Sie merken, das wird ein ausufernder Text, aber ich habe heute keine Lust, oberflächlich zu bleiben.
Meine Eltern haben nie gesagt: „Spiel nicht mit den Unternehmerkindern!“
Ich weiß nicht, wann und wodurch genau mir bewusst wurde, dass es soziale Trennlinien gibt, die entlang von Einkommensgrenzen verlaufen. Vielleicht waren’s die Schulhofprügel, die ich für meinen mangelnden Style kassierte. Vielleicht war es die Beobachtung, dass am Gymnasium niemand außer mir die Putzfrau grüßte – nicht einmal diejenigen Mitschüler, die mit mir und dem Sohn der Putzfrau in der Grundschule Klassenkameraden gewesen waren. Vielleicht war es auch der Gedanke irgendwann, dass die SPD bloß noch Politik für Betriebsräte mache.
Eine Zeitlang habe ich in einem Kleindiscounter gearbeitet – Kassieren, Ware abpacken, Bürokram. Ein Polo-Shirt-Job. Einem ständig hohem Krankenstand und einer versaubeutelten Personalführung sei Dank, arbeitete ich dort viel zu viel und über weite Strecken mit nur einer weiteren Mitarbeiterin. Kollegin A.: kein Schulabschluss, alleinerziehend mit zwei Kindern, lebenslang wohnhaft im Nachbarort, ohne PKW, Mundwinkelqualmerin. Wir schimpften den Laden kurz und klein, lachten viel, waren uns immer einig – ich arbeitete gern mit A.
Nachdem ich irgendwann gekündigt hatte, las A. nach Kassenabschluss oft aus den nach und nach eingehenden Bewerbungsschreiben vor. „Nä, was ist das denn? Gerade Abitur gemacht. Will hier arbeiten, bis er an die Uni kommt… Hör mal, ich hab keinen Bock auf so’n scheiß Gymmi-Spasti hier!“ Ich pruste gespielt empört: „Hallo, ich hab auch Abitur, ja?“ – nichts, was A. nicht wüsste. A. tätschelt mütterlich mein Knie: „Halt die Fresse, du zählst nicht.“ „Türlich! Ich war sogar mal an der Uni, Hase!“ A. gackert und winkt ab: „Ja ja, ksssscht!“
„Du zählst nicht“ – an der Uni hatte ich das auch oft gedacht. Meine Geschwister waren entweder weniger hemdsärmelig als ich, oder sie waren einfach weniger dünnhäutig.
Spielplatz. Wir unterhalten uns mit einer fremden Mutter, wie man das auf Spielplätzen so macht, und sind einander ganz sympathisch. Ihr Mann sei Opernsänger, erzählt die Andere irgendwann, sie selbst arbeite am Institut für XY. Über unsere eigenen Berufe erzählen wir derweil nichts; stattdessen kommt unser Gespräch bald wie von selbst auf die AfD, weil die, zu jener Zeit relativ frisch gegründet, gerade zum Thema auf allen Kanälen geworden ist. „Es ist unfassbar“, empört sich die Andere, „dass sich solche ungebildeten Prolls auf einmal zu einer Partei zusammenrotten und ihren Blödsinn so öffentlich verbreiten können! Es ist widerlich! Ich meine, die stehen wirklich für alles, wogegen unsere [ihre Hand fuchtelt einen Kreis, der mich und meinen Mann einschließt] Eltern ’68 auf die Straße gingen!“
„Unsere Eltern“. Woher diese automatische Einordnung?
Was liegt ihr zugrunde? Die blinde Annahme, jenseits des Bildungsbürgertums existiere kein intelligentes Leben?
Meine Eltern stammen aus traditionell kleinbäuerlichen Familien. ’68 waren meine Eltern 20 Jahre alt, arbeiteten seit fünf Jahren (mein Vater als Elektriker, meine Mutter als Bürofräulein), hatten vor einem Jahr geheiratet und das erste Kind bekommen; außerdem bauten sie in Eigenleistung ihr eigenes Wohngeschoss aufs Elternhaus drauf, fernab der Großstadt. Meine Eltern verstanden sich als EINFACHE LEUTE.
Was für Bezeichnungen und Attribute würde man ihnen im heutigen Diskurs wohl zuweisen?
Zurück zum Spielplatz. Ein Kind klatscht hin und heult. Eine Mutter, deren Garderobe, Spielzeugsortiment und Wortwahl ziemlich schlicht anmuten, ruft ihm zu: „Heul nicht – steh auf!“ Der Klassiker.
Unter EINFACHEN LEUTEN selten kritisch hinterfragt, denn: Mit genau dieser Parole hält man sich selbst einigermaßen senkrecht, so im Alltag. Wozu sollte man sein Kind, dem später wohl kaum ein rosigerer Alltag blühen wird, erst an was anderes gewöhnen? Schöne Verarsche wäre das!
HEUL NICHT – STEH AUF leitet sich direkt ab von ICH KOMME ALLEIN KLAR, da besteht eine erstgradige Verwandtschaft. Zur selben Familie gehören auch WAS EINEN NICHT UMBRINGT HÄRTET AB, SELBST IST DER MANN (bzw. DIE FRAU), SO IST DAS und EIN INDIANER KENNT KEINEN SCHMERZ.
Wem genau nützt diese Familie von Leitsätzen? Wer profitiert eigentlich von der psychologischen Arbeit, die diese Sätze leisten?
Mein Vater hat sich sein Leben lang nie beklagt. Auch während seiner Krebsbehandlung hat sich mein Vater nie beklagt; er hat alles getragen WIE EIN MANN. Kein Jammerwort, niemals. ICH KOMME ALLEIN KLAR. HEUL NICHT – STEH AUF.
Ich weiß nicht, ob das gesund für ihn war. Das ist keine rhetorische Anmerkung – ich weiß das wirklich nicht.
Harte, folgsame, duldsame Männer brauchte man seit jeher, um sie in Kriegen verschleudern zu können. Ein überzüchtetes Männlichkeitsideal ist, so seh ich das, eine bange Anpassung ans soldatische Ideal, das bis ins Zivile hinein ausstrahlt. Unverändert.
Wenn mein Vater als Kind hinklatschte und heulte, bekam er eine Klatsche extra, „damit du wenigstens weißt, warum du heulst“ (noch so ein Klassiker).
Kurz nach dem Führerschein fuhr ich meine erste Delle ins Familienauto, stellte die lädierte Karre auf den Hof und heulte Rotz und Wasser. Ich schämte mich, bodenlos. Jedes Auto blieb mindestens ein Hundeleben lang in der Familie; mein Vater hegte und pflegte es mit Liebe und Sorgfalt. Ein Auto war ein Familienmitglied, verdammt. Abgesehen davon kostete ein neuer Kotflügel natürlich Geld. Mein Vater besah sich den Schlamassel. „Ist doch nur Blech, Mädchen!“, tröstete er. „Musst nicht heulen, Mensch.“ Aber ich kriegte mich noch nicht wieder ein, ich war scheißwütend auf mich. Mein Vater versetzte mir also einen ironischen Spaßklaps auf den Hintern: „So, damit du wenigstens weiß, warum du heulst!“ Er lachte, ich lachte; Ende der Geschichte.
Mein Vater kam aus tristen Verhältnissen und bekam seine Klatschen routinemäßig. Mir wurde zu Hause nie irgendwas um die Ohren gehauen; Dresche gab’s bei uns kategorisch nicht.
Heute bemerke ich oftmals an mir, dass ich mich im Umgang mit meinem Kind unbewusster Muster bediene. Handgriffe, die meine Eltern, Großeltern, Urgroßmutter so oft an mir taten, dass sie in meine eigene Motorik übergegangen sind. Reaktionsmuster, die aus erlebter Kindheit abgerufen werden. Natürlich ist man viel mehr als die bloße Blaupause seiner Eltern, und doch ist es viel schwerer als ich früher, ohne Kind gedacht hätte, sich bestimmter Muster bewusst zu werden und sich, nötigenfalls, ihrer zu entledigen.
Sich, wie mein Vater zum Beispiel, seinen Kindern gegenüber entschieden anders, besser zu verhalten, als man es von seinen eigenen Eltern kannte, ist eine echte Entwicklungsleistung.
Für solche Leistungen gibt es im gesellschaftlichen Schrank für Kompetenzen, Qualifikationen und Meriten keine Schublade. Sie zählen nicht. Es sind stille Leistungen.
Übrigens muss gelegentlich daran erinnert werden, dass Prügel in erster Linie eine Frage des Charakters und nicht des Nettoeinkommens sind.
Vieles ist in erster Linie eine Frage des Charakters und nicht des Nettoeinkommens, und viel zu selten wird daran erinnert.
Mein Vater war ein echter Marlboro-Mann. Er trug Jeans, Karohemd, Schnauzer. In der Hosentasche immer einen kleinen Blechkamm, im Mundwinkel immer eine Kippe. Seine Wangen wurden abends schon kratzig, Gesicht und Nacken im Sommer sofort siouxbraun; seine Handwerkerhände blieben ewig rau.
Heutzutage würde er, da bin ich sicher, unbesehen in die Kiste mit den reaktionären Machos sortiert werden, in die er nie gehörte.
Mein Vater brachte uns Töchtern bei, wie man Lampen anschließt, eine Bohrmaschine bedient, sich selbst zu helfen weiß. Wir mussten keine Prinzessinnen sein. Sein Sohn musste selbstverständlich kein Fußballspieler sein, auch wenn mein Vater Fußball liebte. Meiner Mutter gegenüber gab es keine herablassenden Worte, keine Grobheiten, keine zotigen Sprüche, niemals, und das kannte ich schon als Kind aus manch anderer Familie ganz, ganz anders.
Obwohl man uns als „bildungsfernen Haushalt“ klassifiziert hätte, gingen meine Eltern mit uns, wenn es irgendwie ging, in jedes Museum, das sich anbot. Der Fernseher wurde hauptsächlich angeschaltet, wenn die Nachrichten oder Doku-Filme liefen. Wir spielten Dame und Schach. Auf Ausflügen wurde jede Kirche, jede historische Anlage, jedes Hafenschiff, jedes Denkmal begutachtet. Wir gruben Fossilien aus alten Steinbrüchen und stiegen auf hohe Aussichtstürme. Gucken kostet nichts. Leute, die sichtlich nichts dagegen hatten, dass wir sie bei Bauarbeiten beobachteten oder beim akrobatischen Übungen im Park, beim Krebsfang, Holzschnitzen, Stelzenlauf oder was auch immer, wurden ausgiebig interviewt. Fragen kostet nichts.
Neugier kostet nichts.
Meine älteste Schwester machte als erstes Kind aus dem Ort Abitur, studierte Sonderpädagogik. Schwester 2 wurde Grafikdesignerin, mein Bruder Historiker. Ich bin die einzige, die im Studium nach zwei Semestern merkte, dass sie keine Akademikerin ist, aber auch Buchhändlerin ist kein bildungsferner Beruf.
Wir Geschwister haben nicht TROTZ unseres Elternhauses die Kurve gekriegt.
Wir hatten zwar keine wirklichen Rücklagen, aber wir kamen immer ALLEIN KLAR. Was wäre gewesen, wenn mein Vater damals nicht immer hätte arbeiten können, sondern in die Arbeitslosen- und später Sozialhilfe gekommen wäre?
Nachdem mein Vater starb, hatte meine Mutter immerhin noch das fast schon abbezahlte Haus, bekam ein bisschen Rente, ein bisschen Pflegegeld, Kindergeld; irgendwie ging’s. Ich weiß nicht, wie das ist, wenn die Eltern gegen Monatsende kein Essen mehr kaufen können und man zusammen zur Tafel geht. Ich weiß, dass das nicht schlimm ist, schämen sollte man sich für ganz andere Dinge und nicht dafür – aber wie es sich anfühlt, weiß ich eben nicht. Wie es sich auswirkt, das weiß ich nicht.
Und Sie?
Meine Mutter wäre gern Damenschneiderin geworden, wurde aber Bürofräulein, später Hausfrau. Erst betreute sie uns vier Kinder, pflegte ihre Großmutter, im Anschluss dann ihre Mutter und zwischendrin meinen sterbenden Vater; alles zu Hause.
Eine andere Kollegin aus dem Discounter arbeitete in Vollzeit bei uns, außerdem abends und an den Wochenenden an einer Tankstelle, um genug für sich und ihre unfallinvalide Mutter zu verdienen. Sobald die üblichen Zeitverträge ausliefen, suchte sie sich einen neuen Discounter, eine neue Tankstelle.
Was für zeitliche Reserven, was für Energiereserven sollten solche Leute noch locker machen können, um sich weiterzubilden?
Oder gar, um sich gesellschaftlich, politisch zu engagieren?
Oder auch nur, um mal von sich selbst zu erzählen, sich diese Ohnmacht ein bisschen von der Seele zu reden? Widerhall zu erfahren?
Von sich selbst zu sprechen, in der ersten Person, das ist ein Schritt in Richtung Selbstermächtigung.
Was hätte meine Mutter während ihrer Jahre als pflegende Angehörige geschrieben, hätte sie da einen Facebook-Account gehabt?
Nichts natürlich. In den schlimmsten Phasen schaffte sie binnen der wenigen freien Minuten knapp zu essen, duschen, schlafen.
Rein, wirklich rein hypothetisch hätte sie geschrieben: „Brauche neue Tipps zu Dekubitus-Profylaxe – stop – Kann jemand einfache Gymnastikübungen gegen Rückenschmerzen empfehlen – stop“. Fünf Leute hätten geantwortet, wie gut ihre Angehörigen es in diesem oder jenem [unbezahlbaren] Heim hätten; acht hätten geschrieben, die Ausländer seien an allem schuld; zwei hätten von homöopathischen Mittelchen geschwärmt; vierzehn hätten Herzchen geschickt; zwei hätten gefragt: „Und wer denkt an die erschütternden Zustände in der Putenmast? Keiner, oder was?!“; einer hätte kommentiert: „wie dumm bis du denn“; einer hätte erwähnt, dass Gott all seine Kinder liebe; achtundzwanzig hätten meiner Mutter erklärt, dass man Prophylaxe nicht mit f schreibe, sondern mit ph, und dass, auch wenn es danach aussehe, es noch lange keine eingedeutschte Form von…
Obwohl meine Eltern fürchterlich stolz auf uns waren, brachten uns das Abitur in der Stadt, das Studium in der Großstadt auch auseinander, nicht nur räumlich. Das war ein stiller Vorgang.
Ich glaube, ich habe erst in den letzten Jahren, in denen meine Mutter und ich plötzlich zum ersten Mal so richtig Zeit hatten, als Erwachsene miteinander zu sprechen, verstanden, was meine Mutter tatsächlich alles zu erzählen hat. Genauso hat meine Mutter erst jetzt verstanden, dass sie erzählen kann und darf. Wenn ich jetzt an die Jahre zuvor denke, kommt es mir rückblickend fast so vor, als hätten wir einander da gar nicht gekannt.
Pflegen und Kümmern zählen übrigens auch zu diesen stillen Leistungen, für die sich niemand interessiert.
Unsere Straße wird gerade saniert. Da es sich um eine Anliegerstraße handelt, werden die Baukosten auf die Privathaushalte umgelegt. Ein 150 Jahre altes Hofgrundstück wird von der Eigentümerin, einer 80jährigen Bauernwitwe nun verkauft. Der Hof ist unmodern, teils sind die Böden nur gestampft, die Dachstöcke nicht alle isoliert, die Gebäudeteile nicht alle elektrifiziert. Ställe, Scheunen, Jauchegruben. Wer das kaufen wird, wird wohl alles abreißen. Die Baukosten-Umlage berechnet sich anhand der Grundstücksfläche; anhängige Agrarflächen werden zu 85% mitberechnet. 80.000€. Die Witwe klagt nicht selbst; Anwohner-Sammelklagen sind nicht zulässig. Sie beklagt sich auch nicht – in einer kleinen Wohnung habe man es vielleicht auch leichter, nicht? ICH KOMME ALLEIN KLAR.
Ich liebe unsere alte Straße. Als ich zurück aufs Dorf kam, wollte ich unbedingt hierher. Jedes Mal, wenn ich nun an diesem Hof vorbeikomme, den ich schon als Kind schön fand, wird mir schlecht.
Mein Elternhaus ist in der Nebenstraße. Wenn ich daran denke, die Nebenstraße wäre damals saniert worden und meine Mutter hätte 80.000DM bezahlen sollen, natürlich nicht bezahlen können, das Haus verkaufen müssen, nicht verkaufen können (auch so ein altes, verbautes Bauernhaus), wird mir schlecht. 80.000DM – solche Summen gab’s doch nur im Fernsehen! Was hätte sie gemacht? Mit meiner bettlägerigen Oma und zwei Kindern im Haus?
Wenn ich mir bloß ausmale, die Nebenstraße würde nächstes Jahr saniert werden und meine Mutter müsste 40.000€ bezahlen, wird mir so übel, ich weiß gar nicht, wohin mit mir.
Man kann so schnell, so schnell aus allen Sicherheiten fallen.
Menschen wie meine Eltern, und solche Menschen, die prekärer leben, als meine Eltern das taten, spielen im gesellschaftlichen Diskurs zumeist keine gestaltende Rolle. Zumeist schaffen sie und ihre Belange es gar nicht erst in die öffentliche Wahrnehmung. Sie kamen sowieso immer irgendwie ALLEIN KLAR, und den Rest machte die SPD. Das war innerhalb der letzten Jahrzehnte wohl nie viel anders.
Anders ist nun allerdings, dass einst so geläufige, in sich einheitliche Identitätsbilder – Unterschicht, Arbeiterschicht, Bildungsschicht – nicht mehr recht zur Einordnung und Feststellung von Identität taugen. Und mit den geläufigen Identitätsbildern zerfallen auch die geläufigen Kongruenzen zwischen einem bestimmten Identitätsbild und der dafür zuständigen Volkspartei.
Über unserem Haus wehte, unsichtbar, immer eine rote Fahne. Ich wusste immer, welche Art von Politik für Leute wie meine Eltern untragbar, unwählbar war; heute dagegen weiß ich gar nicht zu sagen, was Leute wie meine Eltern überhaupt noch wählen könnten, wählen sollten.
Wiederum sehr genau weiß ich, was mein Vater zu Pegida, AfD etc. gesagt hätte, und die Rechtspopulisten sollten sich hüten, so großspurig zu verkünden, sie sprächen im Namen aller EINFACHEN LEUTE.
Die Rechtspopulisten – und zählen Sie bitte die BILD-Zeitung hinzu – nehmen für sich in Anspruch, Stimme des Volkes zu sein, wen auch immer sie damit meinen. Sicher ist aber: Den EINFACHEN LEUTEN verhelfen sie nicht zu einer Selbstermächtigung.
Rechtspopulisten wollen keine selbstermächtigten, sondern soldatische Menschen. Schritte zu echter Selbstermächtigung ermöglichen sie niemandem; sie nehmen die Identitätsfragen, sozialen Fragen, Alltagsfragen der EINFACHEN LEUTE nicht als solche ernst, sie suchen nicht nach wertigen Antworten.
Sie bieten billige Identitätslösungen. Die faule Masche, aus dem Geburtsort ein pseudoeinheitliches Wir abzuleiten. Eine Fantasie-Gemeinschaft.
Sie bieten billige Steigbügel, um aus der Schwächeposition gefühlt in eine Position der Stärke zu wechseln. Den faulen Mechanismus, noch Schwächere in den Keller zu trampeln, um sich selbst eine Etage höhergestellt zu fühlen. Fantasie-Problemlösungen.
Dieser Inklusionsquatsch an Schulen zum Beispiel? Teure, schulvergiftende Gutmenschen-Romantik! Der Rechtspopulismus identifiziert stets die Schwächsten, schreibt ihnen die Rolle der Problemträger zu und agitiert auf den gesellschaftlichen Ausschluss solcher Problemträger hin. Das ist billig. Der politische Wille, der politische Einsatz, die nötig sind, um aus einem System voller bröckelnder Schulen, dem es überall an Geld, Personal und Technik mangelt, ein grundsätzlich besseres zu machen, nämlich ein gut funktionierendes System für alle Kinder – dieser Wille und Einsatz wären teuer.
Der Rechtspopulismus drückt sich strukturell davor, echte Probleme anzugehen, echte Lösungen zu finden, echte Stärke zu schaffen. Das ist schlicht feige. Der Rechtspopulismus ist – um seine eigenen Sprachbilder anzuwenden – ein feiger Polit-Schmarotzer, der sich von gesellschaftlichen Problemen ernährt.
Warum sagen die EINFACHEN LEUTE selbst unter einer Präsenz der AfD in Bundestag, allen Landesparlamenten und auf Lokalebene, in Tagespresse, Fernsehen und Radio gebetsmühlenartig „Uns hört ja keiner zu“ ? Die Einen genießen es, vorsätzlich die Opferrolle zu spielen. Den Anderen hört wirklich keiner zu, denn auch wenn die AfD ja viel spricht, spricht sie im Dienste einer Ideologie und nicht der Menschen.
Übrigens muss gelegentlich daran erinnert werden, dass eine Vorliebe für rechtspopulistische Positionen in erster Linie eine Frage des Charakters und nicht des Nettoeinkommens ist.
Die Afd bezieht ihr Personal und ihre Wählerschaft auch, und zwar nicht zu knapp, aus akademischen und Unternehmerkreisen.
Dieser in allen Medienformaten so beliebte Schluss Afd = EINFACHE LEUTE ist nicht bloß zu einseitig. Viel fataler ist, dass er – als falscher Signalverstärker – den EINFACHEN LEUTEN geradezu suggeriert, die AfD sei genau ihre Partei.
Édouard Louis wettert indessen in Wer hat meinen Vater umgebracht ebenfalls reichlich agitatorisch daher, steht allerdings links der Mitte. Weit links. Er staubt die rote Fahne ab, holt sie raus zum Marschieren, wendet das Vokabular des Klassenkampfs an: die „Herrschenden“ , die „Unterdrückung“ . Louis will den Rechtspopulisten die Deutungshoheit über das Prekariat entziehen. Er will aber nicht einfach, dass das Prekariat soldatisch marschiert, links der Mitte bitteschön, sondern er will, dass es für sich, in der ersten Person, spricht, redet, schreit. Und er will die Verantwortung für die Lösung gesellschaftlicher Probleme an die Eliten, die Politik zurückpassen, will ihnen diese Verantwortung um die Ohren hauen, denn es sind die Schwächsten, die den Mangel an Problemlösungen seit Jahren ausbaden, sozial, finanziell, psychisch und physisch; er will ihnen die Schuld zurückgeben, die seit Jahren auf die Schwächsten geschoben wird.
Ob er hier nicht für persönliche Zwecke seinen Vater instrumentalisiere, wird hier und da kritisch gefragt. Ob diese Zurschaustellung des Vaters ebendieser Selbstermächtigung, die Louis sich für seinen Vater wünsche, nicht vollkommen widerspreche, nicht vielmehr eine gewaltsame Aneignung darstelle – das ist ein Aspekt, der Louis selbst beschäftigt, wie er in diversen Interviews äußert. Aber welche Plattformen würden seinem Vater schon offenstehen? Facebook vielleicht?
Den Schlusssatz seines aktuellen Buchs spricht Louis‘ Vater. Der fragt den Sohn, ob er, wie als Jugendlicher, immer noch so viel auf Demos gehe, politisch interessiert und aktiv sei, worauf Louis antwortet, das sei er „jetzt mehr denn je“ . Der Vater erwidert: „Recht so. Recht so, ich glaube, was es bräuchte, das ist eine ordentliche Revolution.“
Wer sollte eine solche Revolution gestalten? Die Rechten, die Linken? Sollen die Gelbwesten ruhig hier ein bisschen Revolution fürs Prekariat machen, die Jugendlichen da ein bisschen Revolution fürs Klima, die Gewerkschaften immer mal ein bisschen Revolution für den öffentlichen Dienst?
Wer profitiert vom Mangel an Geschlossenheit zwischen gesellschaftlichen Lagern und Splittergruppen, von Reibungsverlusten an gesellschaftlicher Energie? Wen füttert all unsere im Stillen gehaltene oder fehlgeleitete Wut?
Eine Revolution für alle müsste damit beginnen, dass wir erkennen, welche gemeinsamen Probleme abseits aller Filterblasen tatsächlich bestehen:
Es mag dem akademisch ausgebildeten Freiberufler, der an selbstausbeuterische Arbeit und unsichere Auftragslagen gewöhnt ist, vielleicht nicht in den Sinn kommen, aber er teilt seine Probleme seltener mit seiner Auftraggeberschaft, deren Milieu er sich zurechnet, als viel häufiger mit einer Zeitarbeiterin mit Hauptschulabschluss, die im Arbeitsalltag genauso wenig Planungs- und Verdienstsicherheit kennt wie er.
Das Unternehmertum beklagt oftmals eine Neidkultur, die uneinsichtig ignoriere, welches Risiko das Unternehmertum, zumal in Zeiten von Turbokapitalismus und Globalisierung, zu tragen habe. Wer sagt, die EINFACHEN LEUTE trügen keine Risiken? Worin sollte sich die Angst davor, ein Unternehmen zu verlieren und danach mit nichts in den Händen dazustehen, grundsätzlich unterscheiden von der Angst davor, einen existenzsichernden Arbeitsplatz in einem Unternehmen zu verlieren und danach mit nichts in den Händen dazustehen?
Sollte die pegidanahe Kleinjobberin, die einen Teilzeit- und mehrere Nebenjobs jongliert, um über die Runden zu kommen, und die sich deswegen nah am Burnout bewegt, sich zugleich aber keine Auszeiten erlauben kann, nicht einsehen, dass der türkischstämmige Teilzeitarbeiter, der zusätzlich mehrere Nebenjobs unterhält, um über die Runden zu kommen, und der sich deswegen nah am Burnout usw., nicht der Volksfeind ist, sondern ein Teil ihrer eigenen Peergroup?
Wenn die Alleinerziehende es nicht wegen kaum bezahlbaren Wohnraums, unflexibler Arbeitsmodelle bei gleichzeitiger Minderbezahlung von Frauen, zurechtgeschusterter Betreuungsmodelle und zig anderer Dinge im Alltag so schwer hätte, sondern von wirtschaftlicher, politischer, gesellschaftlicher Seite her mehr Unterstützung erfahren würde, hätte sie womöglich auch leichter Reserven übrig, um sich um Klimafragen zu kümmern.
Gehen Sie in ein Krankenhaus. Fragen Sie AssistenzärztInnen, PflegerInnen und dazu PatientInnen quer durch alle Einkommenslagen, Bildungsschichten, Parteisympathien, Religionszugehörigkeiten, Altersstufen und, was weiß ich, Schuhgrößen, ob sie die Verhältnisse im deutschen Klinikwesen prima finden!
Auch wenn Gemeinsamkeiten mitunter nur partiell bestehen – sind sie deswegen nicht trotzdem valide? Taugen solche Gemeinsamkeiten nicht vielleicht am ehesten zur validen Grundlage für eine Revolution, von der wir alle profitieren würden – und eben nicht bloß die Populisten hier und das Großkapital da, denen wir alle, egal aus welchem mehr oder minder bodennahen Biotop wir stammen, nun wirklich scheißegal sind?