AM MEER > Jón Kalman Stefánsson, Himmel und Hölle

Es gibt ein Fach in meinem Bücherregal, in dem das Meer braust. Kein Urlaubsmeer, kein Postkartenidyll, sondern ein sturmheulendes Ungetüm. Natürlich steht dort Joseph Conrad mit Lord Jim, aber auch Bjarne Reuter mit Prinz Faisals Ring (wer dies für ein reines Jugendbuch hält, war noch nicht gemeinsam mit Tom Collins in des Teufels Schädelspitze) oder Gerhard Sagerts Fischerei-Berichte aus den 60er Jahren: Fischdampfer Hannover Kurs Grönland (siehe Beitragsbild) und Ähnliches. Ganz vorne an steht dort, täuschend klein und schlicht: Jón Kalman Stefánsson, Himmel und Hölle.

Ein kleiner Hafenort auf Island vor einhundert Jahren, umschlossen von Bergen und rauer See, und natürlich die See selbst sind die Schauplätze dieses Romans über einen Heranwachsenden, der in ein entbehrungsreiches Fischer-Leben hineinwächst.

Die Berge überragen Leben und Tod und die paar Häuser, die sich auf der Landzunge zusammendrängen. Wir leben auf dem Grund einer Schüssel, der Tag geht vorüber, es wird Abend, die Schüssel läuft langsam voll Dunkelheit, und dann leuchten die Sterne auf. Ewig blinken sie über uns, als hätten sie eine wichtige Botschaft, aber welche und für wen? Was wollen sie von uns, oder vielleicht eher noch: was wollen wir von ihnen? 

Ein Überleben sichert hier nur die Fischerei, einen Tod auf dem Meer sichert sie indes auch – vielen sogar, jedes Jahr von Neuem. Es sind Zeiten, in denen besonders im Winter das Leben kaum mehr möglich scheint auf diesem kargen Stück Erde, doch gerade im Winter kommen die kostbaren Kabeljauschwärme, denen die Männer in offenen Ruderbooten, der tobenden See und dem Eiswind ungeschützt preisgegeben, nachjagen. Die See, die Männer, der Fisch, der Tod – vier Eckpunkte, die das, was Leben an diesem Ort bedeutet, einrahmen. Aber Frauen? Oder gar Literatur? Himmel und Hölle erzählt die Geschehnisse eines wenige Tage kleinen Zeitraumes im Leben eines namenlosen Jungen und begleitet ihn dabei an einem entscheidenden Punkt seines Erwachsenwerdens. Sein Freund Bardur ist wie er in diesem Leben eingekesselt, liest jedoch ungewöhnlich viel. Kann man in einem solchen Leben Poesie lieben? Muss man das vielleicht sogar? In Bardurs Fall kostet sie ihn das Leben. Mit dem Verlust des besten, des einzigen Freundes fühlt der Junge auch einen Teil von sich sterben. Gibt es eine Antwort auf die Frage, wie man danach ins Leben zurück finden soll? Und wo findet man sie? Himmel und Hölle ist ein Roman über existentielle Kämpfe – mit den Gewalten, von denen man bestimmt wird, und mit sich selbst. Ich könnte es einen „historischen Coming-of-Age-Roman auf Isländisch“ nennen oder es mit der Schlagzeile „Cormac McCarthy unter Fischern“ überschreiben. Lieber sage ich, dass seine stille Wucht mich nie losgelassen hat.


Jón Kalman Stefánsson, Himmel und Hölle (Reclam; inzwischen bei Piper als Taschenbuch) 

AM MEER > Albrecht Schaeffer, Meeres-Abend

Strand-Abend, Kiel-Schilksee (Sonja Grebe)

Meeres-Abend

Du schüttelst, Baum, dein dunkles Haupt,
so ganz gedanken-überlaubt,
so altersgrün, so zeitbestaubt.

Da flog der leichte Windgott aus,
mit Schwingen spitz, im kalten Saus,
und kreist und bläst ums Bauernhaus.

Dann schleicht er einer Schlange gleich
durchs wehnde Gras, hinan den Deich,
und hockt dort schwarz, vorm Abend bleich.

O Glanz des Meeres perlmutterklar!
Der Windgott schließt das Augenpaar
und lächelt schmal aus wirrem Haar.

Verschwand er dann? Der Deich ist leer.
Es schläft der Baum, das Haus, das Meer.
Aus Westen weht ein Traum daher.

(Albrecht Schaeffer)


Die See und der Wind sind Eins. Windstille ergreift nie alle Meere, nur hier und da ruht die Luft manchmal aus – Flaute -, doch weiß man: Andernorts wüten Stürme. Je besser man Wasser und Wind kennenlernt, desto mühsamer fällt es, sie nicht als eigene Wesen zu betrachten – oder gar Überwesen.


Albrecht Schaeffer (geb.1885) wuchs in Hannover auf; sein Helianth ist ein einsames Beispiel hannöverscher Monumental-Literatur. Geboren wurde er jedoch nahe der Ostseeküste im früheren Ostpreußen. Nach der Studienzeit, die er unter anderem in Berlin verlebte, zog es ihn zunächst zurück nach Hannover, später wieder nach Berlin, darauf nach Bayern – ein Wanderleben. Von Bayern aus emigrierte er 1939 mit seiner teils jüdischen Familie in die USA, wo er gemeinsam mit seiner Frau ein Heim für Emigrantenkinder gründete. Er bekam hierfür – und um weiter schreiben zu können – finanzielle Unterstützung von befreundeten Schriftstellern; Thomas Mann zum Beispiel schickte ihm Geldschecks. 1950 kehrte er nach Deutschland zurück, starb aber im selben Jahr in München. Sein Grab liegt in Hannover.


Foto: Strand-Abend in Kiel-Schilksee (Grebe 2014)