LEBEN AM FLUSS > Von Vätern und Söhnen: Blues am Mississippi und am Niger

Wer Blues sagt, denkt den Mississippi mit – an wohl kaum einem anderen Ort sind Musik und Fluss so eng miteinander verbunden. Der Delta-Blues, entstanden zu Beginn des letzten Jahrhunderts, hat sich für die Entwicklung moderner Musikrichtungen als Zündfunke von unschätzbarem Wert erwiesen. In der Fortentwicklung des Neuen jedoch ging das Wissen um dessen Wurzeln weitgehend verloren. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, die den Blues hervorgebracht hatten, durchliefen grundlegende Veränderungen, es stockte dadurch auch die mündliche Tradierung des Liedguts. Neue Tonaufnahme- und Wiedergabetechniken waren noch nicht demokratisiert verfügbar. Vermutlich wäre die Vielfalt des Blues bald undokumentiert verklungen und ein großer Teil vergessen worden.

<Go and get this material while it can be found. Preserve the words and music. That’s your job.>* Mit diesen Worten wurde John Lomax von Seiten der Harvard-Universität in seiner Forschungsarbeit ermutigt, die ihn kreuz und quer durch die USA führen sollte: Die Dokumentation amerikanischer Musikfolklore. Lomax, dessen Kindheit auf der elterlichen Farm begleitet worden war von den Gesängen der Tagelöhner, befreiten Sklaven und Cowboys, hatte durch Ernteerlöse und den Verkauf seines Ponys genug Geld zusammenkratzen können um eine akademische Ausbildung zu finanzieren, die sich bald in den Kulturwissenschaftsbereich verlagern sollte, wo sie sich schließlich auf die Musikforschung konzentrierte. Beginnend mit seiner Studienzeit, sammelte Lomax über Jahrzehnte hinweg tausende von Dokumenten traditioneller amerikanischer Musik. Zunächst allein, ab den 1930er Jahren dann begleitet von seinem Sohn Alan und einem annähernd drei Zenter schweren Phonographen, begab er sich auf seine als Field Trips bekannt gewordenen Aufnahme-Reisen. Steigende akademische Anerkennung und gelegentliche Radioauftritte sorgten dafür, dass Lomax´ zunehmende Popularität teilweise auch auf die von ihm besuchten Musiker abstrahlte: Zum Beispiel beschäftigte Lomax sich intensiv mit Prison Songs – die Gefängnisse galten als Enklave ungebrochener Weitergabe traditionellen Liedguts, auch in Form der von den Chain Gangs gesungenen Work Songs – und stieß in diesem Zusammenhang auf einen ehemaligen Häftling namens Lead Belly. Diesem war als erstem Blues-Musiker eine veritable Karriere beschieden, die von Lomax durchgehend gefördert wurde. Die von Lead Belly adaptierten oder selbst geschriebenen Stücke sind ein elementarer Bestandteil der amerikanischen Musikkultur geworden. Alan Lomax setzte die Arbeit des Vaters fort, indem er einem vielleicht noch intensiveren Weg folgte. Über die USA hinaus führten ihn seine Aufnahmereisen unter anderem bis nach Haiti, Marokko, Großbritannien und auf die Bahamas. Ihn trieb die Idee an, durch das Verdeutlichen von Entwicklungszusammenhängen in regional getrennten Musiktraditionen eine Art musikalischer Internationale aufzuzeigen. Geprägt war die Musikforschung der Lomaxes jahrzehntelang von finanziellen und gesundheitlichen Widrigkeiten. Eine breite öffentliche Wertschätzung ihrer Arbeit bestand jedoch stetig. Über zehntausend Aufnahmen lagern in der Library of Congress. In digitalisierten Zeiten vereinfacht sich der Zugriff auf die Dokumentationen für die breite Öffentlichkeit. Inzwischen findet sich via Youtube eine Zusammenstellung vieler beeindruckender Aufnahmen im Alan Lomax Archive.

(*Charles Wolf and Kip Lornell, Life and Legend of Leadbelly (New York: Da Capo Press,1999), S.108)

Die Wurzeln des Blues zurückzuverfolgen, führt in letzter Konsequenz über den Ozean, den Abstammungsspuren amerikanischer Sklaven – nach Afrika. Dort hat sich derweil eine eigene Ausrichtung des Blues entwickelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Gitarre, bisher dort wenig verbreitet, ein populäres Instrument auf dem gesamten afrikanischen Kontinent. Und im Zuge verschiedener Unabhängigkeitsbewegungen vormaliger Kolonialstaaten zeigten in den 50er und 60er Jahren viele Regionen auch Mut zu ihrer musikalischen Identität. Die afrikanische Musik im Allgemeinen wurde zugänglicher für internationale Einflüsse und fand im Austausch größere Verbreitung auf dem europäischen und amerikanischen Kontinent.

Entlang des Niger zeigt sich eine ganz eigene musikalische Prägung. Den wenigsten unter uns dürften Instrumente namens Njarka, Ngoni oder Gurkel ein Begriff sein. In Verbindung mit der neu entdeckten Gitarre schufen Musiker in den Niger-Anreinerstaaten aus dem Klang jener traditionellen Instrumente und modernen Einflüssen den mittlerweile international populären Klang des Mali-Blues. Der inzwischen verstorbene Ali Farka Touré hat als zweimaliger Grammy-Gewinner unter jenen Musikern einen besonderen Status inne. Geboren am Niger und aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen, profitierte Touré in den 60er Jahren nach der Unabhängigkeit Malis von staatlichen Programmen zur Förderung lokaler Musiker. Seine erste eigene Gitarre kaufte Touré übrigens in Sofia; das Interesse an Folk-Musik erreichte in den späten 60er Jahren neue Höhen in Europa und führte auch afrikanische Musiker auf Tourneen zum Kontinent im Norden. In den 90er Jahren entstand mit dem amerikanischen Blues- und World-Musiker Ry Cooder eine Zusammenarbeit, die nicht nur Ali Farka Touré, sondern dem Mali Blues generell eine enorme internationale Aufmerksamkeit bescherte: Das Projekt Talking Timbuktu wurde mit einem Grammy geehrt und sicherte Touré auch finanziellen Erfolg. Inzwischen führt Tourés Sohn Vieux Farka Touré den musikalischen Weg seines Vaters fort und hat sich durch Auftritte in Afrika, Europa und Nordamerika als improvisationsbegabter Live-Musiker profiliert.

LEBEN AM FLUSS > Gertrud Leutenegger und Esther Kinsky in London

Zwei besondere Romane haben mich zuletzt gedanklich in die britische Hauptstadt geführt: Gertrud Leutenegger erzählt in Panischer Frühling von Stillstand und Bewegung. Und Am Fluß von Esther Kinsky beschreibt Werden und Vergehen von Mensch und Landschaft.

Ein Fluss ist Bewegung. Fließbewegungen kennzeichnen auch innere, höhere, übergeordnete Vorgänge: In uns fließt Blut, man misst Gehirnströme, man spricht vom Stream of Conciousness, ebenso von Finanzströmen oder kulturellen Strömungen, stellt die Geschichte im Ganzen wie auch das Leben des Einzelnen als Fluss dar – all dies Verborgene oder Abstrakte wird im Betrachten eines Flusses greifbar.

Die Themse ist es, die das Hintergrundrauschen zu Panischer Frühling beisteuert. Die wenig sesshafte Erzählerin des Romans hat sich in einem bewegten Leben eingerichtet, das sie inzwischen nach London geführt hat. Dort jedoch tritt jedem Bewegungsdrang ein unwirklich anmutendes Ereignis in den Weg: Die vom isländischen Vulkan Eyjafjallajökull verursachte Aschewolke sorgt für eine tagelange Flugsperre und konfrontiert die global-mobile Welt mit dem ausgestorben geglaubten Phänomen Stillstand. Leuteneggers Roman entfaltet eine reiche Symbolwelt im Spannungsfeld zwischen zwei Lebenspolen: Die Erzählerin steht zwischen Fluss und Verwurzelung – von fortgerissenen Wäldern, die den Fluss hinabtreiben, ist die Rede, ein Haus aus Kindheitserinnerungen besaß sowohl ein Waldzimmer als auch einen Seezimmer. Und die Symbolik weitet sich aus ins Gebiet der Großbegriffe: Leben und Tod, Werden und Vergehen. Das Leben ist ein Spiel der Wechsel. So besteht beispielsweise auch die Besonderheit der Themse darin, dass sie dem Tidenhub unterliegt. Analog dazu sind die Kapitel mit dem jeweiligen Wasserstand überschrieben, das Geschehen bewegt sich zwischen Low Water und High Water, die Ausschläge sind unterschiedlich hoch oder niedrig. Die Asche des Vulkans findet eine Parallele in jener Asche, an die sich die Erzählerin aus Kindertagen erinnert: Im kirchlichen Zeremoniell wird Asche auf das Haupt des jungen Mädchens gestreut um an die Sterblichkeit allen Irdischens zu gemahnen. Erblühen und Niedergang drängen sich bis in jeden nebensatzkleinen Raum hinein dicht aneinander, wo zum Beispiel in einer knappen Schilderung der prächtigen Frühlingsblüte im Park das Elend der Obdachlosen, die sich dort inmitten all der Blumen schlafend zusammenkrümmen, im selben Satz miterzählt wird. Ein bestimmter Obdachlose nimmt für die Erzählerin bald eine besondere Rolle ein: Jonathan, dem sie die Obdachlosenzeitung abkauft. Jonathan, dessen Gesicht zur Hälfte renessaincehaft zart, zur Hälfte entstellt ist. Es besteht eine Verbindung zwischen ihr und diesem Fremden. Wie tief und von welcher Art jene Verbindung wohl sein mag – dieser Frage geht die Erzählerin nach.

Auch in Am Fluß wird der Fluss zum lebensbeschreibenden Element, hier ist es der River Lea im Osten Londons. Die von ihm geprägte Marschlandschaft ist eine Welt, in der Aufschwünge und Niedergänge überall deutlich werden. Man mag sich darüber streiten, ob die Bezeichnung Roman für dieses Buch treffend ist – ich bin, anstatt mitzustreiten, lieber mitgeschwommen: Der Assoziationsstrom, den Esther Kinsky ausschüttet, ist ein wundervolles Leseerlebnis. Autobiographisch gefärbt, fügt die Autorin Beobachtungen aneinander, schildert Werdegänge und Hintergründe, die mit dem Fluss verknüpft sind, ihre tiefere Bedeutung dabei aber auf mehreren Ebenen entfalten. Ihr Erzähl-Ich arbeitet als Übersetzerin, ist tätig in verschiedenen Funktionen, in der Übertragungen von einer Sprache in eine andere vorgenommen und Bedeutungen umgewälzt werden, lebt selbst in Übergangszuständen, kommt nirgendwo an, kommt nicht zur Ruhe. Die eigene Vergangenheit vermischt sich mit Vergänglichkeitseindrücken, die sie entlang des Flusses sammelt: Im geographischen Randgebiet der Großstadt zerfasert die urbane Pracht der Metropole, soziale Randgebiete liefern menschliche Betrachtungen, Naturbeobachtungen und Industrieszenen verbinden sich. Begleitet werden die Beobachtungen von sich atmosphärisch perfekt einfügenden Abbildungen, die das Erzählte in schwarz-weißer Stimmung untermalen. Esther Kinskys Einfühlung in das von ihr so detailbewusst beschriebene Umfeld, die feine Wahrnehmung von Bedeutungsebenen, die sie elegant, intelligent, unaufgeregt in schlichtweg schöne Sprache fasst, machen dieses Buch für mich zu einer meiner liebsten Entdeckungen in diesem Jahr. Darüber hinaus zeigt sich durch Am Fluß mal wieder, dass es sich lohnt, immer ein Auge auf den Verlag Matthes & Seitz zu haben, in dessen Programm sich reichlich Schätze verstecken.


Gertrud Leutenegger, Panischer Frühling (Suhrkamp) Gebunden €19,95

Esther Kinsky, Am Fluß (Matthes & Seitz) Gebunden €22,90

SAND > Christoph Poschenrieder, Das Sandkorn

Hochgeehrter Herr Geheimrat, ich brauche einen Zeppelin. 

Eine unverfrorene Bestellung, sein sparsamer Dienstherr wird diesen Brief von ihm mit Schaum vorm Mund lesen – das ist Jacob Tolmeyn bewusst. Doch alles im Leben hängt davon ab, mit welcher anhängigen Geschichte es serviert wird – das ist Tolmeyn ebenfalls bewusst, ungemein sogar: Diese Richtlinie regiert über sein Leben.

So einer musste ja folgerichtig Geschichtsforscher werden, Kunsthistoriker um genau zu sein, und in dieser Funktion hatte es Jacob Tolmeyn aus dem wilden Berlin nach Rom verschlagen, ans Könglich Preußische Historische Institut, wo er zunächst ein staubiges Dasein zwischen Dokumentbergen und Archivkellern fristete. Erst ein überraschender Forschungsauftrag hat ihn ans Tageslicht zurück geholt. Zu Beginn des Jahres 1914 befindet man sich noch in Friedenszeiten, doch der Zeitgeist im renommiersüchtigen Kaiserreich verlangt bereits nach Heldenfiguren, vorzugsweise aus der glorifizierten Historie, und so soll auch die Strahlkraft des großen Stauferkaisers Friedrich des II. wieder aufpoliert werden. Wo es um Identitätspflege und Außendarstellung geht, darf kein Aufwand gescheut werden – für das Kaiserreich gilt dies im Großen wie für Tolmeyn im Privaten.

Von höchster Stelle ist Tolmeyn also nach Süditalien entsandt worden. Zwar wenig reiseerfahren, doch herzlich erfreut über die sonnige Abwechsung zum Archivdunkel, folgt er hier den Spuren Friedrichs des II., des großen Freigeistes, Gelehrten, Genießers. Kein Zufall, dass es den nicht im harschen Norden hielt, und kaum größer könnten die Differenzen zwischen diesem Universalgenie und dem gegenwärtigen Träger der Kaiserwürde sein. Welchem von beiden die Sympathien Tolmeyns eher gelten mögen, ist kein Rätsel, denn dem Preußen Tolmeyn liegt das Preußische nicht. Warum eigentlich nicht?

Sein Dienstherr Professor Stammschröer beordert ihn zwischenzeitlich nach Berlin zurück, nur für die Dauer eines Photographie-Kurses, den er bei einer Koryphäe des Fachs absolvieren soll. Allein der Gedanke Berlin bringt Tolmeyn ins Schwitzen, den Aufenthalt verlebt er begleitet von Magenweh und Beklemmung, und man versteht: Keine Temperamentsgründe, sondern Angst hatten ihn nach Rom getrieben, fort von Preußen. Zwar liebt der urbane Schöngeist Tolmeyn seine Heimatstadt, doch die Männer liebt er eben auch – und macht sich nach Wilhelminischem Recht dadurch strafbar. Die eigene, die eigentliche Identität: illegal. Und auch die Nebenwirkungen, die jede Form von Rechtswidrigkeit entfaltet, quälen Tolmeyn: Erpressbarkeit, dunkle Geheimnisse, Vertuschungsnöte.

Wie befreit darf er sich also fühlen während seiner apulischen Mission! Zudem erfreut er sich der Begleitung durch einen sehr brauchbaren Assistenten: Beat Imboden, bisher weitgehend unbeachteter Archivkeller-Nachbar Tolmeyns aus dem Institut, ein aus undeutlichen Beweggründen in Rom gelandeter Schweizer, der sich in Apulien jedoch zusehends prächtig entwickelt. Die südliche Sonne und der Geist des Stupor Mundi vertragen sich hervorragend mit dem Fortschrittsgedanken, in dessen Diensten Tolmeyn und Imboden zu stehen glauben. Sie entstauben Legenden, legen Grundrisse frei, erweitern ihr Sehvermögen mittels Photographie und Mikroskopie. Die Zeiten sind schließlich von Aufbruchswillen geprägt, das junge Jahrhundert nimmt gerade erst Fahrt auf und zeigt sich verheißungsvoll. Neue Horizonte, neue Wissenschaften! Gar eine neue Gesellschaft?

Die Geschichte, mit der Tolmeyn dem Institutsleiter also seine budgetsprengende Zeppelin-Bestellung serviert, ist keine geringere als die vom Fortschritt der Menschheit. Hoch hinaus in den freien Luftraum will er, der Mensch, und das auf komfortable Weise, uneingegrenzt und unbeschwert will er sein. Aber bekommt Tolmeyn auch seinen Zeppelin? Was Tolmeyn und Imboden auf ihrer ausgedehnten Reise fernab des Preußentums gern vergessen, ist dass sie schließlich in dessen Interesse stattfindet. Und ein Preuße hat bodenständig zu sein. Außerdem herrscht plötzlich Luftschiff-Mangel, man requiriert Mittel und Material, denn es beginnt ein Wort seine Kreise zu ziehen, das einen ganz anderen Fortschritt verkörpert als jenen, in den Tolmeyn so gern hinein leben würde: Mobilmachung.

Christoph Poschenrieder hat für seinen aktuellen Roman einen effektvollen Einstieg gefunden: Eingangs beobachtet man einen rätselhaften Mann, der Sand aus Süditalien auf den Straßen Berlins ausstreut – bis ihm bald der halbe Stadtteil hinterherläuft, und die kaiserliche Polizei ihn schließlich dem Verhör zuführt. Die skurrile Handlung des Mannes und das karikierte preußische Beamtenwesen bieten sich dankbar an als perfekte Aufhänger für eine Buchbesprechung. Oft erlebt man leider, dass sich der Ideenvorrat eines Romans in einem solchen Aufhänger bereits erschöpft, in der Folge erlahmt die Geschichte. Ein Buch, das von einer einzigen Idee getragen werden muss, hätte vielleicht besser als Kurzgeschichte auf die Welt kommen sollen. In Das Sandkorn wird dieser Aufhänger jedoch so genutzt, dass er seinem Wortsinn gerecht wird: Er trägt eine große Geschichte. Ausgehend von der Initialszene spannt Poschenrieder Erzählfäden in diverse Vergangenheiten, dennoch wirkt der Erzählfluss nie allzu verzweigt oder gar gebrochen. So begegnet man beispielsweise dem Sandstreuer auf offener Straße und später im Verhörraum in der Gegenwartsform, während man parallel dazu die Perspektive des ihn vernehmenden Kriminalers Treptow durch Auszüge aus dessen Memoiren geliefert bekommt. Treptow übrigens bleibt der Geschichte weit über das Verhör hinaus erhalten, von seinem Gegenüber hat er noch viel zu berichten – der Mann mochte ihm wenig zu gestehen haben, dafür umso mehr zu erzählen. Und wo wir gerade beim Kriminaler sind: Was hat es eigentlich mit Fritzi und Niki auf sich, und welcher Zusammenhang besteht vielleicht zwischen Jacob Tolmeyn und dem toten Mann aus der Spree?

Die handwerkliche Kunst des Autors offenbart sich bei Christoph Poschenrieders Romanen immer gerade darin, dass man sie als Leser kaum bewusst wahrnimmt. Selten sind perfekter Stil so unterhaltsam und Unterhaltsamkeit so anspruchsvoll. Wer sich zum Schluss dieses Romans klar macht, dass er gerade eine Geschichte gelesen hat, in der sich eine Kriminalermittlung, der Ausbruch des Ersten Weltkrieges, zwei Kaiser, verschiedene Schauplätze, der § 175 und – wir wollen die funkelnde Laetizia nicht vergessen – die Frauenrechtsbewegung verbinden, ist erstaunt, dass dieser enorme Aufeinanderprall nicht den geringsten Krach verursacht hat.

Warum Sand? Tolmeyn nimmt Proben von Sand, untersucht seine Zusammensetzungen, leuchtet ihn mikroskopisch aus, paniert sich beim Sonnenbaden, trägt ihn bei sich, entzaubert ihn mit wissenschaftlichen Mitteln, lässt die Magie einer Hexe auf ihn wirken, und mehr. Wer, wie Christoph Poschenrieder es in diesem Roman getan hat, den Sand als Leitmetapher für eine Geschichte über Identitätskämpfe wählt, eröffnet sich damit ein breites Spektrum an Sinnbildern. Um eine besondere Variante des Sandes kommt man dabei wohl nicht herum: Treibsand. In zwei Szenen hat der Treibsand hier seinen Auftritt – die zweite spiegelt dabei die erste. In beiden zeigt sich je eine ganze Welt, zusammengefaltet auf wenige Zeilen Umfang, und die Frage „Welche der beiden Welten hättest Du Dir gewünscht?“ zu beantworten, tut ein bisschen weh. Nein, sehr.


Christoph Poschenrieder, Das Sandkorn (Diogenes)  

DAS LEBEN VON GESTERN > Die verspätete Frau Baier


Mein musikalischer Geschmack springt für gewöhnlich in zerschrammten Lederstiefeln umher, setzt sich allerdings ebenso gern am Jazzklavier nieder. Gäbe es in meiner Musikwelt diese Pole nicht – Krawallmacherei und Konzentriertheit -, wäre sie leblos und hätte nichts mit meinem Inneren zu tun. Glücklicherweise fehlt ihr die räumliche Dimension, sodass es möglich ist auf einem einzigen Speichergerät beliebige Stile unterzubringen, zwischen denen eine solche Distanz besteht, dass man andernfalls ohne Flugobjekt vielleicht nie von einem zum anderen käme.

Zwei schlichte, aber goldene Gesetze erklären alles, was auf meinem MP3-Player vor sich geht: 1. Gegensätze ziehen sich an. 2. Vielfalt ist besser als Einfalt. Sie lassen sich ebenso gut zu Rate ziehen, wenn es darum geht, ein anderes Speichermedium auszulesen – meinen Lebenslauf.  (Musik und Leben sind eben oft wesensgleich.)

Auch in Sibylle Baiers Lebensgeschichte kommt Einiges zu einander, was tektonisch betrachtet so gar nicht zusammengehört. Deutschland und die USA etwa. Weiterhin: zarte Singer-Songwriter-Stücke aus den 1970er Jahren und eine der Grunge-Zeit entsprungene Kultfigur des Independent Rock.

Es sind die späten 60er Jahre: Eine Freundin zerrt Sibylle Baier in die Welt hinaus, zwei Mädchen machen sich auf die Reise über die Alpen. Danach beginnt Sibylle damit, Songs aufzunehmen – der erste, Remember the Day, erzählt von ihrer Reise. Von 1970 – 1973 entstehen 14 Songs, die Sibylle selbst aufnimmt. Eine Stimme, eine Akustikgitarre, ein Tonbandgerät. So schlicht ihre Aufnahmemethoden sind, so klar und natürlich sind der Klang und die Atmosphäre der Stücke. Man glaubt ihnen die Ungehetztheit ihres Entstehens anzuhören, es ist eine Sammlung privater Lieder, aus dem Bedürfnis heraus geschrieben und gesungen, das eigene Leben zu begleiten, und nicht die Vorgaben von Produzenten oder Plattenfirmen zu erfüllen. Trotz kurzer Ausflüge in die Schauspielerei – in Wim Wenders´  Alice in den Städten spielt sie 1973 eine kleine Nebenrolle – orientiert Sibylle Baier sich jedoch nicht weiter beruflich im Kulturbetrieb. Auch bleiben ihre Lieder unveröffentlicht. Ihre Lebensplanung richtet sich nun nach etwas anderem aus: Wie in so vielen Biografien, verebben künstlerische Anfänge, man heiratet, man gründet eine Familie. Sibylle Baier lebt inzwischen in den USA, das Wichtigste sind ihr aber nicht etwa neue Karrierepläne, sondern ihre Kinder.

Wie verändert sich der Blick auf die eigene Mutter, wenn man Tonbänder entdeckt, die aus einem fremden Leben zu stammen scheinen und doch die vertrauteste aller Stimmen wiedergeben? Sibylle Baiers Sohn Robert, selbst Musiker, hat in den Neunziger Jahren die jahrzehntealten Tonbandaufnahmen seiner Mutter wiederbelebt, zunächst in Form einer Kleinpressung, die im weiteren Familienkreis verbreitet wurde. Mit zunehmender musikalischer Professionalisierung erreichte Robert allerdings nach und nach Kreise, die ihm wertvolle Branchenkontakte lieferten, bis es sich schließlich ergab, dass er die Aufnahmen J Mascis vorlegte. Nicht nur als Kopf von Dinosaur JR, sondern auch als Produzent von Sonic Youth hat Mascis sich seinen Status als eine der bleibenden Größen der 1990er erarbeitet. Das Ergebnis dieses Zusammentreffens war die Veröffentlichung eines Albums mit den 14 Songs von Sibylle Baier auf dem Label Orangetwin. Unter dem Titel Colour Green ist die melancholisch gefärbte Songsammlung seit 2006 lieferbar.

DAS LEBEN VON GESTERN > Ulrike Draesner, Sieben Sprünge vom Rand der Welt

Gestern ist mehr als nur ein Zeitbegriff, es beschreibt auch einen Zustand: Vergangensein. Dass aber das Vergangene uns im Jetzt fest umschließt und uns bestimmt, während wir es nicht mehr bestimmen können, macht diesen Zustand allzu oft schwer erträglich. Zumal die Gestern-Kraft, wie in Ulrike Draesners aktuellem Roman wuchtig zum Ausdruck kommt, über unser eigenes Leben hinaus auch in jene hineingreift, die mit diesem verbunden sind.

In Sieben Sprünge vom Rand der Welt besteht das Gestern, dessen Bannkraft vier Generationen einer Familie entscheidend in deren Lebensgängen beeinflusst, aus dem alten Weltkriegs-Dreiklang Verlust, Tod, Trauma. Beginnend mit schlesischen Kindheitserinnerungen des Verhaltensforschers Eustachius Grolmann, verwebt die Autorin, deren eigene Familie teils schlesische Wurzeln und Fluchterfahrungen besitzt, Erzählstränge aus sieben unterschiedlichen Perspektiven ineinander – von der in der vorkriegszeitlichen Welt verhafteten Generation der Urgroßeltern bis zur zukunftsgerichteten Urenkelin.

Wer die 555 Seiten starke Lektüre beginnt, gerät weniger in den klassischen Lesesog als eher in einen Recherche-Modus: Man folgt Hinweisen, sucht nach Erklärungen, versucht hinter dem Erzählten zu lesen. So entwickelt man eine Lese-Haltung, die durch Wachsamkeit und Suchbereitschaft gekennzeichnet ist und dadurch das Verständnis für die Charaktere unterstützt, die ihrerseits in ihrer Familiengeschichte, in ihrer eigenen Psyche auf Verstehensgrenzen stoßen. Wie zum Beispiel der zunächst skurril wirkende Kontrast zwischen Fluchtschilderungen und Szenen aus dem Alltag einer Affenforscherfamilie den Leser vor die Frage nach den inneren Zusammenhängen dieser Geschichte stellt, stehen auch die Figuren Draesners vor der Frage nach den tieferen Beweggründen ihrer jeweiligen Entwicklungen.

Damit sind auch schon die zwei Hauptlinien beschrieben, die sich im Verlauf des Buches aus den vermischten Erzählabschnitten herausarbeiten: Die Geschichte von Vertreibung und Flucht auf der Vergangenheitsebene, auf der Gegenwartsebene ein schräger Familienroman im Forschermilieu. Im Zentrum all dessen steht mit Eustachius Grolmann eine Figur, die ihrer romantragenden Rolle gewachsen ist. Der große Grolmann, körperlich ein Riese, als Wissenschaftler eine Institution, als Mensch ein Rätsel (ein Charmeur bis ins hohe Alter, und doch ein Kauz – beim Lesen erscheint er einem als Mischgestalt aus Thor Heyerdahl und Karl Valentin vor Augen). Die Gegenwartsebene zeigt ihn als Familienoberhaupt einer mit den üblichen Konflikten geschlagenen Sippe, das aber keine Leitrolle einnimmt, sondern als unberechenbarer und zielverblendeter alter Sturkopf im Zentrum der Sorge seiner Tochter und Enkeltochter steht, die Grolmann in seiner hoffnungslos eigensinnigen Art jedoch ungewürdigt lässt. Enkelin Esther besitzt zwar das Privileg, einen so offenen Umgang mit dem Großvater pflegen zu können wie sonst niemand, was an Grolmanns ehrlicher Vernarrtheit in sie liegt – doch nicht einmal ihr zuliebe richtet Grolmann sein Handeln vorausschauend auf familienverträgliche Wirkung aus. Auf der Vergangenheitsebene erklärt sich anhand Eustachius´ Überlebensgeschichte, wie der Krieg nur demjenigen, der lernt sich nicht zu kümmern, das Weiterkommen gewährt. Immer wieder treten Momente auf, an denen die verschiedenen Ebenen miteinander verklebt zu sein scheinen: So verläuft die Flucht des kleinen Eustachius durch lebensfeindlichen Schnee, und seine Tochter Simone wird, wiederum in der Gegenwart, geplagt von einer ungewöhnlichen Schnee-Phobie. Auch das Rätsel um das Verschwinden seines behinderten Bruders während der Flucht, das Eustachius bis ins Alter nicht loslässt, sorgt für Verbindungsstellen zwischen den Erzählebenen, die den linearen Verlauf der Zeit zumindest empfundenermaßen aufheben.

Dass übrigens manch Rätselhaftes, dessen Klärung der Leser zum Ende des Buches hin nach langer Puzzlearbeit erwartet, nun doch ungelöst im Raum hängen bleibt, ist ein gnadenloser, aber genialer Dreh der Autorin. Sie reicht schlicht die Verwirrungen und Verzweiflungen der Charaktere an den Leser weiter, indem sie das Buch in mancher Hinsicht unbeendet lässt und seinen Fragen somit die Tür vor der Nase zuschlägt.

Mittels ihrer eindrucksvollen Sprachstärke und ihrer perfekten Beherrschung atmosphärischer Mittel gelingt es Susanne Draesner, ein mächtiges Zeitpanorama zu entfalten und den Leser zum Nachfühlen des Ungeheuren zu zwingen. Gebrochen durch Kapitel voll absurden Humors und warmherzigen Erzählens, erhält ihre Vermittlung der Kriegsschrecken eine besonders schmerzliche Wirkung. Und das Gestern und seinen Zugriff auf die Folgegenerationen betrachtet man nach dieser Lektüre plötzlich als einen ganz logisch auf unsere Gegenwart einwirkenden Faktor.

Besonders berührt hat mich dieses Buch, da ich in meiner eigenen Familie den Nachhall des Gestern – des Kriegstraumas, des Vertriebenenschicksals, der Erfahrungen von Verlust, Hunger, Leid – als Kraft kennengelernt habe, die sich über Generationen hinweg prägend auswirkt, und in diesem Buch nun eine besonders ausdrucksstarke Auseinandersetzung mit diesem Thema gefunden habe. Die mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnete Ulrike Draesner hat einen großen Anspruch mit diesem Roman verfolgt, und es ist ein großes Buch daraus geworden.


Ulrike Draesner, Sieben Sprünge vom Rand der Welt (Luchterhand Literaturverlag), Gebunden €21,99