Hochgeehrter Herr Geheimrat, ich brauche einen Zeppelin.
Eine unverfrorene Bestellung, sein sparsamer Dienstherr wird diesen Brief von ihm mit Schaum vorm Mund lesen – das ist Jacob Tolmeyn bewusst. Doch alles im Leben hängt davon ab, mit welcher anhängigen Geschichte es serviert wird – das ist Tolmeyn ebenfalls bewusst, ungemein sogar: Diese Richtlinie regiert über sein Leben.
So einer musste ja folgerichtig Geschichtsforscher werden, Kunsthistoriker um genau zu sein, und in dieser Funktion hatte es Jacob Tolmeyn aus dem wilden Berlin nach Rom verschlagen, ans Könglich Preußische Historische Institut, wo er zunächst ein staubiges Dasein zwischen Dokumentbergen und Archivkellern fristete. Erst ein überraschender Forschungsauftrag hat ihn ans Tageslicht zurück geholt. Zu Beginn des Jahres 1914 befindet man sich noch in Friedenszeiten, doch der Zeitgeist im renommiersüchtigen Kaiserreich verlangt bereits nach Heldenfiguren, vorzugsweise aus der glorifizierten Historie, und so soll auch die Strahlkraft des großen Stauferkaisers Friedrich des II. wieder aufpoliert werden. Wo es um Identitätspflege und Außendarstellung geht, darf kein Aufwand gescheut werden – für das Kaiserreich gilt dies im Großen wie für Tolmeyn im Privaten.
Von höchster Stelle ist Tolmeyn also nach Süditalien entsandt worden. Zwar wenig reiseerfahren, doch herzlich erfreut über die sonnige Abwechsung zum Archivdunkel, folgt er hier den Spuren Friedrichs des II., des großen Freigeistes, Gelehrten, Genießers. Kein Zufall, dass es den nicht im harschen Norden hielt, und kaum größer könnten die Differenzen zwischen diesem Universalgenie und dem gegenwärtigen Träger der Kaiserwürde sein. Welchem von beiden die Sympathien Tolmeyns eher gelten mögen, ist kein Rätsel, denn dem Preußen Tolmeyn liegt das Preußische nicht. Warum eigentlich nicht?
Sein Dienstherr Professor Stammschröer beordert ihn zwischenzeitlich nach Berlin zurück, nur für die Dauer eines Photographie-Kurses, den er bei einer Koryphäe des Fachs absolvieren soll. Allein der Gedanke Berlin bringt Tolmeyn ins Schwitzen, den Aufenthalt verlebt er begleitet von Magenweh und Beklemmung, und man versteht: Keine Temperamentsgründe, sondern Angst hatten ihn nach Rom getrieben, fort von Preußen. Zwar liebt der urbane Schöngeist Tolmeyn seine Heimatstadt, doch die Männer liebt er eben auch – und macht sich nach Wilhelminischem Recht dadurch strafbar. Die eigene, die eigentliche Identität: illegal. Und auch die Nebenwirkungen, die jede Form von Rechtswidrigkeit entfaltet, quälen Tolmeyn: Erpressbarkeit, dunkle Geheimnisse, Vertuschungsnöte.
Wie befreit darf er sich also fühlen während seiner apulischen Mission! Zudem erfreut er sich der Begleitung durch einen sehr brauchbaren Assistenten: Beat Imboden, bisher weitgehend unbeachteter Archivkeller-Nachbar Tolmeyns aus dem Institut, ein aus undeutlichen Beweggründen in Rom gelandeter Schweizer, der sich in Apulien jedoch zusehends prächtig entwickelt. Die südliche Sonne und der Geist des Stupor Mundi vertragen sich hervorragend mit dem Fortschrittsgedanken, in dessen Diensten Tolmeyn und Imboden zu stehen glauben. Sie entstauben Legenden, legen Grundrisse frei, erweitern ihr Sehvermögen mittels Photographie und Mikroskopie. Die Zeiten sind schließlich von Aufbruchswillen geprägt, das junge Jahrhundert nimmt gerade erst Fahrt auf und zeigt sich verheißungsvoll. Neue Horizonte, neue Wissenschaften! Gar eine neue Gesellschaft?
Die Geschichte, mit der Tolmeyn dem Institutsleiter also seine budgetsprengende Zeppelin-Bestellung serviert, ist keine geringere als die vom Fortschritt der Menschheit. Hoch hinaus in den freien Luftraum will er, der Mensch, und das auf komfortable Weise, uneingegrenzt und unbeschwert will er sein. Aber bekommt Tolmeyn auch seinen Zeppelin? Was Tolmeyn und Imboden auf ihrer ausgedehnten Reise fernab des Preußentums gern vergessen, ist dass sie schließlich in dessen Interesse stattfindet. Und ein Preuße hat bodenständig zu sein. Außerdem herrscht plötzlich Luftschiff-Mangel, man requiriert Mittel und Material, denn es beginnt ein Wort seine Kreise zu ziehen, das einen ganz anderen Fortschritt verkörpert als jenen, in den Tolmeyn so gern hinein leben würde: Mobilmachung.
Christoph Poschenrieder hat für seinen aktuellen Roman einen effektvollen Einstieg gefunden: Eingangs beobachtet man einen rätselhaften Mann, der Sand aus Süditalien auf den Straßen Berlins ausstreut – bis ihm bald der halbe Stadtteil hinterherläuft, und die kaiserliche Polizei ihn schließlich dem Verhör zuführt. Die skurrile Handlung des Mannes und das karikierte preußische Beamtenwesen bieten sich dankbar an als perfekte Aufhänger für eine Buchbesprechung. Oft erlebt man leider, dass sich der Ideenvorrat eines Romans in einem solchen Aufhänger bereits erschöpft, in der Folge erlahmt die Geschichte. Ein Buch, das von einer einzigen Idee getragen werden muss, hätte vielleicht besser als Kurzgeschichte auf die Welt kommen sollen. In Das Sandkorn wird dieser Aufhänger jedoch so genutzt, dass er seinem Wortsinn gerecht wird: Er trägt eine große Geschichte. Ausgehend von der Initialszene spannt Poschenrieder Erzählfäden in diverse Vergangenheiten, dennoch wirkt der Erzählfluss nie allzu verzweigt oder gar gebrochen. So begegnet man beispielsweise dem Sandstreuer auf offener Straße und später im Verhörraum in der Gegenwartsform, während man parallel dazu die Perspektive des ihn vernehmenden Kriminalers Treptow durch Auszüge aus dessen Memoiren geliefert bekommt. Treptow übrigens bleibt der Geschichte weit über das Verhör hinaus erhalten, von seinem Gegenüber hat er noch viel zu berichten – der Mann mochte ihm wenig zu gestehen haben, dafür umso mehr zu erzählen. Und wo wir gerade beim Kriminaler sind: Was hat es eigentlich mit Fritzi und Niki auf sich, und welcher Zusammenhang besteht vielleicht zwischen Jacob Tolmeyn und dem toten Mann aus der Spree?
Die handwerkliche Kunst des Autors offenbart sich bei Christoph Poschenrieders Romanen immer gerade darin, dass man sie als Leser kaum bewusst wahrnimmt. Selten sind perfekter Stil so unterhaltsam und Unterhaltsamkeit so anspruchsvoll. Wer sich zum Schluss dieses Romans klar macht, dass er gerade eine Geschichte gelesen hat, in der sich eine Kriminalermittlung, der Ausbruch des Ersten Weltkrieges, zwei Kaiser, verschiedene Schauplätze, der § 175 und – wir wollen die funkelnde Laetizia nicht vergessen – die Frauenrechtsbewegung verbinden, ist erstaunt, dass dieser enorme Aufeinanderprall nicht den geringsten Krach verursacht hat.
Warum Sand? Tolmeyn nimmt Proben von Sand, untersucht seine Zusammensetzungen, leuchtet ihn mikroskopisch aus, paniert sich beim Sonnenbaden, trägt ihn bei sich, entzaubert ihn mit wissenschaftlichen Mitteln, lässt die Magie einer Hexe auf ihn wirken, und mehr. Wer, wie Christoph Poschenrieder es in diesem Roman getan hat, den Sand als Leitmetapher für eine Geschichte über Identitätskämpfe wählt, eröffnet sich damit ein breites Spektrum an Sinnbildern. Um eine besondere Variante des Sandes kommt man dabei wohl nicht herum: Treibsand. In zwei Szenen hat der Treibsand hier seinen Auftritt – die zweite spiegelt dabei die erste. In beiden zeigt sich je eine ganze Welt, zusammengefaltet auf wenige Zeilen Umfang, und die Frage „Welche der beiden Welten hättest Du Dir gewünscht?“ zu beantworten, tut ein bisschen weh. Nein, sehr.
Christoph Poschenrieder, Das Sandkorn (Diogenes)