Der Jugend Zauber für und für / Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir, / Du graue Stadt ohne Meer. Das kommt mir – frei nach Theodor Storm – so in den ironischen Sinn, als ich nach reichlich langer Zeit mal wieder über den Raschplatz streune. Als „Hinterausgang“ des Hauptbahnhofs Hannover war der Raschplatz, der heute allerdings mit sehr viel weniger Naserümpfen begehbar ist als in Vor-Jahrtausendwende-Zeiten, seit jeher Sammelpunkt für Obdachnot, Drogenelend, für jedwede Verwahrlostheit städtischer Couleur. Desgleichen galt für die ehemalige, in den Raschplatz mündende Passerelle, eine unterhalb des Bahnhofs entlang führende, schäbig-dunkle Einkaufsstraße, deren unterirdische Lage ihren unterweltlichen Charakter zusätzlich dick unterstrich.
Der damalige Mischgeruch aus Räucherstäbchen und Urin steht mir, indem ich mich kurz zurückdenke, sofort in der Nase. Raschplatz und Passerelle lieferten jedoch alles, was man dringend brauchte und in der Provinz schmerzlich entbehrte: asiatischen Klimbim aus dem China-Shop, billigen Modeschmuck mit vermutlich gefährlich hohem Nickelgehalt, Haarfärbepasten in Neonregenbogentönen, antiquarische Bücher, gebrauchte Platten und CDs, Elternschreck-Stiefel aus dem UK-Punk-&-Ska-Shop, unglaubliche Vielfalt an Zeitungen und Magazinen, abenteuerliche Second-Hand-Klamotten (die meist nach einer vierten oder fünften Wäsche überhaupt erst tragbar wurden), Buttons und Badges mit Anarcho-Sprüchen oder Band-Emblemen, Jamaika-Ramsch, Militär-Ramsch, Schuhe und Taschen aus dunklen, röhrenförmigen Läden, in denen es giftig roch und sich die Ware bis an die Decke stapelte. Und: Dies war der erste, der einzige Raum totaler Egalheit, den ich kannte. Man konnte schlichtweg alle Dinge tun, sagen, tragen, kaufen, fragen, sein und schreien, die man wollte, ohne dass jemals einer guckte. Man hätte allerdings ebenso gut tot mitten im Weg liegen können, ohne dass jemals einer geguckt hätte, und die Bekanntschaft mit diesem Phänomen hatte ihre gleichermaßen heilsame wie erschütternde Wirkung auf mich.
Im Vorfeld der Weltausstellung 2000 wurde mit den wenig tourismusverträglichen Zuständen etwas aufgeräumt, mit städteplanerischem Schischi, sozialpolitischem Wischiwaschi und viel polizeilichem Krawumm, was bedeutet: Drogen-, Obdachlosen- und Stricherszene wurden in die angrenzenden Viertel verdrängt, ein paar Putzkolonnen extra geschickt und ein oder zwei zusätzliche Glühbirnen eingeschraubt, wodurch das Ganze einen rosigeren und gesünderen Teint bekommen sollte. 2001 wurde die Passerelle schließlich streckenweise umgebaut, verhübscht, verhochglanzt, und 2002, eingedenk der Popularität einer frisch verstorbenen Ehrenbürgerin der Stadt, deren Nanas das Leineufer säumen, umbenannt in Niki-de-Saint-Phalle-Promenade. Ich vermutete damals, man versuche da mittels eines neuen Namens, den jeder Hannoveraner augenblicklich mit Kunst und Knallfarben in Verbindung bringt, den unsagbar tristen Passarellen-/Raschplatz-Bereich allein mit dem psychologischen Farbpinsel etwas ansprechender zu gestalten. Heller und ungefährlicher geworden ist es sicherlich, irgendwie reizvoll oder gar hübsch natürlich nicht. Das kurze Passerelle-Teilstück, welches Raschplatz und Alten Zentralen Omnibusbahnhof miteinander verband – und dieses Stück zum ZOB machte mir damals wirklich, was ich partout nicht anders formulieren kann, eine Scheißangst -, ließ man dagegen noch einige Jahre länger in seinem eigenen Höllenbrodem vor sich hin schmoren.
Abgehend vom inzwischen erneuerten Raschplatz, existiert noch ein winziger Original-Passerellen-Wurmfortsatz, der einen Verbindungsweg zu den Aufgängen zum gerade erst rundum sanierten Kulturzentrum Pavillon darstellt. Ich falle vor Überraschung beinahe hintüber, als mir bei einem unwillkürlichen prüfenden Blick zur taubenwimmelnden Tunneldecke ein altes Passerelle-Logo ins Auge fällt, das seit nun dreizehn Jahren seiner Entfernung harrt. Durch diesen amputierten, in Schmierigkeit konservierten Tunnelabschnitt betritt man ein halbschalig geformtes Betongelände, von wo aus man gleich drei echte Wahrzeichen der Stadt im Blick hat. Zum einen die Raschplatz-Hochstraße, die als monumentaler Betonbalken quer und schwer den Luftraum durchzieht. Ein Grau-Ungetüm von niederschmetternder Plakativität, welche durch ein paar spielerische Elemente wohl hatte gemildert werden sollen. Vergeblich: Die an der Unterseite der Fahrbahn anhängigen Über-Kopf-Autos – Betongüsse in originaler Autogröße – verstärken durch ihre grobschlächtige Form noch die spürbare Lieblosigkeit. Sie wirken wie das Spielzeug eines rabaukigen Kind-Riesen, der des Weiteren gern die Raschplatz-Punks und -Trinker wie reichlich abgewetzte Playmobil-Figürchen in einer ungenutzten Zimmerecke auf einen Haufen schmeißt, nachdem er ihre Frisuren, Kleidung und Ausrüstung zu unbrauchbarer Chaos-Masse verarbeitet hat, und dessen forschender Spieltrieb auch die Tauben ins Visier nimmt, welchen er ganze Beinchen oder halbe Flügel auszupft um danach zu beobachten, wie sie sich für eine Weile panisch in ihrem Schmerz abstrampeln, bevor sie schließlich, taubenzäh, weitermachen wie zuvor. Der zweite Klassiker unter den hannöverschen Beton-Scheußlichkeiten, der das Panorama des Raschplatzes bestimmt, ist das Bredero-Hochhaus, eine Perle des Brutalismus. Mitte der Siebziger als Prestigeprojekt in Sachen Zeitgeist dahingeklotzt, begrüßt es heute als Zeitgespenst mit über fünfzig Prozent Leerstand jeden Fahrgast, dessen Zug sich Hannover Hbf nähert. In seiner innigen Verschwisterung mit dem VW-Tower, diesem festen Mitglied des städtischen Skyline-Ensembles, einem ausgedienten Sendeturm, der in seiner heutigen Funktion Hannover als die Hauptstadt von VW-Country ausweist, wird deutlich, dass das Grau hier unangefochten den Horizont beherrscht. Mächtiger Stahlbeton: Ausdruck grauen Willens, in den Himmel empor gekrochen, die Erde erstickend.
Was mein Gefühl von Hannover als Ganzem ausmacht, bündelt sich an dieser Stelle der Stadt aufs Wesentliche. Hier bleibe ich ein bisschen, setze mich. Was soll ich sagen – dieses Mistding von einem Platz war meine erste große Stadtort-Liebe.
Fotos: Alter Passerelle-Zugang am hinteren Raschplatz, Ecke Pavillon / Hochhaus Lister Tor, meist Bredero-Hochhaus genannt, daneben der VW-Tower, der auch unter dem Kosenamen Telemoritz bekannt ist / Raschplatz-Hochstraße mit Auto-Skulpturen (Grebe 2015)