HANNOVER > Graue Stadt ohne Meer

Passerelle Hannover Sonja GrebeHannover Sonja GrebeHannover Sonja Grebe

Der Jugend Zauber für und für / Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir, / Du graue Stadt ohne Meer. Das kommt mir – frei nach Theodor Storm – so in den ironischen Sinn, als ich nach reichlich langer Zeit mal wieder über den Raschplatz streune. Als „Hinterausgang“ des Hauptbahnhofs Hannover war der Raschplatz, der heute allerdings mit sehr viel weniger Naserümpfen begehbar ist als in Vor-Jahrtausendwende-Zeiten, seit jeher Sammelpunkt für Obdachnot, Drogenelend, für jedwede Verwahrlostheit städtischer Couleur. Desgleichen galt für die ehemalige, in den Raschplatz mündende Passerelle, eine unterhalb des Bahnhofs entlang führende, schäbig-dunkle Einkaufsstraße, deren unterirdische Lage ihren unterweltlichen Charakter zusätzlich dick unterstrich.

Der damalige Mischgeruch aus Räucherstäbchen und Urin steht mir, indem ich mich kurz zurückdenke, sofort in der Nase. Raschplatz und Passerelle lieferten jedoch alles, was man dringend brauchte und in der Provinz schmerzlich entbehrte: asiatischen Klimbim aus dem China-Shop, billigen Modeschmuck mit vermutlich gefährlich hohem Nickelgehalt, Haarfärbepasten in Neonregenbogentönen, antiquarische Bücher, gebrauchte Platten und CDs, Elternschreck-Stiefel aus dem UK-Punk-&-Ska-Shop, unglaubliche Vielfalt an Zeitungen und Magazinen, abenteuerliche Second-Hand-Klamotten (die meist nach einer vierten oder fünften Wäsche überhaupt erst tragbar wurden), Buttons und Badges mit Anarcho-Sprüchen oder Band-Emblemen, Jamaika-Ramsch, Militär-Ramsch, Schuhe und Taschen aus dunklen, röhrenförmigen Läden, in denen es giftig roch und sich die Ware bis an die Decke stapelte. Und: Dies war der erste, der einzige Raum totaler Egalheit, den ich kannte. Man konnte schlichtweg alle Dinge tun, sagen, tragen, kaufen, fragen, sein und schreien, die man wollte, ohne dass jemals einer guckte. Man hätte allerdings ebenso gut tot mitten im Weg liegen können, ohne dass jemals einer geguckt hätte, und die Bekanntschaft mit diesem Phänomen hatte ihre gleichermaßen heilsame wie erschütternde Wirkung auf mich.

Im Vorfeld der Weltausstellung 2000 wurde mit den wenig tourismusverträglichen Zuständen etwas aufgeräumt, mit städteplanerischem Schischi, sozialpolitischem Wischiwaschi und viel polizeilichem Krawumm, was bedeutet: Drogen-, Obdachlosen- und Stricherszene wurden in die angrenzenden Viertel verdrängt, ein paar Putzkolonnen extra geschickt und ein oder zwei zusätzliche Glühbirnen eingeschraubt, wodurch das Ganze einen rosigeren und gesünderen Teint bekommen sollte. 2001 wurde die Passerelle schließlich streckenweise umgebaut, verhübscht, verhochglanzt, und 2002, eingedenk der Popularität einer frisch verstorbenen Ehrenbürgerin der Stadt, deren Nanas das Leineufer säumen, umbenannt in Niki-de-Saint-Phalle-Promenade. Ich vermutete damals, man versuche da mittels eines neuen Namens, den jeder Hannoveraner augenblicklich mit Kunst und Knallfarben in Verbindung bringt, den unsagbar tristen Passarellen-/Raschplatz-Bereich allein mit dem psychologischen Farbpinsel etwas ansprechender zu gestalten. Heller und ungefährlicher geworden ist es sicherlich, irgendwie reizvoll oder gar hübsch natürlich nicht. Das kurze Passerelle-Teilstück, welches Raschplatz und Alten Zentralen Omnibusbahnhof miteinander verband – und dieses Stück zum ZOB machte mir damals wirklich, was ich partout nicht anders formulieren kann, eine Scheißangst -, ließ man dagegen noch einige Jahre länger in seinem eigenen Höllenbrodem vor sich hin schmoren.

Abgehend vom inzwischen erneuerten Raschplatz, existiert noch ein winziger Original-Passerellen-Wurmfortsatz, der einen Verbindungsweg zu den Aufgängen zum gerade erst rundum sanierten Kulturzentrum Pavillon darstellt. Ich falle vor Überraschung beinahe hintüber, als mir bei einem unwillkürlichen prüfenden Blick zur taubenwimmelnden Tunneldecke ein altes Passerelle-Logo ins Auge fällt, das seit nun dreizehn Jahren seiner Entfernung harrt. Durch diesen amputierten, in Schmierigkeit konservierten Tunnelabschnitt betritt man ein halbschalig geformtes Betongelände, von wo aus man gleich drei echte Wahrzeichen der Stadt im Blick hat. Zum einen die Raschplatz-Hochstraße, die als monumentaler Betonbalken quer und schwer den Luftraum durchzieht. Ein Grau-Ungetüm von niederschmetternder Plakativität, welche durch ein paar spielerische Elemente wohl hatte gemildert werden sollen. Vergeblich: Die an der Unterseite der Fahrbahn anhängigen Über-Kopf-Autos – Betongüsse in originaler Autogröße – verstärken durch ihre grobschlächtige Form noch die spürbare Lieblosigkeit. Sie wirken wie das Spielzeug eines rabaukigen Kind-Riesen, der des Weiteren gern die Raschplatz-Punks und -Trinker wie reichlich abgewetzte Playmobil-Figürchen in einer ungenutzten Zimmerecke auf einen Haufen schmeißt, nachdem er ihre Frisuren, Kleidung und Ausrüstung zu unbrauchbarer Chaos-Masse verarbeitet hat, und dessen forschender Spieltrieb auch die Tauben ins Visier nimmt, welchen er ganze Beinchen oder halbe Flügel auszupft um danach zu beobachten, wie sie sich für eine Weile panisch in ihrem Schmerz abstrampeln, bevor sie schließlich, taubenzäh, weitermachen wie zuvor. Der zweite Klassiker unter den hannöverschen Beton-Scheußlichkeiten, der das Panorama des Raschplatzes bestimmt, ist das Bredero-Hochhaus, eine Perle des Brutalismus. Mitte der Siebziger als Prestigeprojekt in Sachen Zeitgeist dahingeklotzt, begrüßt es heute als Zeitgespenst mit über fünfzig Prozent Leerstand jeden Fahrgast, dessen Zug sich Hannover Hbf nähert. In seiner innigen Verschwisterung mit dem VW-Tower, diesem festen Mitglied des städtischen Skyline-Ensembles, einem ausgedienten Sendeturm, der in seiner heutigen Funktion Hannover als die Hauptstadt von VW-Country ausweist, wird deutlich, dass das Grau hier unangefochten den Horizont beherrscht. Mächtiger Stahlbeton: Ausdruck grauen Willens, in den Himmel empor gekrochen, die Erde erstickend.

Was mein Gefühl von Hannover als Ganzem ausmacht, bündelt sich an dieser Stelle der Stadt aufs Wesentliche. Hier bleibe ich ein bisschen, setze mich. Was soll ich sagen – dieses Mistding von einem Platz war meine erste große Stadtort-Liebe.


Fotos: Alter Passerelle-Zugang am hinteren Raschplatz, Ecke Pavillon / Hochhaus Lister Tor, meist Bredero-Hochhaus genannt, daneben der VW-Tower, der auch unter dem Kosenamen Telemoritz bekannt ist / Raschplatz-Hochstraße mit Auto-Skulpturen (Grebe 2015)


WERK+ZEUG > Hammer, Amboss, Meteorit

Mein jüngerer Bruder und ich ähneln einander sehr. Zum Ausdruck kommt diese Wesensgemeinschaft allerdings auf unterschiedlichen Ebenen. Er ist der Vollblut-Historiker, ich kümmere mich mehr ums Zeitgenössische. Während er das Epische liebt, mag ich eher das Episodische. Er trägt seine Haare sehr lang, ich sehr kurz. Sein Musikgeschmack ist ein zwischen Klassik und Metal gespannter Bogen, meiner hangelt sich an einer von Jazz zu Punk gezogenen Linie entlang. Dementsprechend unterscheiden sich auch die Kampf- und Kunstmittel unserer Wahl: Meine sind Altpapier, Pappe, mitunter getrocknete Blümchen und dergleichen Leichtgewichtiges. Seine fallen da etwas archaischer aus: Holz, Leder, Knochen und, an erster Stelle, Metall.

Aus einer familienbedingten Marotte heraus wird bei uns beiden prinzipiell möglichst alles selbst gemacht, gesammelt, gehortet, zweckentfremdet und zusammengewerkelt. Die selbst gefertigte Esse, an der mein Bruder sich seit einiger Zeit als Selfmade-Schmied betätigt, entstand folgerichtig nach dem Prinzip Resteverwertung-nahe-der-Dada-Grenze: Das Gestell lieferte ein alter Aquarium-Rahmen, das Gebläse wurde einem Kobold-Staubsauger entnommen, diverse andere Fundstücke aus Gerümpelsammlung und Internet verbauten mein Bruder und ein paar ingenieur- und elektrotechnisch ausgebildete Freunde zu einer sehr praktischen, funktionstüchtigen und – jawohl! – formschönen Aquarium-Kobold-Esse.

Nicht nur wie, sondern auch was geschmiedet wird, klingt oftmals ebenso unkonventionell bis skurril, liefert ungeachtet dessen jedoch die erstaunlichsten Ergebnisse: Kann man alte Fahrradketten zu fein-gemusterten Damaszenerklingen verarbeiten? Man kann. Wird im großflächigen Garten wieder einmal ein wenig Raum freigerodet, fällt oft wertvolles Holz für Messergriffe an. Ich selbst habe einen Ring, den mein Bruder aus nahezu schwarz eingefärbter, jahrhundertealter Mooreiche (nicht aus eigenem Garten) gedrechselt hat; andere Ringe schmiedet er aus unterschiedlichsten Metall-Legierungen. Alles in autodidaktischem Antrieb, mittlerweile auf hohem Niveau – Youtube-Channel-Learning, globaler Vernetzung mit ähnlich Verrückten und viel Mut zu Try-and-Error-Experimenten sei Dank. (Error resultierten bislang übrigens nicht in allzu schwerwiegenden Verletzungen oder anderen Kollateralschäden, sofern man die ständigen Handschwielen, Brandblasen und gelegentliche Bartbrände nicht mitzählt. Obwohl: Eine Weile hatte mein Bruder den Spitznamen Elf-Zehen-Lars inne, nachdem er sich bei einem Probeschlag mit frisch geschmiedeter Axt einen kleinen Zeh halbierte oder sozusagen verdoppelte. Der Zeh ist wieder zum Einzelzeh verheilt – der geliebte Stiefel indes heilt nicht mehr.)

Derzeit werkelt er an etwas, wofür er eigens einen sehr speziellen Einkauf getätigt hat: den Mittelfußknochen eines dem Pleistozän entstammenden Megaloceros giganteus, vulgo: Riesenhirsch. Sein bisher wohl aufwändigstes Projekt war eine 365lagige Meteorit-Damaszener-Klinge, für die er einen wer-weiß-wie-teuer ersteigerten Meteoriten gemeinsam mit Stahlsorten unterschiedlichen Vanadium-, Mangan- und Chromanteils verschmiedet hat – siehe oberstes Beitragsbild. Weitere Bilder habe ich von seiner Facebook-Page geklaut, natürlich mit Genehmigung:

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Fotos: Kunstschmiede Brandtbart


SPONTANE PAUSE > Käffchen?

Wach, Sonja Grebe

Unter-dem-Bett-Monster sind eine besondere Spezies Ungeziefer. In der Kindheit ehrfürchtig, überhaupt fürchtig, als Herrscher der Nacht betrachtet, schrumpfen sie sich, schritthaltend mit dem Entwachsen aus der Kindheit, immer kleiner, bis man als großer Mensch unterm Lattenrost schließlich nichts anderes mehr entdecken kann als zwar dunkelschattige, allerdings gebiss- und klauenlose Staubflusen. Verschwunden sind sie deswegen aber noch lange nicht.

Immer noch kommen sie nachts rauf. Haben mit den Jahren längst ihre Namen bekommen und ihre Faschingskostüme an den Nagel gehängt. Sie spielen ab und an zwar noch die Karte ihrer unbestreitbaren Lästigkeit aus und wollen aus Langeweile ein bisschen Radau machen, wissen sich aber inzwischen durchaus geduldet. Sie gehören eben dazu, nicht anders als Familie, Kollegen, Nachbarn. In letzter Zeit hat es mit ihrer Aufsässigkeit bloß ein bisschen überhand genommen. Dass sie ihre Aktivität inzwischen bis in den Tag hinein ausdehnen, gefällt mir gar nicht.

Ich frage sie, was sie da heute Mittag bitteschön für Unfug getrieben hätten, und da gucken sie gespielt unschuldig. Jetzt sei mal nicht so, wir tun nur unseren Job, nörgeln sie. Als ob!, sage ich, Ihr spukt inzwischen von morgens bis abends und macht nachts keine Pausen – was sagt eure Gewerkschaft denn dazu? Betretenes Schweigen. Na ja, raunt da einer, ist halt Hochsaison jetzt, da guckt doch keiner so genau hin. Im Hintergrund nimmt das gewohnte Gekicher, Gejaule und Zähneknischen schon wieder an Fahrt auf.

Ich seufze, rappele mich hoch und koche eine Kanne Kaffee für mich und die ganze Bagage. Milch und Zucker will keiner, wie immer. Einer kräht wieder nach einem Gläschen Rotwein, aber das habe ich bereits kategorisch verboten – da lasse ich mich nicht drauf ein, mit denen darf man nicht trinken. Beim anschließenden Geplauder muss man ebenso Obacht walten lassen: am besten immer gezielte Fragen stellen, Monologe sofort unterbinden und sich bloß nicht von geschickter Rhetorik aufs Glatteis führen lassen.

Eine charmante Art haben sie, Vorwürfe in den Raum zu stellen: Wie schön, dass wir heut alle mal beisammen sind, nicht?, schnurrt eine, Wir dachten nämlich schon, dass du dich gar nicht mehr um uns kümmern magst! Dauernd tippst du diesen Kram in dein Laptop, stundenlang geht das so, immer nachts – und da wunderst du dich, dass wir deinetwegen zusätzlich Tagschichten einlegen? Da gucke nun ich etwas betreten.

Die Lümmel in den hinteren Reihen machen unterdessen tosenden Krawall und blöde Witze. Da muss ich gleich mal dazwischen gehen, bevor sie noch zu Höchstform auflaufen. Einer der Streber hat anscheinend eine schauerliche Präsentation vorbereitet und wedelt, ebenfalls Aufmerksamkeit einfordernd, mit den betreffenden Unterlagen in der Luft herum. Ich stelle mich auf eine lange Nacht ein und klappere vernehmlich mit der Kanne: Noch´n Käffchen, jemand?


Bild: Wach! (Grebe 2014)


WORTSINNE > Der Panik-Flüsterer


Ein Mann streicht mit einem breiten Pinsel über eine raue Oberfläche – 30 Minuten lang. Eine Frau faltet Handtücher sorgsam zu ordentlichen Stapeln – 40 Minuten lang. Zwei gepflegte Hände matschen behutsam mit Rasierschaum – 30 Minuten lang. Eine Ledertasche wird gestreichelt – 15 Minuten lang. Ausgiebig schrubbt eine geduldige Bürste verschiedene Gegenstände in Spülwasser – 60 Minuten lang. Manikürte Hände öffnen und schließen Deckel von Plastikflaschen – 20 Minuten lang. Ein Mund in Nahaufnahme flüstert kaum hörbar willkürlich gewählte Lateinvokabeln – 50 Minuten lang. Minimalaufwändige Filmchen, in denen eine extreme Reduzierung auf unscheinbare Realitätsfragmente eine surreale Parallelwelt entstehen zu lassen scheint – manche sind bis zu zehn Stunden lang. Ist das Kunst? Nein.

Mitunter stehen mehrere 10 000 Aufrufe im Zähler dieser und unzähliger ähnlicher Youtube-Videos. Hier und da sehe ich Aufrufzahlen von über einer halben Millionen, über anderthalb Millionen, über zweieinhalb Millionen. Unendliche Monotonie, Repetition und Abwesenheit von Sinn – und Millionen von Zuschauern. Ist das nicht vielleicht doch Dada? Nochmal nein.

Ein paar Jahre schon geistert das Phänomen ASMR knisternd, raschelnd, schmatzend, plätschernd und flüsternd im Netz umher. Seitdem dieser kryptische Name geprägt wurde, Autonomous Sensory Meridian Response, der den Zugriff darauf und den Austausch darüber erleichtert, geht die Anzahl entsprechender Clips förmlich durch die Decke, parallel entstehen ASMR-Blogs und -Foren, das Digitalgeschwätz über dieses Thema wuchert mit rasender Geschwindigkeit in die Breite. Dabei geht es bei ASMR um zunächst ganz und gar nicht Sensationelles. Es geht um die Konzentration auf das Extrembanale, auf leisen Alltagssound. Die Sensation spiele sich dann im Sensorischen ab, so die Anhänger: leises Prickeln der Kopfhaut, bei manchen gar ein wohliger Rausch, der vom Kopf aus über das Rückgrat den gesamten Körper durchwandere. Die Wissenschaft zieht nun träge mit ersten Untersuchungen zu diesem Phänomen nach, während der Hype um selbiges längst das Netz sprengt. Nicht jeder sei zugänglich für jene optischen oder akustischen Trigger, so dass sich nicht bei jedem die rauschhafte Wirkung entfalten könne, der heilsame Kräfte zugeschrieben werden: Migräne – geheilt, Schlafstörungen – erledigt, Angstzustände – vollkommen verschwunden, so die Erfahrungsberichte. Ist das nun Esoterik? Nein, das irgendwie auch nicht.

ASMR wird als eine Technik zur Tiefenentspannung verstanden. Ich kann das ein Stück weit nachvollziehen, doch sobald es um diese Rausch-Erfahrungen geht, schlägt mein inneres Mumpitzometer spürbar aus. Zeit für einen Selbsttest? Eene meene muh…

Da mich bereits auf den ersten Blick die reinen Geräusch- und Handbewegungen-Videos unsagbar irritieren, schränke ich die Suche auf ASMR Words ein. Wörter find ich gut, denke ich blauäugig. 50 000 Ergebnisse. ASMR Ear-to-ear Whispering Random Words. ASMR Breathy Words! Sk Sounds And Relaxing Words. ASMR Looping Trigger English Words + Mouth Sounds. ASMR Tingles Feast! Literature, Sksksk, Tingling Words, Crinkles&Chewing And More! Untertitelt sind diese Videos mit Amazing 3D-Sound oder Ultimate Experience! und Ähnlichem. Als sei das Ganze nicht schon skurril genug, tauchen unter ASMR Words zusätzlich oft Schlagworte wie Motherly Roleplay, Highly Tingly Eargasm Sounds und dergleichen auf. Almost Inaudible Sounds – Close Up Whispering! Der ganze Bildschirm wirkt sternchengesprenkelt, auch Massen von Herzchen verzieren die Titelzeilen. Mehrheitlich sind es junge Frauen, deren volle rosige Lippen, makellose Zähne und dunkelroséfarbene Zungen in Großaufnahme den Bildschirm ausfüllen, während sie leise Vokabeln artikulieren, deren inhaltliche Bedeutung vollkommen in Unwichtigkeit verschwindet: die Aufmerksamkeit gilt vielmehr den Mouth Sounds, dem organischen Klang des Sprechens an sich. Ich starre in die fleischfarbene, feuchte Mundhöhle irgendeiner hübschen Blondine, die mit Vorliebe stimmlose Labial-, Dental- und Alveolarlaute produziert, wobei ihr kaum hörbarer Atem das Mikrofon durchzittert. Mich beschleicht ein schmieriges Gefühl: Ist das hier schon Porno? Zumindest ASMRler antworten darauf entschieden mit Nein.

Es gehe um Intimität, aber keinegswegs um Sexualität, heißt es empört. Dass ASMR eine erotische Ebene besitze, gar eine Art von Fetischisierung darstelle, wird kategorisch zurückgewiesen. Um auf Nummer sicher zu gehen, wechsele ich dennoch lieber zu ASMR Words – Male. Mit Kopfhörern, wie empfohlen, höre ich mir das aber bestimmt nicht an, also nee. (Wie eigentlich sollte das mit dem Rausch überhaupt was werden können bei im Voraus ablehnender Haltung?) Von totaler Entspannung und glückseligem, einschlafunterstützendem Gefühl reden die Kommentare unter den Videos, von der Besänftigung akuter Panikattacken sogar. Einen jener Panik-Flüsterer lasse ich also nun in mein Ohr. Skeptisch schmunzelnd. Und? Fühlt sich das gut an?

Im Gegenteil:

Nach einer gefühlten, unerträglichen Ewigkeit, die sich beim Blick auf die Zeitleiste als knapp zweiminütig entpuppt, kribbelt es böse unter meiner Kopfhaut, Unbehaglichkeit durchströmt mich vom Rückgrat aus und lässt meine Finger unruhig tattern. Panik.
Panik!
Herrgott, wie werde ich diese Panik nun los? Das Laptop schlage ich zu wie den Deckel einer Schlangenkiste. Dass bloß diese Zischelstimme verstummt! Schrecklich: diese laborhafte Situation, dieses Falsifikat zwischenmenschlichen Nahkontakts, diese Empathie-Leerpackung! Ich fühle keinen sense of pleasant intimacy, ich fühle mich mit einem Schlag tot-einsam. Und ich fühle keinen wohltuenden Soft-Rausch, sondern mein gehetztes Gehirn durchschmoren, was an dieser Parade zusammenhangloser Einzelworte liegt, welche mein nach Querverbindungen süchtiger Verstand mit aller Macht zueinander in Beziehung setzen will, einfach setzen muss, aber (in dieser Geschwindigkeit) nicht setzen kann.

Fenster aufreißen, Kopf in Nachtluft tauchen, Augen zu. Leises Windsäuseln und Baumkronengerausche hilft mir sofort. Wie blödsinnig freue ich mich auf die Geräuschkulissen des kommenden Tages, auf Kuhweide und Kiebitzwiese, auf Pappelreihe am Flussufer, Starenkolonie, Treckerverkehr und Mähmaschineneinsatz, Schritte auf knirschendem Grobkies, Regenschauer, bollernde und dampfschnaufende Kaffeemaschine, Eintopfgebrodel, Bachlauf, Taubenflügelschlagtöne, und – mein persönliches Tingle-Highlight – auf Gabelweihengeschrei. Vielleicht, übrigens, telefoniere ich auch viel zu selten mit Freunden und Verwandten?

MERZ UND ANDERE SCHNIPSEL > Tief im Bau

So gern spricht man in Hannover von Kurt Schwitters, dem Kind der Stadt, als Begründer der Dada-Bewegung, was leider falsch ist – Dada kam nun einmal aus Zürich. Aber der Hannoveraner an sich möchte in seiner Eitelkeit allzu gern hochglanzpolierte Trophäen zur Schau stellen können, die den Eindruck der Provinzialität von seiner Stadt waschen, und so unterschlägt er gern den örtlich einschränkenden Zusatz, der Schwitters´ Titel davor rettet, als Fehldeklaration daher zu kommen: Begründer der Dada-Bewegung in Hannover. Da geht schon etwas hin von dem Glanz, aber sei´s drum. Es steht natürlich auch nicht im Fokus der hannöverschen Perspektive, dass man Schwitters in Berlin, im Zirkel der Extrem-Dadaisten, dem Club Dada, nach anfänglich regem Austausch doch nicht haben wollte, weil er weder künstlerisch noch politisch radikal genug war. Richard Huelsenbeck bezeichnete den hauptberuflichen Gebrauchsgrafiker gar als Kaspar David Friedrich der Dadaistischen Revolution… naja, Schwamm drüber. Aber ist der Hannoveraner nicht vielleicht im Allgemeinen etwas zu blutleer für so was, für Große Kunst?

Wenn, sagen wir, Berlin rot ist und Hamburg blau, dann ist Hannover beige: Viel geschmäht als geschmacks-, reiz- und charakterlos, bieder, zum Verzweifeln humor- und fantasiefrei. Eine Stadt wie schal gewordenes Schützenfest-Bier. Die Großstadtmasse hat man hier, aber nicht die Großstadtkultur, und man hat den Großstadtdreck, aber nicht den Glamour. Dass die graue Messestadt schlicht die langweiligste Großstadt Deutschlands sei – irgendwie ist da schon was dran, und finge ich hier an, das Insider-Gegenbild zu diesem schlechten Image zu zeichnen, es nähme mir ja doch keiner ab (dabei hat das stellenweise fade Hannover tatsächlich eine stattliche Reihe GROSSARTIGER… gut, lassen wir das).

Kurt Schwitters aber – den kann mir niemand hineinplanieren in die vielbesagte Plattheit meiner Landeshauptstadt. Und, weil es die jetzige Heimstatt der Merz-Kunst schlechthin ist, auch dieses nicht: Das Sprengel Museum, mein Sprengel Museum, mit seiner konzentrierten Wucht deutscher und französischer Moderne. Seit jeher erscheint mir das flache, sich an einen Damm drückende Gebäude wie der Bau eines sehr eigenartigen Tieres, in den man sich bei Betreten hinab begibt. Meine liebsten Bestandteile dieser Innen-Welt sind die Rekonstruktionen des von El Lissitzky gestalteten Kabinett des Abstrakten, das 1937 von den Nazis zerstört worden war, und des 1943 zerbombten Merzbau von Kurt Schwitters. Wie sich jener Merzbau nachzimmern ließ, ist mir aus handwerklicher Sicht ein Rätsel: Ein Wohnraum, der das Raum-Denken zerschlägt, ein dreidimensionales, begehbares kubistisches Kunstwerk. Endloses Linienstreben zieht die Augen und mit ihnen den Verstand in unzählige Richtungen, man wird vollkommen verrückt bei dem Versuch die Gesamtheit der Flächen und Winkel zu erfassen. (Mein Versuch, den Raum exakt zu zeichnen, scheiterte – verändert man nur kurz den Blickwinkel, lässt er sich irgendwie nicht wieder auf die zuvor fixierte Perspektive justieren.) Und doch wollte ich schon als Schülerin bei meinem ersten Besuch in diesem Museum den Bau am liebsten nie mehr verlassen, ich hätte dort einziehen wollen. (Wie schade, dass sich nur der Hauptraum hatte rekonstruieren lassen – von den restlichen Räumlichkeiten existieren keine Fotos.)

Überhaupt fühlte ich mich im Sprengel sofort wohl, ich spazierte durch Dadaismus, Kubismus, Surrealismus und dachte Hier bin ich zuhause. Weil ich diese Art von Kunst nicht, wie ich das bislang gewohnt gewesen war, als Fremdwesen betrachtete, das ich mir zu erklären versuchte, sondern mich dieser Kunst tatsächlich emotional zugehörig fühlte. Das war nur logisch – mein Großvater, den wohl seine Soldatenjahre mehr geschädigt hatten, als in der Familie je ausgesprochen wurde, hatte sich auf unserem Grundstück eine ganz ähnliche Welt aufgebaut, in der ich von Kind an spielte: Den ganzen Tag über zog er sich in sich selbst und in seine selbst gezimmerten halbhohen Buden zurück, die auf ihre Art ganz und gar Dada waren. Baulicher Wildwuchs aus Wellblech, Holz, Schildern, Plastik- und Blechteilen, Fensterglas. (Unser riesiger alter Birnbaum war darin eingebettet, um seinen Stamm zu sehen, musste man ins Innere, an ihm hingen an großen Zimmermannsnägeln eine Lampe und Unmengen alten Werkzeugs.) Vor allem dieser bestimmte Geruch der Dada-Abteilung war der Gleiche wie in Opas Schuppen, er kam von dem gleichen Bestandteilen – von Holz, Metallen, Schmieröl, Klebstoffen, Erde, Pappe, Zeitschriften, Maschinenteilen, Tapeten, Geschirr, Rost, Verbundmitteln, alten Stoffen und Möbeln. Der gleiche zweckentfremdende Materialeinsatz, die gleichen Strukturen, die gleiche Farbpalette: in den Skulpturen und Collagen im Museum fand ich viel Vertrautes. Besonders Kurt Schwitters´ Merzbilder, diese Schichtwerke aus Kalenderblättern, Tapetenresten, Verpackungsmüll, Spielkarten, Holzstückchen, Kronkorken – eine Aufzählung wäre wohl nie vollständig -, bewirken bis heute auf umwegige Art und Weise bei mir eine Beruhigung meines Heimwehs nach Gestern; nach diesem Teil meines Zuhauses, den es längst nicht mehr gibt, und in dem alles, was so rumfliegt hinein gewerkelt worden war. Was bei meinem Großvater ausdrückte, wie sehr er sich kopfmäßig der Gegenwart und der Alltagswelt entzogen hatte, funktionierte bei Schwitters und seinen Zeitgenossen als Absage an bürgerliche Konventionen und den gültigen Kunst-Begriff. Der Ansatz sich dabei kopfüber ins Chaotische zu begeben war durchaus beiden gemeinsam.

Seit dem Umzug zurück ins heimatliche Dorf sind für mich die Déjà-vu-Wochen eröffnet – auf das nächste Abtauchen in den nun nicht mehr so fern gelegenen Merzbau freue ich mich schon.


Bild: Merzbau-Skizze (Grebe 1998 – ach, damals noch gar nicht Grebe, sondern Strohmeier)


PUBERTÄT REVISITED > Hannover und die große Hannah

O Hannover, glanzvolle Metro-Perle des Fischer-und-Bauern-Bundeslandes, die Tiefe deiner Kultur ist unerschöpflich – sagen deine Kinder. Andere sagen, man müsse in der Kulturkiste schon sehr tief graben um irgendwo darin deine Kinder zu finden. Wen also hätten wir denn da?

DIE SCORPIONS – die Stadt-Maskottchen, jaja, aber bitte, könntet ihr kurz aus dem Vordergrund treten? So. Sonst noch wen? Fury in the Slaughterhouse. Lena Meyer-Landrut. Uli Stein – nicht der Fußballer, der Lappan-Cartoon-Typ, der mit teuren Autos durch die Wedemark rauscht (das ist da, wo all die Hannoveraner wohnen, die es zu teuren Autos gebracht haben). Otto Sander und Doris Dörrie – beide immerhin hier geboren, aber nicht sonderlich lange am Ort geblieben. Alexa Hennig von Lange – auch nicht mehr hier. DIE SCORPIONS – na, ihr schon wieder? Vielleicht graben wir doch lieber noch etwas tiefer, diesmal zeitlich: Die Gebrüder Schlegel – immerhin Mitbegründer der Deutschen Romantik. Und Frank Wedekind. Kurt Schwitters – der schönste Beleg dafür, dass selbst in Hannover ein bisschen Anarchie und Verspieltheit gedeihen können. Fritz Haarmann – nur wegen des Haarmann-Lieds, für das er selbst eigentlich gar nichts kann, aber passt schon: Hannover besingt bis heute fröhlich seinen bestialischen Serienmörder. Albrecht Schaeffer – nicht hier geboren, aber aufgewachsen; weitestgehend unbekannt, selbst in Hannover, dabei schenkte er dieser Stadt einst das einzige Hannover-Epos, das es gibt und je geben wird, das hochliterarische Helianth (nur noch antiquarisch lieferbar). Tja. Ach nee, eine hab ich noch – sogar eine ganz Große:

Hannah Arendt wurde 1906 in Linden geboren, emigrierte 1933 in die USA, war nach ihrer Ausbürgerung durch die Nazis von 1937 an staatenlos, bis sie 1951 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt, übte fortan in den USA journalistische und akademische Tätigkeiten aus und starb 1975 in New York.

Linden, das zu Arendts Kleinkindzeit noch nicht eingemeindet war, ist heute einer der charmantesten Stadtteile Hannovers. Neuerdings entwickelt sich Linden zusehends zum Alternativ-Schickeria-Bezirk und wird in absehbarer Zeit seinen Charakter verlieren – ursprünglich war es proletarisch: ein Standort der Großindustrie und, damit einhergehend, der Arbeiterbewegung. Mag sein, dass Hannah doch etwas von diesem Umfeld als Prägung mitnahm, als Familie Ahrendt später nach Königsberg ging, so dass Hannah Arendt sich vielleicht nicht umsonst als politische Theoretikerin profilierte, deren großes Thema die Verflechtung Mensch-Arbeit-Politik war. In meiner Schulzeit stand sie nie auf dem Lehrplan – eigentlich unverständlich, als Kind der Landeshauptstadt -, in der Schulbücherei immerhin war sie jedoch sehr präsent. An ihrem Hauptwerk Vita Activa oder Vom tätigen Leben versuchte ich mich mit Hingabe, verstand wohl nur die Hälfte, nahm aber etwas Wichtigeres als ein gültiges Werkverständnis daraus mit: Ich liebte die Genauigkeit ihres Denkens, die Geradlinigkeit ihres Schreibens, die Entschiedenheit ihrer Haltung. Was ich von ihr las, kann ich längst nicht mehr detailliert erinnern, das Wie hingegen blieb prägend an mir haften. Ich war nie so eine, die Meinungen vertrat, vielmehr war ich eher unsicher, ob ich so etwas wie Meinungen überhaupt hatte, mein Denken war nicht besonders strukturiert, geschweige denn diszipliniert, und ich schaute viel in die Luft anstatt um mich herum, weil meine Haltung eher eine ausweichende war, das Um-mich-herum betraf mich gefühlt nicht persönlich – als ich Hannah Arendt las, begann mir all dies leid zu tun.

Sprechend und handelnd unterscheiden Menschen sich aktiv voneinander, anstatt lediglich verschieden zu sein; sie sind die Modi, in denen sich das Menschsein selbst offenbart. (Vita Activa)

Da gab mir Hannah Arendt zu denken. Und eine Methode, wie man denkend an Dingen arbeiten kann, auch an sich selbst, gab sie mir indirekt gleich mit an die Hand. Ich schrieb plötzlich anders, ich sah anders, ich überdachte anders.

Eine der nervtötendsten Angewohnheiten von Jugendlichen besteht darin, die Bedeutung, die man sich für sein eigenes Leben so ersehnt, von den bereits Bedeutenden zusammenzuklauen, sich deren Posen imitierend anzueignen, sich deren Zitate in den eigenen Mund zu legen. Man verwechselt dabei das Kopieren von Anderen, welches man betreibt, mit der Emanzipierung von Anderen, welches man eigentlich betreiben möchte. Hannah Arendt hätte es nicht im Mindesten interessiert, wie ich sie für ihr Charaktergesicht, ihr selbstbewusstes Denken und ihr lässiges Rauchen bewunderte. Was sie vielleicht interessiert hätte, wäre, in welchem Ausmaß Mündigkeit erlernbar ist. Und inzwischen, nachdem ich im Lauf der Zeit von Hannah Arendt und unzähligen Anderen wichtige Schubser in richtige Richtungen bekommen hatte, in deren Verarbeitung ich dann einige Mühen investiert habe, empfinde ich mich tatsächlich als halbwegs mündig in eigener Sache. Es jedoch zu kämpferischem Einfluss oder gar bedeutender Funktion zu bringen – das stand immer jenseits meines Denkens, dazu habe ich nicht das Zeug, d.h. den entschiedenen Willen. Ich rede dabei gar nicht von großen politischen Rollen oder Vergleichbarem, sondern schlicht von einer Lebenspraxis, die durch ihren aktiven Charaker, ihre teilhabende, Verantwortung übernehmende und Haltung präsentierende Eigenschaft die Gemeinschaft beeinflusst. Nach Selbstbestimmung sollte Mitbestimmung folgen.

Aber vielleicht ist die Pubertät auch einfach nie so ganz vorbei.

PUBERTÄT REVISITED > Bin das ich oder kann das weg?

Tagebuch (2)

Die meisten meiner Tagebücher haben mich nicht überlebt. Ab und an packt mich der Rappel, alles muss raus, alles muss neu, ich muss neu – so werden Tage oder auch Wochen, mitunter Jahre von Geschriebenem und Gekritzeltem achselzuckend auf Nimmerwiedersehen ins Altpapier verabschiedet.

Manches gut Geschriebene muss weg, weil es die Wahrheit nicht gut trifft. Manch halbwahrer Text muss bleiben, weil gerade dessen Halbwahrheit ganz Wahres über mich verrät. Einiges Mittelmäßiges oder Lausiges schleppe ich lebenslang auf allen Wegen mit, weil es langlebig wahr ist.

Nicht zuletzt entscheidet auch das Dahinter des Textes über meinen Umgang mit dem bekritzelten Papier. Ein Blick auf das selbst Geschriebene ruft dessen längst vergangenes Entstehungsumfeld augenblicklich wach; ein Tagebuch ist ein Lagerraum für Instant-Vergangenheiten.

Humpty Dumpty fällt gleich wieder von der Mauer! Tu doch einer was! / Dummes Ei – kann nicht stabil sitzen, ist zu rund, versteht nicht, dass es sich Füße wachsen lassen muss, Beine! / Dummes Ei – sucht sich sein Zuhause oben auf der Mauer aus. / Dummes Ei – will wohl stürzen, muss wohl. (Dienstag, 08.April 1997)

Ich fühle mich sofort auf der Bank sitzen, früh am Morgen, ich schwänze gerade die erste Stunde, Chemie, bin einfach nicht durch den Schuleingang, sondern dran vorbei gegangen und weiter bis zum kleinen Park, hocke nun wie ein zerrupfter Papagei mit meinen bunten Haaren und Klamotten auf der Rückenlehne und meine ewig dreckigen Stiefel machen die Sitzfläche schmutzig. Schmiere diese Zeilen in mein Buch. Es kommt ein alter Mann mit seinem Rollator auf mich zu, schiebt sich gebeugt und unendlich langsam, aber beharrlich voran, hat mich schon von Weitem in seinen Blick genommen und nähert und nähert sich, und ich erwarte, dass da ein Schimpfen auf mich zukommt. Madame! Füße gehören nicht auf die Bank, junge Leute gehören um diese Zeit in die Schule – diese Szene ahne ich in allen möglichen Variationen voraus, aber nicht, wie sie sich dann tatsächlich abspielt: An meiner Bank angekommen, posiert sich der Herr mit funkelnden Äuglein und einem weit ausgestreckten Lächeln beinahe direkt vor meiner Nase, zielt mit dem Zeigefinger auf mein Tagebuch und ruft triumphierend: „Junge Dame! Wer schreibt, der bleibt!“ (Humpty Dumpty, das Weichei-Ich, begrub ich augenblicklich, den Rollator-Herren begruben wohl inzwischen Andere, aber diesen Moment der fröhlichen Verschwörung zwischen uns zwei ungleichen Unbekannten, den halte ich gern lebendig).

Man schreibt aber nicht nur für späteres Erinnern, sondern zuerst für gegenwärtiges Begreifen. Mein Schreiben war immer Inventur in eigener Sache, Außenstehende unerwünscht, nur Stift und Papier waren zugelassen.

Allein deshalb, weil sie analoge Geheimniskrämer waren, funktionierten meine Bücher und Hefte so gut als Gegenüber für allerlei Beichten, als Zeugen all meiner Dummheiten, sowie der Klugheiten oder noch größeren Dummheiten, die daraus wurden. Meine Nichten und Neffen dagegen, die inzwischen allmählich erwachsen werden und ihre eigene Selbst-Inventur betreiben, tun das öffentlich via Social Media. Das Bedürfnis, Erlebtes, Gedachtes und Gefühltes festzuhalten und in eigenen Bildern und Worten wiederzugeben, leben sie in digitalen Gemeinschaftsräumen aus. Dass sie sich nicht so in sich verkapseln wie ich das vielleicht tat, das mag sie selbstsicherer erscheinen lassen. Sie verlieren dort aber die Orientierung an ihrem eigenen Kern, betrachten sich selbst nur in diesem vergleichenden, oft kompetitiven Umfeld, und lassen über sich ergehen, dass Andere die Auswertung ihres Outputs übernehmen anstatt sich in ihrem Selbsturteil zu üben. Wenn einem der selbstbetrachtende Blick bei der eigenen Entwicklung irgendwie helfen soll, muss er dorthin gehen, wo es weh tut – sofern man über sich selbst aber nur für Andere schreibt, umgeht man tunlichst die wunden Punkte, um sie zu schützen. Man erzieht sich nachhaltig zum Fassadenpfleger. Experimente zur Ich-Erforschung können zu einfach nach hinten los gehen, denn sie unterstehen der oberflächlichen Beobachtung durch die Vielen – und nicht nur das: Kein Fotobeitrag, kein Post, kein Tweet, den man macht, wird je wieder ungeschehen (selbst was man löscht, kann sich zuvor auf so vielen Wegen verbreitet haben, dass man an dessen restlose Auslöschung nicht mehr glauben kann). Man präsentiert ein bestimmtes Bild von sich nicht nur vor einer unkontrollierbaren Anzahl von Menschen, sondern auch ohne die garantierte Möglichkeit, dieses Bild einmal zurücknehmen zu können. Ausgerechnet seine Jugend – in der man sich in alle Richtungen, also auch die zwecklosen, die peinlichen, die unschönen, ausloten muss – allein einem Medium anzuvertrauen, dass nichts unkommentiert lässt und auch nichts vergisst, ist heikel.

Ein Tagebuch dagegen ist ein geschützter, druckfreier Raum, in dem man mit sich allein sein kann. Und über den man zu jeder Zeit alleinig herrscht.

Tagebuch (1)

 

PROVINZLEBEN > Dorf!

Da denkt man einmal nicht drüber nach und bemerkt im Nachhinein, dass man doch glatt einem Trend gefolgt ist:

Der moderne Mensch will partout ins Grüne. Seit Jahren grassieren in Feuilleton und Sachbuch Berichte über die Neuentdeckung des Landlebens. Es hat sich eine eigene Sparte von Zeitschriften etabliert, deren Sujet eine idealisierte, bisweilen reichlich verkitschte Form des Landlebens ist. Lebensmittel werden epidemisch mit dem Präfix Land- etikettiert. Auch musikalische Zeugnisse von Großstadtmüdigkeit und Sehnsucht nach ländlicher Einfachheit häufen sich.

Vor unserem Wechsel von Kiel nach Hannover kam, nach dem wie üblich nervtötenden Verlauf, den eine Wohnungssuche eben so nimmt, irgendwann der Tag, da uns der Rappel packte. Schluss, aus – keine Lust mehr auf überteuertes Wohnen in beengten Stadtverhältnissen mit tendenziell kinderfeindlicher Nachbarschaft. Und siehe da, nach einigen urbanen Jahren wohnen wir nun also in einem umgebauten Bauernhof.

Fachwerk, roter Backstein, Kopfsteinpflaster. Rechts ein Pferdestall, links die Wohnungen, mittig eine große Scheune und im Innenhof ein mächtiger Kastanienbaum. Der riesige Garten ist eher ein Stück abgeteilter Brachwiese, hinterm Zaun beginnen gleich die Pferdekoppeln – wir sind hier schließlich in Niedersachsen. Störche nisten auf alten Schornsteinen, hinter den Giebeln hausen Mäuse, Marder, Fledermäuse, Schleiereulen. Flüsse und Bäche durchwinden eine pfannkuchenplatte Landschaft aus Weideflächen und Feldern von Weichweizen, Futtermais, Zuckerrüben, Raps, woraus als einzige Landmarke die Kali-Abbau-Halde hervorsticht, ein gewaltiger Steinsalz-Berg, der bei Schlechtwetter die Farbe von Weiß-Grau zu Schwarz wechselt; ein Dorf voller Bergleute und Bauern. Beim Autofahren muss man freilaufende Hühner beachten und höllisch auf die Massen überall herumschleichender Hof-Katzen aufpassen. Die Zahl frei umherstreunender Dorfhunde ist in den letzten zehn Jahren wegen der zunehmenden Autozahl im Dorf auf Null gesunken, doch ansonsten hat die Zeit an diesem Ort in vielen Bereichen kaum ihre Wirkung getan. Die Klänge, die die Ruhe begleiten, sind das Muhen, Schnurpsen und Schnaufen der Kühe, die ewig krächzenden Krähen-Horden, regelmäßig ein dröhnender Trecker, Vogelgezwitscher, Hähne rufen Kikeriki; später im Jahr Grashüpfergezirp, Froschquaken, Mähdrescherbrummen.

Man könnte uns nun für ökoromantische Hipster halten oder für einen Teil jenes grünen Wohlstandsbürgertums, das zwecks naturnahen Lebens massenweise in malerische Dörfchen abwandert. Und: Wäre nicht tatsächlich etwas dran an der Idylle, wären wir ja nicht hier. Nur käme ich nie auf die Idee, als Neuling plötzlich zum Landleben zu wechseln, und auch als Landkind würde ich nicht in ein Dorf ziehen, aus dem ich nicht ursprünglich selbst komme. Ich meine das ernst: niemals.

Hier jedoch bin ich geboren und aufgewachsen, meine Familie ist mehr als alteingesessen: Hier kann (und will) mir keiner was. Es spielt dabei keine Rolle, dass ich, wie der Rest meiner Familie seit jeher, nie mit Freiwilliger Feuerwehr, Schützenverein oder Kirchengemeinde zu tun hatte. Auch die Jahre, in denen ich weg war, entscheiden nicht über die Dorf-Identität. Das regelt ein etwas eigenwilliges, archaisches Geburtsrecht, das sich übrigens auch auf meinen Mann erstreckt, der zwar selbst wohl recht dauerhaft Der-Mann-von-der-Tochter-von bleiben wird, aber trotz fehlender Einbindung ins Vereinswesen nicht als Fremdling zählt. Wir können einen noch so eigenen Kopf haben und als Sonderlinge auffallen – da die Familie über mehr als drei Generationen mit dem Ort verbunden ist, besteht ein unverrückbares Dazugehören auch abseits des Überall-Dazugehörens. Automatisch und ungefragt als Teil des Ganzen vereinnahmt zu werden: Einerseits ist es das, was einen besonders im jugendlichen Alter am Dorfleben in den Wahnsinn treiben kann, andererseits sorgt dieser Mechanismus für ein Klima, in dem auch seltsame Figuren irgendwie besser gedeihen und eine selbstverständlichere Duldung erfahren als andernorts, wo sie zur Rechtfertigung ihrer Eigenarten schon mehr als nur den Familienstammbaum abliefern müssten. (Dass trotzdem getratscht wird – immer, über jeden, von allen -, muss einem klar sein.)

Ich selbst bin bis heute Dörchens Lütsche (die Kleine bleibe ich wohl noch bis Ende 40). Über seine Urgroßmutter definiert zu werden ist hier völlig normal. Außerdem kannte jeder Dörchen, und eine sehr bezeichnende Episode für die Gepflogenheiten in diesem Dorf ist jene, wie meine Mutter und ich einmal auf dem Friedhof (op´n Kaarkhof) am Grab meiner vor Jahren verstorbenen Urgroßmutter standen und uns plötzlich zum ersten Mal aufging, dass dort eigentlich gar nicht Dörchen eingraviert stehen dürfte – schließlich war ihr Name Dora. Weder der Dorf-Arzt, der den Totenschein mit dem Kosenamen ausfüllte, noch der Steinmetz, der Bestatter oder die Pastorin (geschweige denn die restliche Dorfgemeinschaft) wäre je auf die Idee gekommen, dass daran irgendwas nicht stimmen könnte. Befreundet war meine Urgroßmutter übrigens auch mit der Familie, der dieser Hof gehört, auf dem wir nun wohnen. In meinem jetzigen Wohnzimmer ging sie also schon vor 90 Jahren ein und aus. So ist das hier eben.

Die Gentrifizierung werden wir hier wohl nicht einläuten. Doch wer weiß – der Speckgürtel der nahen Großstadt weitet sich zunehmend ins grüne Umland aus, bis statt Gülle und Idylle sterile Neubauviertel und hochglanzrenovierte Althöfe das Bild bestimmen werden. Auch in diesem Dorf gibt es sie schließlich schon, die großstädtisch aufgewachsenen Akademiker, die sich hier niederlassen um vergessene Nutztierrassen nachzuzüchten, und die ersten Bauherren von außerhalb, die die Grundstücke von Bauern aufkaufen, die aus Alters- und finanziellen Gründen ihre Höfe nicht mehr bewirtschaften. Und wir? Ziehen die Gummistiefel schließlich auch nur zum Spazierengehen an.


Bilder: aus meinem Dorf und meinem Urgroß-/Groß-/Elternhaus (Grebe 2015)


GROSSE FRAUHEIT > Indie-Dreigestirne

Gehe ich einen etwa zwanzig Jahre großen Schritt zurück, sehe ich mich wieder als adoleszentes Etwas, dessen mentaler Wuchs irgendwie nicht der populären Idealform zustrebte. In den mittleren 90er Jahren, der neongiftigen Morgenröte der kommenden, etwa zehn Jahre andauernden Billigpop-Ära, verkörperten folgende Vertreterinnen das Prinzip Traumfrau: die Girlies. Blümchen performte Herz an Herz, Lucilectric krähte Weil ich´n Mädchen bin, Gwen Stefani verdrehte die männlichen Köpfe meiner geschlossenen Jahrgangsstufe mit ihrem teils gehauchten, teils geröhrten I´m Just a Girl. Die eigentlich charaktervoll-schöne Heike Makatsch hoppelte, gackerte und trällerte sich durch diverse knallbunte Jugendformate von VIVA interaktiv bis Bravo TV und avancierte, in meinem Umfeld zumindest, zum Maß aller Mädchen-Dinge. Gleichzeitig waren die Spice Girls entsetzlich omnipräsent und produzierten eine Bugwelle nicht minder erfolgreicher Nachfolge-Girl-Groups, deren Namensgebungen unbegreiflicherweise niemanden so recht alarmierten: Atomic Kitten etwa, oder Sugarbabes.

Teil dieser Kommerzveranstaltung namens Girl-Power-Bewegung zu werden war denkbar einfach: Brachte man politisches und kulturelles Desinteresse bereits mit, konnte man den Rest des dafür Nötigen größtenteils bei C&A kaufen: Bandana-Kopftücher, Sonnenbrillen mit runden Buntgläsern, bauchfreie Tops, rosa Accessoires, zu klein geratene Röckchen (aus der Kinderabteilung). Dazu brauchte man dann unbedingt selbstklebende Glitzerbindis, Fingernagel-Klebetattoos, Fake-Nasenringe, Bauchnabel-Piercings, die obligatorischen DocMartens-Stiefel in diversen Farben, puppiges Make-Up, Zöpfchen. Fertig – nur im Wechsel kichern und schmollen musste man schon noch selbst.

Ebenso simpel wie die Girlie-Philosophie an sich gestaltete sich mein Verhältnis zu meinen Mit-Mädchen: Ich konnte die Girlies nicht ausstehen und die Girlies mich nicht. Man warf sich gegenseitig Erbärmlichkeit vor; ich ihnen wegen ihrer Mischung aus Barbie-Gehabe, infantilem Trotz und Karnevalsstimmung, und sie mir wegen meiner Tool-Shirts. Und meiner manierierten Ernsthaftigkeit. Etwas an diesem Ernst ging bei mir jedoch auf durchaus reelle Vereinsamungsgefühle zurück: Alle meine gegenwärtigen Helden waren männlich, die meisten meiner Freunde ebenfalls. Wo waren denn diese Frauen, zu denen ich so gern hätte aufschauen wollen, in Erwartung irgendeiner Motivation von oben? Ich empfand meine Jugend als scheußliche Transit-Zeit, die ich so schnell es nur ginge hinter mir lassen wollte, gleichzeitig war mir klar, dass ich nicht zur Unternehmensberaterin heranwachsen würde – ich benötigte für meine Werdens-Ziele also etwas alternativen Input.

Patti Smith und Debbie Harry? Waren hübsch anzuschauen in ihrem strammen Selbstbewusstsein, das mit ebensoviel Hirn wie Herz unterfüttert war. Leider beide bereits damals zu Tode ikonografiert. Poly Styrene? Siouxsie Sioux? Ja, die lebten auch noch, befanden sich aber seit langen Jahren im Off-Modus. Aktivistinnen mit bewegenden Ideen? Die Zeit der großen Systemumbrüche war ein gerade abgefahrener Zug, dem ich mit meinen Kinderschritten nicht hatte nacheilen können – und dann, als ich genug gewachsen war um die klobigen Lederstiefel (mit gehäkelten Buntbändern) zu schnüren, war die Loveparade, die von Marusha durch Berlin geführt wurde, der einzige veritable Massenzug der Gegenwart. Aktuelle Autorinnen übrigens standen für mich unsichtbar im Toten Winkel. Von diesem Sektor war ich so vollkommen abgeschnitten, dass ich erst Jahre später im großen Panoramarückblick das Ausmaß meiner Entfernung davon begriff.

Im Allgemeinen schienen mir die Musikerinnen am zugänglichsten. Und eines Abends stolperte ich über ein Ding mit zerzaustem Dunkelhaar, das wohl im Schlepptau von Nick Cave bei mir eingezogen sein musste. Es hieß Polly Jean Harvey, war ein wenig herb und sperrig, ganz seelenvoll stimmungsschwankend und machte allgemein einen sehr einladenden Eindruck auf mich. Eine Andere, eine zarte Hysterikerin mit rotem Haarmeer, schlich sich via Plattenschrank meiner älteren Schwester in meinen Einzugsbereich. Da blieb Tori Amos dann auch. Aus diesen zwei Sondererscheinungen machte erst das Auftreten einer hibbeligen Naturgewalt für mich ein bedeutsames Trio: Mit Björk entdeckte ich ein Phänomen für mich, dessen pauschale Anziehungskraft auf mich ich wohl nie so recht verstehen werde.

Nachdem diese Drei mir endlose Weiten eines hübschen Neulands zugänglich gemacht hatten, fand ich mich dort bald ganz gut zurecht und traf auf Catpower, Kim Deal und Andere. Darunter auch diese Anwärterin auf einen Quartett-Platz zur Erweiterung des eng miteinander verbundenen Dreigestirns: Schon zu damaligen Zeiten war Fiona Apple für mich eine vielversprechende Orientierungsfigur, die allerdings noch reichlich biografischen Platz für Weiterentwicklung besaß – mit 20 muss man noch keine Wirkungsfrau sein. Wurde sie aber schnell. Heute bildet die gelegentlich nervtötende, aber auch zur Selbstironie fähige Exzentrikerin gemeinsam mit zwei weiteren speziellen Exemplaren ein neues Musikerinnen-Dreigestirn für mich: der ätherisch anmutenden Annie Clark, alias St.Vincent, und der total verhuschten, während ihrer Auftritte jedoch umso energischeren Anna Calvi. Diese Drei – zwischen 1977 und 1982 geboren und damit auch genau mein Alter teilend (die Jüngsten hier sind Annie Clark und ich) – wirken aus meiner heutigen Perspektive ebenso stabilisierend auf mich und mein Gemüt wie damals Harvey, Amos & Gudmundsdottir. Für mich sind Apple, Clark & Calvi Wohlfühlfiguren; sie laufen ein wenig neben der Leitspur, welche heute zwar nicht mehr die Girlies vorgeben, dafür aber diese viel zu smarten, vollkontrollierten, pseudo-erwachsen denkenden Y-Mädchen.



LATEINAMERIKA > Octavio Paz als Aufbruchsbegleiter

Neon-Schwalbe, Sonja Grebe

In der Frühe sucht das Kommende seinen Namen

In der Frühe sucht das Kommende seinen Namen
Über den schläfrigen Stämmen funkelt das Licht
Berge galoppieren an die Ufer des Meeres
Die Sonne dringt sporenblitzend in die Fluten
Der Stein stürmt an und zerschmettert Strahlen
Es trotz das Meer und schwillt am Fuß des Horizonts
Verworrene Erde Einbruch von Skulptur
Die Welt erhebt ihre noch nackte Stirn
Ein Stein geschliffen und glatt um ein Lied drin einzugraben
Das Licht entfaltet seinen Fächer von Namen
Und ein Hymnus beginnt wie ein Baum
Und Wind ist da und schöne Namen im Wind

(Octavio Paz)

Alles erkämpft sich Neuheit, Freiheit, Unberührtheit. Wie un-episch der eigene kleine Aufbruch im Weltgefüge auch erscheinen mag – Veränderung ist ein Gefühlsding, und Dinge des Gefühls sind unabhängig von Dimensionen. Praktisch gesprochen: Octavio Paz hilft mir mal wieder beim Kofferpacken. (Es geht zurück in die Heimat – da waren wir schon mal, zusammen, Octavio.)


Ein Schritt ins Gestern: Gefragt nach meiner ersten prägenden Leseerfahrung, antworte ich ohne zu zögern J.D. Salinger, The Catcher in the Rye. Ich hatte, da mir der Englischunterricht Spaß machte, mit 13 beschlossen, ein Buch im englischen Original zu lesen – nur für mich, unabhängig vom Schulunterricht. Also stiefelte ich in die Bibliothek meiner neuen Schule, griff orientierungslos in ein mit ENG-LIT überschriebenes Regal hinein und nahm recht wahllos ein Buch mit abgegriffenem silber-grauem Umschlag heraus. Altersangaben interessierten mich nicht, und kinder- und jugendgerechte Umschlaggestaltung wirkte auf mich eher abschreckend. Man muss dazu wissen: Ich war nie ein Lesekind, sondern ein Dorf- und Wiesenstreuner. Und in meinem bäuerlich-proletarischen Zuhause mangelte es sehr an Büchern, jedoch keineswegs an Geschichten: In meiner Familie funktioniert die mündliche Tradierung von Familienepisoden und innerhalb der Familie erzählten Märchen (wobei die Trennlinie zwischen jenen Kategorien gelegentlich unkenntlich ist) bis heute erstaunlich ungebrochen. Meine Kindheit verbrachte ich unter einem Dach mit den Alten und Uralten der Familie und hörte die Familiengeschichten somit nicht nur aus unzähligen Perspektiven, sondern zudem auf Hochdeutsch, Plattdeutsch und mit ostpreußischem Einschlag. Für mich kamen Kindergeschichten nicht heran an die Intensität jener Familiengeschichten, auf die ich quasi per Geburt ein besonderes Besitzrecht innehatte: Sie entstammten meiner Familie und wurden mir und meinen Geschwistern zur Weitergabe erzählt. Es gab für lange Zeit eigentlich nur zwei Bücher, die in ähnlichem Maße die Empfindung in mir hervorriefen, ihre Geschichten beträfen mich direkt und sie würden nur für mich erzählt: Erstens Maurice Sendak, Wo die wilden Kerle wohnen, das ich inzwischen meinem Sohn vorlese, obwohl die Seiten kaum noch zusammenhalten, und zweitens Mark Twain, Die Abenteuer des Tom Sawyer und Huckleberry Finns Abenteuer in einem bereits damals von meiner Schwester reichlich zerlesenen Doppelband. The Catcher in the Rye war nun das erste Buch, in dem ich mich als angehende Jugendliche plötzlich emotional verfing, denn ich fand darin einen verstehenden Widerhall, ich sah mich selbst. Von da an las ich alles, was mir in die Finger geriet, ohne jegliche Überlegung daran zu verschwenden, ob das jeweilige Buch für mich geeignet sein könnte oder vielleicht doch ein wenig zu viel des Guten wäre. Was ich nicht verstand, versuchte ich mir selbst zu erarbeiten – klappte das nicht, legte ich es ohne Wehmut für später bei Seite. Diese Herangehensweise folgte keinem System, sondern willkürlich dem einfachen Prinzip Try&Error. An dem Steppenwolf und an dem allen solchen Wölfen eigenen Geheul  – Howl (ich hatte da deutsche und englische Ausgaben) blieb ich mit dem Herzen für ein heftiges Weilchen hängen, Cormac MacCarthys Border-Trilogie dagegen verwuchs nachhaltig mit meiner Seele, seit sie in durchlesenen Nächten die jugendliche Pathetik von mir schrubbte. Und dann: Julio Cortázar, Rayuela. Dieses Buch hatte ich nichtsahnend aus der Wühlkiste des Antiquariats meines Vertrauens gerupft, fand das Cover gut, las zwei Seiten und verstand kein Wort. Natürlich kramte ich also den für Notfälle reservierten 10-Mark-Schein aus der Hosentasche und fing noch auf dem Rückweg nach Hause (mit Schülerticket per U-Bahn, Regionalexpress und schließlich Bus eine Ewigkeit zwischen Großstadt und Dorf überbrückend) an mich einzulesen. Nach zwei Tagen gefährlicher Hirnüberlastung und ebenso unguter Vernachlässigung jeglicher Schulpflichten schien endlich ein neu entstandenes Rädchen in meinem Kopf in die bis dahin überforderte Verstehensmechanik einzurasten und auf einen Schlag begriff ich, was ich da las. Wochenlang war ich völlig cortázarisiert und investierte in der Folge sämtliche Einnahmen aus Zeitungsaustragen und Babysitten in einen stetig wachsenden Stapel Bücher mittel- und südamerikanischer Autoren: Neben dem großen JC fanden sich dort Jorge Luis Borges, Ernesto Cardenal, Octavio Paz, Pablo Neruda, Carlos Fuentes, Adolfo Bioy Casares. Wie frustrierend war es damals, in Prä-Internetverkauf-Zeiten, während seltener Ausflüge in die eigentlich nahe Großstadt nach einem Teegeschäft zu suchen, in dem ich Yerba-Mate-Tee und eine kleine Kalebasse mit Trinkröhrchen (Bombilla) bekommen könnte. Die Rinderherden vor der Haustür konnten, kniff man die Augen leicht zusammen, etwas argentinisches Gefühl aufkommen lassen, aber eine Einstimmung auf meine Sehnsuchtsziele, die fortan Buenos Aires, Valparaiso, Mexico City und Montevideo hießen, ließ sich zwischen Kittelschürzen und Zuckerrüben leider unmöglich herstellen.

Das erste Buch, das ich nach dem Abitur, kurz vor dem Auszug aus dem Elternhaus in die nächstgelegene Großstadt kaufte, war ein neues Tagebuch, das ich mit einem Zitat von Octavio Paz begann, dessen Tod zu jenem Zeitpunkt noch nicht allzu lang her war:

<Die Dichtung, Hängebrücke zwischen Geschichte und Wahrheit, ist nicht ein Weg zu dem oder jenem: sie ist Schauen der Ruhe in der Bewegung, des Übergangs in der Ruhe. Die Geschichte ist der Weg: er führt nirgendwohin, wir alle beschreiten ihn, die Wahrheit ist ihn zu beschreiten. Wir gehen nicht, wir kommen nicht: wir sind in den Händen der Zeit. Die Wahrheit: uns zu wissen, von Anfang an in der Schwebe, Brüderlichkeit über der Leere.>

Mir gab dieses Zitat ein ganz spezifisches, bis heute abrufbares Gefühl. Als erwachsen empfand ich mich nicht etwa ab dem Tag der Schulverabschiedung, das Abschlusszeugnis in Händen, oder ab dem Tag, da ich ein eigenes Paar Autoschlüssel bekam, auch nicht, als ich mein Bett in einem neuen Haus aufstellte und eine erste eigene Adresse besaß. Erwachsen fühlte ich mich, als mir aufging, dass die Begriffe Leben und Dichtung schlicht dasselbe meinen: mich selbst zu erzählen. Dafür war es nun irgendwie an der Zeit. Alle Geschichten, die ich aus meiner Familie gehört hatte, waren Lebensgeschichten gewesen – erst, als ich begriff, dass diese erzählerische Tradition nicht nur Wesenszüge und Lebensrealitäten meiner Vorfahren an mich weitergab, sondern auch die Forderung an mich stellte, eine eigene Geschichte dieser fortlaufenden Kette anzugliedern, verstand ich, dass Sich-erzählen bewusst ins Leben zu treten bedeutet. Und ich glaube seither, dass auch diejenigen Autoren, deren Geschichten mir wirklich etwas bedeuteten, nichts anderes getan haben als genau das: sich selbst zu erzählen – ganz gleich, wie viele verschiedene literarische Formen das auch bei ihnen angenommen hat. Im Übrigen finden sich in jenem Tagebuch, dessen Torwächter ein Octavio-Paz-Zitat war, wohl keine literarischen Kostbarkeiten. Insgesamt ist mein Leben keine Heldengeschichte und kein anspruchsvoller Roman. Übrigens war ich nie in Buenos Aires, Valparaiso, Mexico City, Montevideo. Darauf aber kommt es nicht an. Egal, welcher Art unsere Leben sind – erst indem wir sie erzählen, schließen wir uns ein in die <Brüderlichkeit über der Leere>.


Bild: Schwalbenflug (Grebe, 2012)