aus halbwachen Träumen kennt, kurz bevor der Wecker endgültig klingelt.
> Georg Klein, Miakro (Rowohlt)