ANS EINGEMACHTE > Diane Cook, Man V. Nature

Kein bisschen Lust zu lesen. Dabei ist Herbst, alles ist hygge, Sie kennen das, überall im Internet überschlagen sich die Leute mit ihrer penibel inszenierten Herbstgemütlichkeit: Kürbis, Teetasse, #fallfashion, Stricksocken und Bücherstapel. Ich raffe mich sogar auf, in eine Buchhandlung zu gehen, finde aber, auf der Suche nach Büchern, die ich vielleicht doch lesen wollen würde, nur blöde Haufen Papier.

Liegt es am Markt? Liegt es an der Leserin?

In solchen Phasen bekomme ich gleichzeitig auch nichts Gescheites hingetippt. Eventuell muss das Hirnareal für Textangelegenheiten auch einfach mal den Leerlauf einlegen, lüften, ja?

Es bieten schließlich auch andere Dinge geistige Beschäftigung. Gespräche: „Regnet’s heute wohl?“, „Na, ich denke, es könnte.“, „Es müsste ja mal.“, „Nur dann nicht so dolle, für die Rosen wär’s ja nicht gut.“, „So ohne wär’s aber auch nicht gut.“, „Nee, das wär nicht gut.“, „Bisschen könnt schon.“ Täglich acht Uhr kommt ein Trupp Kohlmeisen durch den Garten, da kann man gut zuschauen, wie der angefressene Buchs munter von Geziefer befreit wird. Bundestagswahl – auch ein Thema.

Selten lese ich Bücher mehrmalig, aber bestimmte Bücher nehme ich eben doch häufiger zur Hand, um mich kapitelweise nochmals in Sprache oder Stimmung zu vertiefen, wenn ich bedürftig danach bin. Ich mag das gar nicht sagen, ich habe im Arbeitsleben viele, zu viele Postkarten und Lesezeichen mit „Bücher sind Medizin“-Aufdruck verkauft, um nicht privat eine ausgesprochene Allergie gegen solche Mottos entwickelt zu haben, aber nun denn – meine, Entschuldigung, „literarische Hausapotheke“: Harold Brodkey und Georg Klein, wenn ich nicht schlafen kann. Henning Ahrens, wenn ich Heimweh nach meiner Urgroßmutter und nach längst bebauten Brachwiesen, längst abgerissenen Hühnerhöfen bekomme. Tristan Egolf, wenn ich Lust hätte, mich mit meiner verstorbenen Familie zu zoffen. Agatha Christie, statt Wärmflasche. Herta Müller, wenn zu viel Christian Lindner im Radio war.

Ein anderer Grund, um ein Buch stetig wieder zur Hand zu nehmen, kommt seltener vor: Weil man daran arbeiten muss. Als hätte man sich daran überfressen und kriegte diesen Brocken nun partout nicht verdaut. Diane Cooks Kurzgeschichten zum Beispiel, die wurmen mich, wie sonst eigentlich nur noch Julio Cortazárs Bestiarium. Wenn ich die nicht im Auge behalte, sickert etwas Giftiges daraus hervor, bildet gefährliche Dämpfe, Strahlungen… Eine solche esoterische Dimension liegt natürlich nicht vor, es hat bloß mit bestimmten sensiblen Punkten zu tun, die da gepiesackt werden. Was ja anstrengend ist. Und was ja erst aufhören kann, wenn die Frage geklärt ist, woher genau eigentlich die Piesackigkeit bestimmter Geschichten rührt.

Kurz gesagt gibt es also Bücher, die einem zu denken zu geben. Die einen hartnäckig, unangenehm beschäftigen. Und dass ich das offenbar nicht mehr gewohnt bin, ist eventuell kein Kompliment für mein eigenes Leseverhalten und mit Sicherheit keins für den breiten Buchmarkt.

Nun, Diane Cook. Seit ich letztes Jahr die englischsprachige Ausgabe von Man V. Nature gelesen habe, hätte ich erwartet (befürchtet?), dass am ehesten Heyne oder Ullstein eine deutsche Ausgabe auf den Weg bringen würden, deren Vermarktungsrichtung auf Simon-Beckett-LeserInnen zielen würde. Tatsächlich rührt sich aber niemand. Wahrscheinlicher wäre wohl, dass Netflix schneller eine Erfolgsserie bastelt, die auf einer von Cooks Kurzgeschichten basiert, als man „weiblicher Autor über 40, aber nicht Donna Leon“ sagen kann.

Ein glattes Dutzend Storys auf rund 250 Seiten. An Netflix‘ Stelle würde ich sie allesamt adaptieren, und zwar flott. Höchstens dem Aufmacher mit seiner Weltuntergang-durch-Klimawandel-Thematik könnte man einen leichten Mangel an Originalität vorwerfen, aber sonst.

Nur drei Geschichten transportieren das Motiv Mensch-versus-Natur im Survival-Sinne, sodass man sich, angesichts häufiger groß- und kleinstädtischer Settings,  zunächst über die Titelgebung wundern mag. Nachdem man zur Titelstory vorgedrungen ist, erklärt sich jedoch einiges: In Man V. Nature setzt Cook drei Männer in ein Boot und lässt aus dem Angelausflug, den die alten Jugendfreunde geplant haben, einen Überlebens-Trip werden, wobei sich schnell abzeichnet, dass es eher nicht die Elemente an sich sind, die den Akteuren den Rest geben – die Triebe und Psychologie des Menschen, seine eigene Natur also, sind die lebensfeindliche Gewalt in dieser Geschichte. Und in allen anderen gleichfalls.

Man V. Nature zeigt die Deutungs-, aber auch die Stil-Linie für die übrigen Geschichten an. Cook spielt hier mit an Film und Fernsehen geschulten Erwartungen an den Plot – Sie wissen schon: drei Jungs, ein Boot, es sollte ein harmloser, fröhlicher Ausflug werden, doch… – , erfüllt sie aber nie, und ich finde große Kunst, wie Cook der Vorhersehbarkeit ein Schnippchen schlägt. Insgesamt kriege ich in diesem Buch nirgendwo festen Boden unter den Füßen zu spüren, scheinbaren Gewissheiten ist nie zu trauen. Die nüchterne Akzeptanz wiederum, die hier gegenüber dem Unerwarteten, auch dem Absurden und Entsetzlichen an den Tag gelegt wird, kennt man aus Träumen, und so lesen sich diese Geschichten denn auch wie Aufzeichnungen geträumter Episoden; wer weiß, vielleicht sind sie’s ja.

Den Rang als Titelgeschichte hat sich dieser unglückliche Bootsausflug schon allein wegen seiner durchdringenden Boshaftigkeit verdient – für mich eine der schlimmst-wurmenden Episoden im ganzen Buch. Und das will was heißen.
In A Wanted Man zum Beispiel hetzt man lesend durch eine Metropole, eigentlich Sinnbild für Zivilisation, und versucht mit dem Protagonisten Schritt zu halten, der pausenlos Weibchen begattet und von anderen Männchen zu Revierkämpfen herausgefordert wird – hier darf der Mensch vollends Tier sein, nur seinen Trieben verpflichtet, und es ist vollends grausam. Ähnlich zügellos geht es in It’s Coming zu: Ein Hochhaus wird angegriffen, unzählige Angestellte, die dort für internationale Büros arbeiten, werden direkt vom Schreibtisch in den Tod befördert (man denkt dabei zwangsläufig an die Twin Towers, nur ist dies hier eine Abstraktion, weltpolitisch neutral, in der Realität so nicht auffindbar, wie alle Orte in diesem Buch), und die von Angst und Kontrollverlust befeuerte psychologische Dynamik treibt unter den noch Lebenden, die quer durch die Etagen gejagt werden, schaurige, mitunter überraschende Blüten. Die Abschlussgeschichte, The Not-Needed Forest, wo ein Haufen aussortierter Kinder allein in der Wildnis zu überleben versucht und dabei haarsträubende Rituale entwickelt, geht maximal ans Eingemachte – das ist Goldings Der Herr der Fliegen, bloß übersetzt in die nahe Zukunft und verdichtet auf 20 Seiten, und mehr würde ich auch gar nicht ertragen. 

Ja, ich weiß. Ein Buch, das mir so empfohlen würde, würde ich an Ihrer Stelle auch nicht lesen.

Gelesen habe ich, die ich mein Leben lang noch keine Stephen-King-Verfilmung zu Ende anschauen konnte, ich, die kategorische Horror-Verweigerin, die Angsthäsin, das Weichei, dieses Buch bis jetzt zweieinhalb Mal.

Das Zutagetreten einer rohen, archaischen, unkalkulierbaren Natur, die, vom zivilisierten Alltagsleben in den Schlaf gewogen, unterhalb unserer Haut schlummert, ist Cooks roter Faden. Und trotzdem dreht es sich um mehr als bloß Gewalt und Panik, ist Cook eine Frau fürs Subtile – die stillen Ängste zu portraitieren, ist ihr größtes Talent. Statt bloße Horrorgeschichten zu erzählen, die auf Schock-Effekte aus sind, entwirft Cook psychologische Bilderwelten, die verbreitete Ängste und Leiden ernst nehmen, indem sie deren Wucht geschickt sichtbar machen. Jede dieser Geschichten ist ein Alptraum, und fast jeden davon habe ich schon mal geträumt.

Dieser Bootsausflug. Natürlich geht’s da nicht um das Wasser. Es geht um kleine Demütigungen und Verletzungen. Scham, Enttäuschung, Entfremdung, Verunsicherung, Konfrontation, Ablehnung, Unfreundlichkeit. Um diese vermeintlich harmlosen Dinge im Zwischenmenschlichen – die einen nachts wach halten können. Die einen krank machen können. Oder schlimmeres.

Die Geschichte jedoch, woran ich am langwierigsten zu knabbern habe, ist unangefochten Somebody’s Baby. Lesen Sie’s nicht, wenn Sie gerade Jungeltern geworden sind, wirklich, lassen Sie’s sein (Sie haben in dem Fall sowieso keine Zeit, irgendwas zu lesen, aber seien sie ausnahmsweise froh drum). Es hat mich sofort zurückversetzt in den Moment, als ich damals mit Baby aus dem Krankenhaus nach Hause kam, diese ganze, über neun Monate hinweg ausgestaltete Kulisse mit Wickeltisch, Babybett usw. plötzlich mit Leben gefüllt wurde und alles, auch ich, endlich in der Realität ankam. Und kapierte, was Angst haben heißt. Verantwortung haben, Glück haben, ein Kind haben heißt Angst haben. Eine Scheißangst, immer. Bei aller Fröhlichkeit, auch aller Genervtheit und Müdigkeit, die einen vorrangig beschäftigen, lauert im Hintergrund doch permanent diese Angst, und in Cooks Geschichte findet sich dafür folgendes Bild: Im Vorgarten, hinterm Gebüsch, lauert ein Mann, der niemals schläft und den niemand je in die Finger kriegen wird, und sobald du einmal nicht aufpasst, klaut er dein Kind. Es ist weg, du siehst es nie wieder. Alle Eltern kennen diesen Mann, er klaut alle Neugeborenen, wenn man nicht aufpasst, er gehört eben dazu – normal. Du hast eine quälende Angst vor dem Mann-im-Gebüsch, aber niemand nimmt dich in deiner Angst ernst, nun, die Normalität mag ja grausam sein, aber sie eben ist die Normalität, weswegen stellst du dich dermaßen an?

Wie geht man mit solchen Ängsten um? Wann kann ich aufhören, dieses Buch immer wieder in die Hand zu nehmen?


>Diane Cook, Man V. Nature

ANS EINGEMACHTE > Persistence

Die Sommerferien sind vorbei.
Kein hitziger Freibad-Sommer war das, aber doch eine zähe, unbewegliche, plattgedrückte Zeit; in jedem Jahr verfalle ich in solche Sommerstarre, es ist einfach nicht meine Jahreszeit.
Keine Reise. Viel Wandern, einmal Wattwandern, sonst keine sonderlichen Ausflüge. An den verregneten Tagen erinnerten mich diese trägen Ferien ausgesprochen deutlich an meine eigenen Schulferien – in den 90ern – , was kein Zufall ist, wo ich doch neuerdings mit Kind und Mann in meinem Elternhaus wohne. (Das sollten Sie nicht etwa als einen Rückzug in meine heile Kindheitswelt missverstehen. Hier gibt’s bloß einen Haufen Arbeit.) Neben der räumlichen Nähe besteht auch qualitative Ähnlichkeit: Ferien bedeuteten für mich als Kind, die Zeit totzuschlagen. Mich irgendwie zu beschäftigen. Keine – ich wiederhole: keine – Termine zu haben. In meiner Kindheit ging man, ganz wie in pandemiebewussten Zeiten, auch nicht einfach Leute besuchen, in Restaurants oder Museen, es gab kaum Sport-, keine Unterhaltungsangebote vor Ort, hier in der Provinz, und für mich auch keine Spielbesuche. Es war nichts los. Gar nichts. Und in den Ferien noch weniger als das.
Nie bin ich anfälliger für gemütskranke Schübe als im Sommer.
Meine Jobsuche: keine interessanten Stellen, zwei Absagen.
(Immerhin macht mir, wie gesagt, das Haus zu viel Arbeit, um sagen zu können, ich hätte Langeweile. Aber nicht die Art von Arbeit, um sagen zu können, ich hätte eine Aufgabe.)
Ich bin heilfroh, dass mein Kind nach dem Umzug hierher gut anknüpfen konnte an alte Freundschaften, auch neue dazugewonnen hat und nach den ersten Schultagen als Fünftklässler glücklich über die neue Schule ist. Das ist meine Pandemietaktik: Grundlagen definieren, die gesichert sein müssen – Kind glücklich, Mann gesund – , und allem übrigen einfach seinen Lauf lassen. Dankbar sein. Nicht nölen.
Ich bin tatsächlich dankbar, es könnte uns tatsächlich schlechter gehen. Es ging uns schon schlechter.
Ob der Bläserkurs in der Schule, für den sich mein Sohn eingetragen hatte und den er kaum erwarten kann, einigermaßen stattfinden kann, muss sich zeigen. Ich wäre schon zufrieden, wenn wir nicht nach den ersten paar Schultagen direkt in die erste Quarantäne wandern.
Anfangs habe ich mich lustig gemacht über solche Leute, die es nicht aushalten können, wenn ihr Alltags-Einerlei ausnahmsweise einmal nicht nach Plan verläuft. Ich selber kann Alltag nicht gut; in kritischen Lagen bin ich viel, sagen wir mal, funktionaler. Aber jetzt, da das Auf und Ab mit der Pandemie zum Alltags-Einerlei geworden ist – da geht es mir reell ans Eingemachte.
Die kleine Stereoanlage in meiner Küche spielt pausenlos Nachrichten, Features und Musik ab, weil Geräusche die Decken davon abhalten, mir auf den Kopf zu fallen. Vor einer Weile habe ich mir mal eine neue CD bestellt (ich gönne mir das selten), die ich inzwischen schlechterdings als mein Pandemie-Album bezeichnen muss; erschienen war es schon 2019, lief für mich aber erst unter Lockdown-Bedingungen zu Idealform auf und schmiert seitdem quasi täglich seine klebrigen Melodien an meine Wände. Bowman Trio, Persistence. Drei Finnen mit Trompete, Bass und Schlagzeug. Das ist sehr hörbarer, dabei aber kein glatter Jazz: zähe, trottende Dynamik, in der es ab und an unrund stolpert. Manchmal versucht die Trompete, ein Stück auf Trab zu bringen, dann aber geht ihr doch die Puste aus und sie legt sich müde hin – allerdings nie endgültig, sie berappelt sich immer wieder. Persistence heißt ja so viel wie Beharrlichkeit, und das passt denn auch zu diesem Album, dessen Ton häufig kurz davor scheint, vor Entkräftung dahinzusiechen, und gleichzeitig einfach nicht totzukriegen ist; bestechend perfekt also auch sein atmosphärischer Einklang mit meinem Alltags-Einerlei.
Besonders das Titelstück ist ein Ohrwurm, der mich seit Monaten verfolgt: ein unauffälliges, aber unerbittliches Stück. Manchmal, wissen Sie, da stelle ich mir schaudernd vor, wie es gespielt vom Bläserorchester meines Kindes klingen würde, in einem oder zwei Jahren, ein jedes Kind mit seiner Trompete oder Posaune zugeschaltet von zuhause via IServ-Videokonferenz.

ANS EINGEMACHTE > Im Park hinter den Augen

Vom nahen Fliegerhorst aus sind vergangene Woche mehrere A400M in Richtung Kabul abgeflogen. Auch die übrigen Maschinen sind ständig in der Luft, der ganze Flugdienst in Bereitschaft.
Früher waren es Transall C-160, deren Tiefflüge über unserem Garten mein Zwerchfell schüttelten – mein Vater kannte ihre Kabelbäume persönlich, und ich liebte die olivgrün-gescheckten Maschinen und den vibrierenden Krach ihrer Übungsflüge sehr. Vor allem mochte ich die Geschichten über ihre Hilfseinsätze; die Bilder der Trall in weißer UN-Lackierung waren besonders erfolgreich als Wohlfühl-PR für die Truppe. Zudem überlagerten sich bei mir natürlich die Wahrnehmung von Vater und Flugmaschine, wodurch das Bild einer irgendwie väterlichen Flugmaschine entstand.
Andere Mädchen striegelten liebevoll ihre Pferde, ich tätschelte taktische Transportflugzeuge. Es war sehr schön, daran zu glauben, dass diese lauten, spartanischen Ungetüme im Dienst der zwei großen F unterwegs waren.
Gegen den Airbus A400M Atlas wirkt die ausgediente Transall in Größe und Ausstattung kläglich. Woran es dem Nachfolger allerdings fehlt, ist deren unerreicht-rosiges Image einer humanitären Rettungsmaschine – das auch mein Vater umso vehementer beschwor, je mulmiger ihm während der Nach-Wende-Jahre auf seinem Fliegerhorst zumute wurde, als nach dem Kalten Krieg nicht etwa endlich, endlich der Weltfrieden, sondern die Golfkriege ausbrachen, eine neue Generation von Kriegen sich anbahnte, das Patriot-Raketensystem in seinem Arbeitsalltag ankam und vor dem Hintergrund üppiger Rüstungsexporte die zwei großen F – Frieden und Freiheit – immer winziger wurden.
Mein Transall-Vater ist lange tot und ich lange kein Grundschulkind mehr – das beides fiel mir ein, als ich Anfang letzter Woche unter einem weiten Himmel voller A400M-Dröhnen stand, in den auf einmal eine weitere Maschine hineinschnitt, die ich wegen ihrer feierlichen Sonderlackierung erst gar nicht erkannte: die Trall, die mit Ablauf dieses Jahres nun endgültig außer Dienst gestellt werden wird, auf dem letzten ihrer Abschiedsflüge.
Ich konnte mir ein Winken nicht verkneifen, ein entgegenkommender Radfahrer grüßte freundlich-irritiert zurück, peinlich, aber Zehnjährigen ist so was ja schnuppe und in diesem Moment war ich kurz wieder zehn. Da flogen viele Arbeitsstunden meines Vaters hin, und viele Besuchstage in Werkstatt und Hangar. Natürlich auch eine Menge CO₂. Und obendrein der Rest einer humanitären Wunschvorstellung, der als Staub aus den 80ern bislang noch in einer versteckten Ecke im Apparat verblieben gewesen war.

Seit meiner Zweitimpfe sind ein paar Tage vergangen und ich schlechterdings noch nicht wieder zu gebrauchen. Auch schön. Der Eindruck, mir gehe universell die Puste aus, ist zur Abwechslung einmal medizinisch legitimiert – der Eindruck, mir würde Substanz abgerieben, weggeschliffen. Dabei ist mein Reflex, in Sachen meiner Dauerträgheit ständig mit guten Begründungen oder notfalls findigen Ausreden zu wedeln, so überflüssig, es ist alles ganz einfach: Ich bin müde, und Sie auch.

Menschen, die sich an Flugzeuge krallen und abstürzen. Menschen, die sich an Schlauchboote krallen und versinken. Menschen, die privat ins All fliegen. Menschen, die von Waldbränden eingekesselt werden. Menschen, die von Flutwellen und Schlammlawinen mitgerissen werden. Menschen, die keine Luft bekommen. Menschen, die schwurbeln. Menschen, die verhaftet, misshandelt, vergiftet werden. Menschen, die –
Katzenvideos.
Sie kennen dieses Karussell, das sich wie ein Mahlwerk dreht.

Es gibt da diesen Park, den es nicht gibt. Angelegt auf einer Flussinsel. Lassen Sie mich ein bisschen ausholen, ja?
Über eine neugotische Brücke gelangt man zum Werder hinüber, der dicht mit Bäumen bestanden und von Röhricht umsäumt ist. Eine Pappel-Reihe begleitet den einzigen schnurgeraden und breiten, mit Muschelkies gestreuten Weg, und diese Blickachse öffnet sich zu einer Rotunde hin, die an ein Planetarium, einen Getreidespeicher, vielleicht auch einen Kirchturm ohne Kirchenschiff denken lässt. Zahlreiche schmale Pfade winden sich an Strauchgruppen entlang, zwischen Zierbäumchen und Staudenbeeten hindurch, immer weiter, vorbei an den gewölbten Buckeln großer Findlinge, nie einen Blick freigebend auf den Fluss.
Man muss die Pfade gut kennen, um bestimmte Plätze im Park finden zu können. Ich setze mich auf eine Parkbank am versteckten Teich – eine Rundmauer aus Klötzen von Grauwacke umgibt das tiefgrüne, ruhige Wasser. Seerosen, Lilien, Libellen.
Weiterschlendernd komme ich zu einer gelinden Anhöhe, wo das Parkcafé liegt. Ein Holzbau mit Sprossenfenstern; von der überdachten Terrasse aus schaut man auf die Kuppen der Sträucher und seitlich auf die Pappelallee. Das vielfarbige Bleiglas der Eingangstür wirft bunte Lichtflecken aufs Parkett im Inneren. Dort stehen, auf einem Tisch in einer Fensternische, wortlos eine weiße Kaffeekanne, eine schwarze Tasse und dazu mal ein Gebäckstück, mal eine Zeitung oder ein Buch, oft ein Blumensträußchen.
Mein dritter Verweilort im Park befindet sich unterm Dach der Rotunde, wo durch ein Gaubenfenster viel Licht und etwas Himmel hereinfallen. Der nackte Raum riecht nach dem Holz der Balken, Lehmputz und Staub. Auf den federnden, knarrigen Bodenbrettern hört man seine eigenen Schritte wie eine antike Sprache klingen und versucht sie zu verstehen. Wenn es draußen regnet und weht, ist dieser Platz am schönsten.
Es ist nicht so, dass dieser Park privat oder versperrt wäre – es ist ein ganz gewöhnlicher öffentlicher Park. Trotzdem bin ich hier ausnahmslos allein mit mir selbst. Nie treffe ich auf Menschen, weil ich mich immer in diesem bestimmten Moment dort bewege, wo andere Menschen gerade eben um die nächste Ecke verschwunden oder gerade noch nicht in mein Umfeld eingetreten sind, es ist also immer gerade niemand da, und dieses punktuelle Zeitfenster – gerade – dehnt sich, nur für mich, zu einer Ewigkeit aus. Ich kann deswegen eine Ewigkeit lang ganz für mich allein, selbstversunken, meinen heißen, schwarzen Kaffee am Tisch in der Café-Nische trinken, denn die Bedienung bringt eine Ewigkeit lang gerade ein Tablett mit Geschirr in die Küche. Usw.

Im inwendigen Park finde ich oft genug Rückzug, Rettung. Das ist kein Eskapismus – der liegt mir nicht. Wer sich verdrückt, kann nie mit sich selbst ins Reine kommen, und wer das nicht ist, kommt wiederum nie in einen solchen Park hinein. Kinder malen oder basteln vergleichbare Orte, die ein Amalgam empfindungssatter Eindrücke sind – heimelige Baumhäuser, Tiefseestationen, Höhlen, Zwergendörfer, Hausboot-Siedlungen usw. – und es ist sichtbar gesund für sie, warum also je damit aufhören, solche Orte für sich zu erfinden?
Ich stelle fest, dass die Notwendigkeit stetig wächst, mich öfters und zunehmend intensiv von der echten Welt abzukoppeln. Ich arbeite nicht in der Medizin oder für Lieferdienste oder wo zur Zeit sonst so die Post abgeht; Passivität dämpft meinen Alltag, alles verläuft so gebremst und abwartend, auch frustrierend. Würde ich nicht ab und an einen morschen Apfelbaum zerhacken oder Sperrmüll zerkleinern, dass es kracht, wären meine Tage sehr still.
Draußen in der echten Welt geht es ans Eingemachte, und ich habe keine Mittel oder Fähigkeiten, daran etwas zu verändern. Die kindliche Zuversicht ist mir abhanden gekommen. Auch die Geduld mit Leuten. Macht euren Quatsch halt alleine, denke ich oft genug – wenn mich wer sucht, ich bin im Park. Wo mich doch niemand findet, denn egal wann und egal wo ich dort bin, ist ja immer gerade niemand da…
Wie gut, dass ich stille Ewigkeiten in diesem Park zubringen kann, den es nicht gibt. Und wie bitter.


>Foto: Grebe