POTPOURRI DER GEFÜHLE > Schlaglöcher

Schlaglöcher

Erinnern Sie sich an das unruhige Quirlen eines ganz neuen, unverbrauchten Verliebtseins? Wie anstrengend! Erschöpfend, nicht wahr?
[Die Stimme, sagt er, die Stimme sei es gewesen, die ihn damals endgültig von den Füßen geholt habe. Erlegt wie einen Hasen. Denn nichts anderes ist Liebe ja: eine Jagdveranstaltung. Zunächst also eine ziemlich archaisch-brutale Sache, das ganze, und erst wenn eine solche Episode einen selten glücklichen Verlauf nimmt, nennt man das dann Romantik – aber wo war ich gerade? Ich bin meinerseits damals in diese unschuldige Jagdfalle gegangen, die sein Lachen war, so ein Lachen, das sich wie eine leuchtend warme, summende Grube vor mir auftat, und weg war ich.]
Mit der Zeit beruhigt sich die Lage, früher oder später.
[Es vergehen 10 Jahre, 15 Jahre, keiner hat’s gemerkt, und plötzlich ist man eines dieser Jubiläumspärchen und miteinander siamesisch verwachsen, ein festes Gespann, ein Traditionsgebilde. Manche mit Kind, manche ohne, je nach Schicksal bzw. Geschmack. Auch einen solchen geglückten Verlauf nennt man dann Romantik. Andere sind inzwischen längst getrennt oder gerade dabei.]
Und was kommt dann?
[18 Jahre vergangen, keiner hat’s gemerkt, und plötzlich sind wir eben nicht mehr 19 Jahre alt, wir sind so viel älter und so unturbulent geworden, du liebe Güte, wir sind, was man gemeinhin erwachsen nennt, oder? Das kann man meinetwegen Romantik nennen, aber in erster Linie steht dahinter ein Haufen Arbeit. Ich meine Herzschläge, die zehren. Und Zufallsglück, klar.
Und die Sache ist auch die, dass es der Zweieinigkeit durchaus förderlich sein kann, wenn das Leben draußen seine volle Scheußlichkeit ausspielt – draußen bei der Arbeit, draußen auf dem Wohnungsmarkt, draußen auf dem weiten Feld des Zwischenmenschlichen usw. Wenn man dann ein Wir sein kann, so ein Wir, das gegen diese Scheußlichkeit schützt, dann ist das mitunter zwar ein reichlich pragmatischer Zusammenhalt, aber nennen Sie das ruhig auch einmal Romantik, oft genug ist es das nämlich wirklich. Die Sache mit uns ist also die, dass wir traditionell immer genug Scheußlichkeit um die Ohren hatten, dass uns deswegen gar nicht, oder höchstens einmal flüchtig, in den Sinn gekommen wäre, einander als scheußlich zu empfinden.
Und jetzt? Ist das Leben – keiner hat’s gemerkt – plötzlich um eine oder auch zwei Stufen angenehmer, unkomplizierter, weniger scheußlich geworden, verglichen mit dem Stand der Dinge, den wir traditionell gewohnt waren.
Fragt sich nun: Was soll man auf einmal anfangen mit dieser Unscheußlichkeit?
Plötzlich stellt man fest, glücklich zu sein. Man kann einfach so glücklich sein, sehr gut kann man das sogar, sieh mal einer an. Man streitet sich plötzlich um diese belanglosen Dinge, wie das auch andere stinknormale Pärchen so tun, wer den Müll rausbringt und solche Sachen, ja, und das ist dann auch schon alles, herrlich!
Warum bitteschön nennt man Langeweile, was in Wirklichkeit doch vielmehr eine durch haufenweise Arbeit und eine Menge Zufallsglück erreichte Romantik ist? Ach was, Seligkeit ist das! Was sollte jetzt, was sollte hier schon noch Scheußliches auf uns lauern, sag mal?]
Na, neue Turbulenzen, andere Turbulenzen natürlich. Was dachten Sie denn?
[Dass alles so bliebe, so unscheußlich, so unturbulent, ist ja reines Wunschdenken. Mach ein Foto von unserem Esstisch zur Abendbrotzeit – diese ruhigen, gemeinsamen Abendstunden jetzt, die wir so lieben – und schon hast Du ein monochrom Banketje, eins dieser schlichten Mahlzeitstillleben, die Zufriedenheit nachzeichnen und zugleich Wehmut vorwegnehmen. Es ist alles eitel… Wenn uns nun doch irgendwann einmal die Ernüchterung einholen kommt? Die Langeweile? Was, wenn wir bloß dachten, die Jagdveranstaltung sei für uns gelaufen, und Dich, wer weiß, wieder eine Stimme von den Füßen holt, aber eine andere diesmal?
Wie lange schlafen Scheußlichkeiten für gewöhnlich?
Es gibt am Ende immer was zu fürchten. Und zu lieben genauso.]


Bild: Grebe 2020

POTPOURRI DER GEFÜHLE > Hass

Stellen Sie sich einmal eine Parabel vor. Nein, keine literarische jetzt. Sie erinnern sich – 10. Klasse, Funktionsgleichungen usw.: ein U-förmiger Graph, dessen gebogene Arme spiegelgleich verlaufen und im Scheitelpunkt zusammentreffen. Zeichnen Sie also auf ihr gedankliches Kästchenpapier nun bitte ein Koordinatensystem und eine darin nach Belieben angelegte Parabelkurve. So. Und die eine Parabelhälfte versehen Sie mit dem Wörtchen Liebe. Und die andere mit dem Wörtchen Hass.
Wozu diese Übung? Weil wir ständig ignorieren, dass die beiden Geschwister sind. Der Hass ist der schwarze Zwilling der Liebe. Im Ernst! Die beiden teilen ein und denselben Ursprung, nämlich den Magmakessel des Elementaren. Was auch immer in der Lage ist, unsere Liebe / unseren Hass auf sich zu ziehen, besitzt eine existenzielle Qualität, es beschäftigt uns mit äußerster Intensität, es lodert in den Tiefen der Knochen, nimmt uns vollständig in den Griff und quetscht ungeahnte Energien aus uns hervor – selbst unsere Ängste verkriechen sich lieber in ihre Mauselöcher, wenn wir auf dem Rücken eines solchen Gefühls anmarschiert kommen.
Ich glaube, dass nur, wer auch wirklich lieben kann, die Fähigkeit zu wirklichem Hass besitzt. Denken Sie an die Spiegelgleichheit: Wenn Sie nicht wissen, wie es sich anfühlt, etwas mit der Kraft einer Kernschmelze zu lieben – wenn Sie einen solchen Grad von Intensität also nie kennengelernt haben, dann erreichen Sie den auf der Hass-Skala genauso wenig. Dann haben Sie gewissermaßen nicht das Zeug dazu.
Oftmals spricht man von einem Hass, der plötzlich um sich greife oder überkoche, und meint damit oftmals eigentlich den Zorn – der einem wilden Impuls entspringt und somit eher als der böse Zwilling des kopflosen Begehrens gelten kann. Während der Zorn ein explosiver, blindwütiger Geselle ist, der mitunter ebenso spontan wieder verraucht wie er sich entzündet, ist der Hass ein unsterblicher, konzentriert arbeitender Gott. Hass ist, wie die Liebe, hartnäckig und gezielt auf wenige, bestimmte Personen gerichtet. Der Zorn / das Begehren sind da viel flexibler.
Manchmal lese ich so Kommentar-Ketten auf Twitter, Sie wissen schon, die so vor Gift und Geifer triefen, dass Sie direkt glauben, aus dem Gerät, mittels dessen Sie sich da durchscrollen, müsste es tropfen, eine ordentliche Pfütze voll. Manchmal schaue ich mich argwöhnisch auf diesen Internetseiten um, die sich ganz legal der Romantik von Grundgesetzabschaffung und Menschenvernichtung widmen. Manchmal gerate ich auf einem Parkplatz, in einer Kassenschlange, in der Fußgängerzone, im Zug, im Schwimmbad – suchen Sie’s sich aus – in eine dieser unsäglichen Pöbeleien hinein, die offenbar so untrennbar zum Leben dazugehören wie Zähneputzen oder Noroviren, und mir ist klar, dass ich vor allem deswegen unverletzt und (mit Glück) unbespuckt aus solchen Angelegenheiten hervorgehe, weil ich weder dunkelhäutig, schwarzhaarig, sichtbar religiös oder Rollstuhlfahrerin bin, noch Greta-Zöpfe, Merkel-Blazer oder irgendeine Form von Arbeitskleidung trage, weil ich in einer allgemein ziemlich gnädigen Stadt wohne und bislang auch einfach – denn als mittelgroße Frau ziehe ich meistens den Kürzeren, was das körperliche Kräfteverhältnis anbelangt – Glück hatte.
Verrohung, Hate Speech, hassmotivierte Angriffe auf Mitmenschen, ach, diese flächendeckend präsente Hass-Massenware, dieser ganze, quicklebendige Hass-Mainstream – was taugt der Begriff Hass überhaupt, um das ganze einzuordnen? Ich meine, wo es doch zu einem so beliebten Hobby, zum Breitensport geworden ist, willkürlich seine Mitmenschen – direkt oder anonym, in echt oder in Internetland – mal eben anzugreifen, aus Bock, verbal, brutal, illegal, scheißegal?
Hass ist ein Gefühl. Ein furchtbar intensives. Eines, das sogar dem Hassenden selbst eine Qual ist. Der reaktive Hass ist ein genauso zielgebundenes, genauso unwillkürliches Gefühl wie die Liebe.
Indessen ist die Sache mit den Gefühlen immer, von Natur aus, eine etwas diffuse, klar. Wenn man nun aber alles, was auf irgendeine Weise laut, böse, gewaltlüstern ist, mit dem Wörtchen Hass versieht, macht man aus einer diffusen Kategorie eine beliebige. Vor allem jedoch gibt man Leuten, deren einzige Freude es ist, sich mit der Aggressivität eines besoffenen Rottweilers an der Gesellschaft auszutoben, damit eine besondere Rechtfertigungsbasis: Gefühle kommen ja nicht aus dem Nichts – sie werden hervorgerufen! Von ETWAS hervorgerufen, klar? Unsere Gefühle sind wichtige Zeugen! Unsere Gefühle sind Reporter, deren Berichte Ihre werte Aufmerksamkeit verdienen, denn sie dokumentieren die Lage in den Krisengebieten, die unser Alltag sind, kapiert? Unsere Gefühle sind Botschafter im Auftrage unserer geschundenen Seelen, jawohl, also besitzen sie quasi diplomatische Immunität, merkt Euch das, Ihr F*#§%+!
Überlegen Sie, wie furchtbar praktisch es doch ist, eine Regung der niedersten Triebe – reine Gewaltlust nämlich – zum Ausdruck eines tief empfundenen und zutiefst menschlichen Gefühls zu erklären, um nicht zu sagen: zu veredeln. Sehen Sie mal, was für schamloser Mist plötzlich Validität erlangt, indem er als Gefühlsausdruck verkauft wird!
Menschen haben Gefühle, gute, böse, verwirrende. Das ist der Ausweis des Menschlichen schlechthin. Aber wissen Sie: Wer es mal eben so zwischen dem Frühstück und der Runde mit dem Hund, oder beim Schwätzchen mit KollegInnen, oder in der Kassenschlange im Supermarkt, oder zu Tisch bei einer Familienfeier, oder – Sie wissen genau, was ich meine: Wer es mal eben so zwischen zwei Schlückchen Kaffee fertigbringt, seinen Mitmenschen zu sagen, sie sollen doch bitteschön durchgefickt, gehäutet, an die Wand gestellt werden oder zusehen, wie ihre Kinder am Spieß braten, der hat alle möglichen Probleme, aber Gefühle hat er keine. Selbst Hass wäre dafür ein zu großzügiger Begriff. Gefühle sprechen an dieser Stelle nicht aus dem Menschen – da zeigt sich im Gegenteil, dass sie fehlen, die Gefühle, da sind weit und breit keine in Sicht. Da ist bloß Bock auf Tollwut, Lust auf billige Gewalt, kopfloser Hau-drauf-Instinkt. Und das, Leute, genau dieses Fehlen von Gefühlen, ist der Ausweis des Unmenschlichen, und sonst gar nichts.

ANEINANDER VORBEINSAM > Salzmorgen

Weil es heute Sperriges mitzuschleppen gibt, bringe ich das eigene und das Nachbarkind mit dem Auto zur Schule. Natürlich ist das eine dumme Idee – auf dem Rückweg lande ich punktgenau in diesem Verkehrshoch, das einmal morgens, einmal spätnachmittags (die Gezeiten der Blechmeere) die Stadt beherrscht. Hinzu kommt die Sperrung einer Nebenstrecke, sodass sich alles auf meinem Weg bündelt. Da stehe ich nun auf der Straße herum, komme ein bisschen voran, in der Schrittgeschwindigkeit eines Montagmorgens, stehe wieder. Der Motor dröhnt, er brummt die sehr lange und sehr eintönige Ballade vom automobilen Einzelpersonenverkehr (das Kulturgut der Autobahnen, Landstraßen und innerstädtischen Hauptverkehrsadern). Auch der Körper dröhnt ein bisschen (die Erkältung). Dunkel ist es, dreckig schwarz blitzt die Fahrbahn unter Scheinwerfern auf, dreckig grau schlafen die Bürgersteige. Ich wünsche mich weg, nach Brachland, die Füße bis über die Knöchel in schönstem Unkraut und um die Ohren nichts als einen Himmel voller Krähen und Bussarde. Der Motor dröhnt. Neben mir, hinter mir, vor mir Autos, in denen je ein einzelner Mensch sitzt, wie ich: Alle drei Meter ein Mensch, einzeln verpackt, und ein Motor, der sein Lied dröhnt. Ich schaue mir die Gegenspur-Gesichter an, die im Scheinwerfer aufglimmen, und ich könnte mir kein einzelnes merken, und niemand merkt sich mich. Einsam wirken wir alle. Montagmorgeneinsam. Arbeitswegeinsam. Mitsichselbsteinsam. Das Auto ist der schmückende Rahmen dieser Einsamkeit. Der Motor dröhnt.

Warum singe ich vor mich hin?

Ich habe den dröhnenden Kopf auf einen Schlag voller Musik. Heute aber nicht die bewährten Trostlieder, diese Brachlandlieder, gemütlich, warm – dafür ist mir inzwischen tatsächlich zu grau zumute, leicht jaulig sogar. Sondern also diese salzigen, leicht jauligen Lieder, die ein bisschen trösten und zugleich brennen (das Geisterflüstern verflossener Berührungen und anderer Wohlgefühle, auch von Herzeleid, Scham, oder auch von Momenten einer „So ist das also“-Erkenntnis, die, äußerlich unsichtbar, innerlich genauso einschlagen kann wie eine Umarmung, eine Backpfeife). Intensität ist das eigentliche Gegenteil des Montagmorgens. Musik, die eine gewisse, erlebte Intensität speichert (die Musik der wunden Punkte und der peinlich gehüteten Wunder), kann mir vielleicht gegen diese mitsichselbsteinsame Parade von Gesichtern, meines inbegriffen, helfen – ? Sie muss bloß irgendwie ankommen gegen den Motor, der sein Lied dröhnt.

Morgen wieder zu Fuß.

 

 

ANEINANDER VORBEINSAM > Ein Männlein steht im Wäldchen

Zwei Stunden lang bin ich mindestens unterwegs, nie weniger, gern mehr. (Das jedoch nur, wenn es die Tagesplanung hergibt. Ganz ohne Plan und Uhr verschwunden, einen vollen Tag lang, bin ich schon ewig nicht mehr. Ich vermisse das zwar nur selten, aber wenn, dann sticht es mich allerdings ins Zwerchfell, ja.)
Es ist nicht bloß das Wetter, was mich ausfliegen lässt – inmitten verregneter Herbsttage plötzlich diese hellwarme Enklave. Mir ist auch sonst jedes Wetter recht, ich bin da nicht so.
Frühmorgens lassen sich Tiere blicken: Feldhasen, ein Fasanenpaar, Rehe. Als ich mich durchs Dickicht eines Knicks drücke, kullern fluchtartig ein paar grau-braun-melierte Federkügelchen vor mir davon. Mich überrascht, dass Wachteln „in Rudeln“ leben, was hier natürlich ein falscher Ausdruck ist, aber zugleich der genau richtige. Und mich überrascht, wie exakt sie in ihrer Motorik einem Dutzend angestoßener Billardkugeln gleichen.
Dass ich gerade, kurz nach Dämmerung und reichlich fern von Zuhaus, über Billardkugeln nachdenke, während ich knöcheltief in einem weichen Rübenacker stehe, der so abseitig liegt, dass hier nicht einmal die Wachteln auf Störungen gefasst sind, daran überrascht mich längst nichts mehr. Das ist normal.
Etwas überrascht wirken höchstens vereinzelte Passanten, die mitten im Feld, in aller Herrgottsfrühe, keinen Gegenverkehr erwartet hätten; heute ein Jogger, eine Radlerin, ein Frauchen samt Labrador. Natürlich grüße ich freundlich.
Ich wohne noch nicht sehr lange hier, aber irgendwann werden sich die Leute schon daran gewöhnen, dass ich ihnen ab und an im Feld begegne, irgendwie fehlplatziert, als wartete ich hier auf einen Bus, der mich ins Büro bringt. Oder zum Mond. In meinem Heimatort wundert sich jedenfalls kaum noch einer, wenn ich unerwartet eine Uferböschung emporgekraxelt oder von einem Jägersitz herabgepurzelt komme.
Zuhause ist – und das formuliere nun bitte jeder so für sich, wie es jeweils am ehrlichsten gesagt ist – Zuhause ist für mich, wo ich jeden Baum, Strauch und Graben kenne. Mir kann also durchaus niemand, der mir beim Stromern begegnet, vorhalten, ich liefe bloß in der Gegend herum, wo ich rein gar nichts zu Suchen hätte.
Natürlich suche ich Zuhause.
Und stehe dabei, indem ich mir die hiesigen Bäume, Sträucher und Gräben bekannt mache, längst drin im Vertrauten, im Familiären will ich fast sagen – ich meine: Wissen Sie, weshalb mich der Herbst so beklemmt, der Winter so strapaziert? Weil mir in dieser Zeit Stück für Stück, mit jeder Frostnacht, meine traulichste Gemeinschaft abhanden kommt. Wem es eher schwerfällt, unter Leuten Gemeinschaft und Vertrautheit zu finden oder herzustellen, der kann so wunderbar leicht unter die Pflanzen gehen, sich so leicht den Singvögeln und Insekten anschließen, sich allzu leicht in diese Gemeinschaft hineinverlieren, die all denen Zutritt gewährt, die bereitwillig darin verschwinden mögen.
Ich bräuchte, um unterwegs keinen leicht überraschten Gesichtern mehr zu begegnen, nur irgendein eindeutiges Attribut mit mir zu führen. Ich müsste bloß atmungsaktive Laufkleidung und Turnschuhe tragen. Ich bräuchte nur, wie früher, einen Kinderwagen zu schieben. Ich könnte ganz einfach zwei Nordic-Walking-Stöcke in die Hände nehmen, das würde schon vollkommen genügen.
„Du brauchst einen Hund!“, diesen naheliegenden Ratschlag bekomme ich am häufigsten zu hören, klar.
Dass die Tiere sich mit fortschreitendem Morgen rarer machen, liegt anteilig auch daran, dass sich die Leute, die joggen, walken, radfahren und Hunde ausführen, nun häufen. Trotzdem begegne ich selten mehr als diesen üblichen zwei, drei Menschen, denn auf die anständigen Wege, wo man nun einmal Leuten begegnet, komme ich nur zurück wie ein Lied auf den Refrain – dazwischen schlage ich meine etwas weiter ausholenden Bögen ins Unwegige.
Natürlich brauche ich keinen Hund, um Querfeldein-Gänge zu machen. Als ob ich ohne Hund die Querfeld-Eingänge nicht passieren könnte, nicht passieren dürfte.
Ich bin mein eigener Hund.
Wieder ein Reh, diesmal so nah, dass ich den Fächer seiner Wimpern erkennen kann. Es registriert schnell, dass ich zu dichtauf bin, und setzt sich zügig, aber unangestrengt in das am Ackerrand beginnende Waldstückchen ab.
Bei Fotos und Darstellungen von Rehen richtet man sein Augenmerk vorrangig auf ihre Zierlichkeit – was aber meinen Eindruck von ihnen in freier Wildbahn an erster Stelle bestimmt, ist ihre Lautlosigkeit. Wie kann sich etwas von dieser Größe in dieser Umgebung und mit dieser Geschwindigkeit bewegen, ohne dabei auch nur das geringste Geräusch zu verursachen? (Das Reh als klassisches Vergleichstier für zarte, elegante Frauen – ein Vergleich, der die rehische Scheu mitmeint. Und der wohl auch jene nebengeräuschlose Präsenz mitdenkt. Und damit, alles in allem, der Adressatin eine gewisse Schwächlichkeit, Kläglichkeit attestiert. Noch nie habe ich gelesen oder gehört, wie der Reh-Vergleich einem Mann gegolten hätte.)
Ich bin keine vergleichbare Verschwindekönigin. Aber wenn ich in diesem Umfeld nicht gesehen werden möchte, vielleicht, weil ich gerade nicht unbedingt Lust dazu habe, schon wieder ein milde irritiertes Gesicht freundlich zu grüßen – wenn ich hier also nicht gesehen werden möchte, wissen Sie, dann sieht mich auch niemand.
Wer versuchen sollte, sich zusammengekauert hinter einem Baumstamm zu verstecken, der wird übrigens ganz sicher gesehen, versprochen – das erfolgreiche Verschwinden ist keine Frage des Stillhaltens, sondern der Bewegung.
Nach einer, vielleicht auch anderthalb Stunden fühle ich mich ganz und gar eingelaufen in der Gegend. Ich kann jetzt mit dem Bachwasser mitfließen, mit dem Espenlaub mitrauschen, mich unterschiedslos zwischen schwankenden Kiefernästen bewegen; ich bin vollständig synchronisiert.
Und sie lässt schrittweise nach. Die Unruhe.
Natürlich laufe ich nicht herum wie eine Irre, bloß weil mich ein paar Sonnenstrahlen nach draußen locken, sondern weil ich ein Wespennest im Brustkorb sitzen hab.
Es ist nicht ganz leicht und wird mit den Jahren eher noch zäher, schwergängiger, immer wieder aufs Neue anzufangen. Umziehen, sich einrichten, sich einfinden. Sich von vorn erfinden. Anschluss suchen, Anschluss finden, den Anschluss halten und ausbauen, bis man aus den Oberflächlichkeiten herauskommt; dazu braucht es freilich nicht nur die entsprechenden Anstrengungen, sondern obendrein Glück. Möglichst einen Job finden; welchen diesmal? Bloß nicht irgendwo auf dem Weg verloren gehen. Bloß die Orientierung behalten.
Wohin jetzt mit diesen Wespen?
Hierhin, dorthin. Weiter. In den Wald.
Gute Menschen, gute Arbeit zu finden ist immer schwierig. Zu verschwinden ist ganz einfach.
Jeden Baum, Strauch und Graben nach und nach kennenzulernen und sich, unabhängig von Google Maps, die Gegend zu erschließen, sodass man stundenlang, ach, so lange wie irgend möglich querfeldein herumkommt, ohne sich zu verlaufen – im Grunde nur ein vielleicht etwas zwanghaft geratenes Ritual, um den eigenen, inneren Richtungssinn zu beschwören, nicht?
Mann und Kind haben sich eingefunden, haben Anschluss, haben Alltag. Die zurückgelassenen Freundinnen und Kolleginnen haben nach wie vor ihren Alltag. Ich rede mit allen ausgiebig über ihre Alltage, gern.
Wo muss ich meinen eigenen Alltag suchen? Statt Alltag kommen die Wespen. Ich rede gern über alle Alltage, aber nie über die Wespen.
Um mich muss sich niemand Gedanken machen, ich verschwinde seit jeher allzu leicht und liebend gern. Mir tut das gut. Andere (und das sind viele) gehen jagen oder in fragwürdige Clubs, betreiben exzessiv Sport, bringen sich vorsätzlich in Kalamitäten usw. Sollen sie ruhig. Ich verschwinde. Zumeist wegen der Wespen. Ich verschwinde mitsamt der Wespen – um ohne sie zurück zu kommen.
Natürlich komme ich jedes Mal zurück.
Natürlich ist –
Halt.
Was war da?
Ich kriege nicht gleich die Angst, wenn es mal knackt im Gebüsch, nein. Höchstens einmal die Wildschwein-Angst. (Wildschweine sind das gefährlichste, was in der Feldmark droht.) All diese Abende, an denen meine Mutter mir eintrichterte, ich müsse spätestens um zehn zurück zu Hause sein, denn es sei nachts viel zu gefährlich, allein durch die Feldmark zu radeln, zumal für Mädchen – als säße da irgendwo irgendjemand lauernd im Graben herum, um nach fünf oder zehn Stunden einsamer Warterei im Nirgendwo endlich mal zuzuschlagen, herrje, wie albern.
Da war weder Geräusch noch Geruch; es sind die Augen, die etwas „gewittert“ haben, was hier natürlich ein falscher Ausdruck ist, aber zugleich der genau richtige. Keinen Mucks machen jetzt. Horchen, schauen.
Fichten, Brombeerranken, Amselrascheln, in der Ferne eine Bundesstraße, Birken, Taubenflug, Kieferndickicht.
Hinter mir. Mit einem Ruck drehe ich mich um und sehe nun das rot-karierte Flanellhemd so klar und nah, dass ich mich glatt selbst wundere, weswegen ich nicht schreie.
Ich renne auch nicht weg, ich will das Flanellhemd nicht im Rücken haben, während ich kopflos vor ihm davon kullere wie ein gescheuchter Hühnervogel, ich habe mein Taschenmesser dabei, ich –
Der rot-karierte Mann bewegt sich gar nicht.
Für einen Moment empfinde ich gerade das als besonders bedrohlich, besonders unheilvoll. Und der Moment geht vorüber. Und der Mann bewegt sich noch immer nicht.
Na, kein Triebtäter.
Gut.
Jäger? Blödsinn.
Harmloser Pilzsammler?
Ich bleibe in Bewegung, ich schaffe vorsichtig Abstand. Der Mann steht mit geschlossenen Augen und sehr geradem Rücken einfach da, auf einem lichten Fleckchen zwischen den Kiefern, deren harzige, zottige Astwedel windbewegt um ihn herum tänzeln. Er selbst rührt sich nicht im Geringsten, er ist sein eigener Stamm, sein eigener Stein.
Die Ellbögen vom Oberkörper weggewinkelt, bilden Ellbogen, Ellbogen, Kopf ein ziemlich gleichseitiges Dreieck. Seine Hände halten seinen Brustkorb, als hielten sie ein großes Gefäß. Sie ruhen flach, besänftigend auf den unteren Rippen, genau dort, genau auf jenem Breitengrad der Brust, wo auch die Quartiere der Wespen liegen.
Was fange ich nun mit diesem Bild an? Ein schiefes Lächeln ziehen, über mein dummes Erschrockensein von eben. Und sonst? Ich frage mich, ob der Karierte mich tatsächlich gar nicht bemerkt hat. Oder ob ich ihn nicht doch in seiner Kontemplation unterbrochen habe und er nun, innerlich sehr angestrengt, über diese Störung hinwegmeditiert. Wie lange er wohl schon so dasteht? Und wie kommt er überhaupt dazu? Ich meine, sich so ins hinterste Abseits zu verkrümeln, um dort zu meditieren. Rundum einsam.
Kurz, wie geht’s ihm?
Warum gehe ich nicht näher ran, grüße, sage ganz schlicht: „Sie haben mich erschreckt, wissen Sie“? Oder, umgekehrt: „Ich möchte Sie nicht erschrecken, wissen Sie“? Woher diese Scheu, seine Ruhe zu stören? Oder geht es etwa gar nicht so sehr um seine Ruhe, sondern, umgekehrt, vielmehr um meine eigene, sorgsam gepflegte Unsichtbarkeit, die damit unterbrochen, gestört würde?
Kurz, warum frage ich nicht: „Was machen Sie so allein hier, Mensch? Wie geht’s Ihnen?“, sondern bleibe stattdessen in Bewegung, vergrößere weiterhin den Abstand, weiter, weiter, lautlos?
Bis sich das Kieferndickicht sacht winkend vor diesem Bild schließt, und ich –
Du liebe Güte, ich muss jetzt aber auch wirklich zurück! Einkaufen!


Foto: Grebe 2019

SPÄTSOMMER > Ende der Freibadsaison

Gras (2)
Die Freibäder schließen bald, und wahrscheinlich war dieser letzte über 30° heiße Augusttag wohl mein letzter Freibadtag für dieses Jahr.
Ich, die solche Hitze ja furchtbar hasst, bin selig, wenn ich mich da im Wasser abkühlen und danach reptilisch im Halbschatten ausstrecken kann. Rege Freibadgängerin bin ich allerdings erst wieder, seitdem ich nicht mehr allein, sondern mit Kind planschen gehe.
Früher, viel früher war ich selbst Freibadkind. Im Dorf gab’s ja nix – aber ein Freibad, und ein schönes noch dazu, sogar ein beheiztes: Die Abwärme der Kühlanlagen des Kalibergwerks temperierte Nichtschwimmer-, Babyplansch- und Wettkampfbecken. Hatte der Kali seine Betriebsferien ausgerufen, merkte man das an der schlagartig eisigen Badetemperatur, was zumeist passend mit den brennendsten Sommertagen zusammenfiel.
Dieses Freibad wird, wie haufenweise andere Freibäder, geschlossen werden, wenn das Geld der Kommune noch knapper wird. Momentan vernachlässigt man es gründlich, katalogisiert nach und nach seine Mängel und Gefahren und wird es irgendwann erleichtert dicht machen, nächstes Jahr vielleicht, und das war’s dann also für mein Freibad, in dessen türkisblauen Fliesen sich meine Grundschulsommer spiegelten. Morgens mit dem Fahrrad hingefahren, mal mit einer Freundin, mal allein, nur ein Handtuch und eine Flasche Brause dabei, erst spätnachmittags wieder zurückgeradelt und sich an Sattel und Lenker, die stundenlang in praller Sonne standen, die Pelle verbrannt. Und es war unser Freibad, als ich wieder zurück auf dem Dorf war, mit eigener Familie. Mein Kind mit seiner Seepferdchen-Badehose, immer ein paar Kinder aus der KiTa, der Grundschule drum herum, kreischend, gackernd. Ich mit den Mamas am Beckenrand oder auf der Picknickdecke. Schönster Provinzsommer.
Belächeln Sie das nicht! Wenn Sie Hamburger Verhältnisse gewohnt waren – all der Style um mich her im Stadtpark, auf dem Spielplatz, all die Body-Issues, die ich eigentlich gar nicht hatte und doch entwickelte – und dann kommen Sie nach Haus, in Ihr Freibad, und auf der Picknickdecke sitzen Sie mit den anderen Müttern (die Sie teils schon lange kennen, aus Vor-Muttersein-Zeiten) und die haben keine Porzellanhaut, keine streifenfreien Bäuche, keine Kleiderständermaße, ach, aber die pflegen einen solchen Umgang damit, die pflegen und verbreiten einen so unkomplizierten Pride, dass Sie nie wieder dämliche Frauenzeitschriften kaufen müssen, die Ihnen erzählen wollen, wie Body-Positivity angeblich funktioniert. Ich besitze nur noch ballermannbunte Badewäsche – eine Landei-Nixe wie aus dem Bilderbuch – und wenn’s bei Aldi mal wieder korallenrote oder tropisch blumige Bikinis für’n Fünfer gibt, kauf ich den nächsten und hüpf damit ins Wasser, völlig unfrisiert, ungeschminkt, scheiß auf den perfekten Glow, und dann habe ich einen wundervollen Tag, wissen Sie?
Auch hier haben wir nun unser Freibad, und mein zufriedenes Körpergefühl ist nicht baden gegangen, und mein Kind hat liebe Freunde gefunden, die wir gern mitnehmen (und sie uns). Ländlich gelegen, nicht ums Eck also, aber, ja: idyllisch.
Das hilft gut gegen das Heimweh. Alle Freibäder in der Provinz sind über den universellen Provinz-Freibad-Äther miteinander verbunden. Sie teilen dieselben sonnenverbrannten Liegewiesen von Rasen, Klee, Schafgarbe, Breitwegerich und Löwenzahn. Dieselbe Geräuschkulisse: Rauschen von Duschen und Wasserbewegung. Lachen, Brüllen, Mama-Papa-Rufen. Überall Gespräche, Gespräche – in Freibädern wird ja viel mehr gesprochen, als man sich bei oberflächlichem Nachdenken so einbildet. Patschende Bälle. Schwalbengeschrill. Die Wespen überm Wasser, in der Ferne, auf einmal nah am Ohr. Das Klatschen und die Wasserfontänen unterm Sprungturm. Treckersummen weht manchmal von den Feldern rüber. Dieselben Gerüche, die sehr eindeutig und sehr dominant sind: Chlor, Sonnencreme, Pommes und Petrichor. Dieselbe knallblau glasierte Keramikschale, die der Himmel ist und sich an Schönwettertagen über allem wölbt, wie eine Hand, die etwas bloßlegt, etwas beschirmt, na, beides. Die Leute, wie überall: platt auf Liegetüchern ausgestreckt, Brotlaibe, die in der Sonne backen. Die Horden der Zwölfjährigen: Halt’s Maul Missgeburt wie dumm bist du fick dich Mann fick dich Nutte!, aber ich bin nicht mehr zwölf, mich gluckert niemand mehr unter. Die Teenager: stecken noch in den Skizzen der Körper, die sie in fünf, in zehn Jahren haben werden. Die Beine haben schon Höhe erobert, die Arme schon Weite erlangt; die Dynamik ist furchtbar ungelenk, noch. Körper, die bloße Zollstöcke sind und mit jedem Schritt und Schwimmzug die unsichtbaren Hohlformen ausmessen, die noch mit unzähligen Stoffen aufzufüllen sind, nach und nach, täglich. Im Wasser und unter der Sonne das ganze Spektrum von Altersstufen, Körperkonsistenzen, Temperamenten, Hautvarianten, Haarigkeiten. Tattoos von Lakritzschwarz über Verblichenheitsgrün bis Pastellbunt. Ich sehe sehr selten Badende mit Körperbehinderungen – weil sie sich nicht wohlfühlen würden, oder wegen der unbestreitbaren Bosheit der Anderen, oder mangelnder Barrierefreiheit? Oder ist das bloße Statistik?
Ich beobachte manchmal ein Kinder-Gerangel, das dann doch zu grob wird, und schalte mich als Spielverderberin ein, aber viel öfter beobachte ich, wie leicht sich wildfremde Kinder zum Toben zusammenschließen, wie mühelos sie in gemeinsame Drehbücher oder Wettkampfregeln hineinfinden; ist schon lange her, dass ich mal helfen musste, eine geplatzte Kinderlippe zu verarzten. Unter den Erwachsenen erlebe ich seltsam selten Giftigkeiten, dabei machen die Hitze, die halbnackte Situation und die Verteilungskämpfe um Sonnenplätze, Schwimmbahnen, den Platz in der Pommes-Schlange fraglos reizbar. Es ist vielleicht wirklich die Halbnacktheit, die den Mumm zum Streiten dämpft. Ab und an muss man sich natürlich dennoch überwinden, dennoch mal was sagen, mitunter selbsternannten Blockwarten in die Parade fahren, auch wenn man sich selbst, so als nasse Katze im Blümchenbikini, nun nicht gerade respektabel vorkommen mag.
Ich trinke Thermoskannenkaffee, für die Kinder gibt’s kalten Tee, Äpfel, Cracker, manchmal Pommes für zwei Euro die Portion. Das Surfer-Hair und den Bronzeteint, die wohlige Einschlafmüdigkeit abends, das gibt es alles umsonst. Wir bezahlen hier ein paar Euro fuffzig für den ganzen Tag und zwei, drei Personen – weniger als eine Schachtel Kippen kosten würde, oder ein Royal TS, oder ein Starbucks-Coffee oder -Latte in Größe Venti.
Die finanzielle Hürde, hierherzukommen und einen Tag mit Schwimmen und Seelenbaumelei zu verbringen, ist also recht niedrig. Ich finde das wichtig. Ich finde das notwendig fürs Gemeinwesen. Freibäder, die bezahlbar sind, sind ein Stück Gemeinwohl. Nur ist eben ein Freibad, das bezahlbar ist, alles andere als eine geölte Rendite-Maschine.

Ich formuliere zwar ungern alarmistische Sätze, aber voilà: Wir sind über den Spätsommer des demokratisch erwünschten Gemeinwohls längst hinaus. Das ist kein Anflug von Gestrigkeit, ich will absolut nicht zurück in die 80er, nein danke – ich würde vielmehr gern in die 2040er schauen und ein Bild vor Augen haben, überhaupt irgendein Bild, im äußersten Idealfall ein gutes. Aber wohin sollen die laufenden Entwicklungen schon führen? Es ist so gegeben und offenbar in Stein gemeißelt, dass die Institutionen, die uns allen zur Verfügung stehen, uns dienen, uns helfen, uns guttun sollten, per se keinen Wert besitzen, solange sie nur dieses diffuse Gemeinwohl, aber keinen wirtschaftlichen Profit generieren. Bildung, medizinische Versorgung, Pflege, Lebensmittelproduktion, Infrastruktur, Umweltschutz müssen Geld abwerfen, so ist das halt, wie stellen Sie sich das denn vor – um jeden Preis natürlich, und eben auch um den Preis des Menschlichen, was nebenbei bemerkt ihren eigentlichen Kern darstellt. Darstellte… (2040 werden meine Enkelkinder vielleicht im Geschichtsunterricht davon hören, Was war der Sozialstaat?, aber vielleicht wird so was wie Geschichtsunterricht auch schon 2030 aus der Mode gekommen sein.) Und ich weiß nichts mit einer Politik anzufangen, die a) ihre Parlamentszeit offensichtlich als Bewerbungsgespräch für eine anhängige Wirtschaftskarriere nutzt, b) noch den letzten völkischen Mist aufwärmt und mit diesem Quatsch unglaublich viel mediales und politisches Interesse bindet, kurz, die offenbar ihre einzige politische Aufgabe darin sieht, ein ekelhaftes Problem zu sein, c) insgesamt keine besondere Panik zu verspüren scheint angesichts der Liste von Herausforderungen für die Zukunft: Energiewende, Verkehrswende, Pflegewende, Agrarwende – und eine Wirtschaftswende, wie könnte die aussehen? Ihnen fällt sicherlich noch die eine oder andere Wende ein, die nicht unwichtig wäre, bitte anfügen nach Belieben.
Ich wünsche mir viele Dinge für die Zukunft – keine unbescheidenen übrigens. Ich möchte zum Beispiel im Sommer mit den Kindern schwimmen gehen können, und ich wünsche mir, dass alle das tun können. Aber die einen, denen diese Dinge wurscht sind, rufen, dass ich mir doch selber ein Haus mit Garten kaufen und einen 10.000-Liter-Pool zulegen soll, anstatt zu maulen – jeder für sich, keiner für alle, Kaufen über alles. Und die anderen, denen jene Dinge genauso wurscht sind, schreien Aber die Flüchtlinge, die Flüchtlinge! und haben ansonsten keine Meinungen dazu, dabei IST das ja nicht mal eine Meinung. Und diejenigen, denen solche Dinge ausnahmsweise nicht wurscht sind, die gucken in ihre Haushaltskasse und… ja, genau.


Foto: Grebe

SPÄTSOMMER > Lack und Leben

Garten3

Sommerhitze ist wie Fieber – macht schwitzig und lähmt. Manche haben das gern. Andern ist das, wie in vormoderner Zeit, ein Begleitzeichen von Seuche und Verfall. Hitze ist Lust und/oder Leid. Hitze ist Hochdruck. Hitze ist Dringlichkeit: Trinken Sie zwei bis drei Liter täglich!, verschlingen Sie Ihr Eis sofort, sonst schmilzt es dahin und pladdert Ihnen vor den Latz!, lassen Sie niemals Kinder, Hunde, Katzen, Schokolade, Thermopapier-Kassenbelege im Auto, auch wenn Sie bloß kurz mal __!, verwenden Sie Sonnencreme!, mit besonders hohem LSF!, sonst Krebs!, behalten Sie Ihren Kreislauf im Auge!, suchen Sie umgehend medizinische Hilfe, falls Übelkeit, Nackensteifigkeit, Bewusstseinsstörungen bei Ihnen auftreten: Sonnenstichsymptome!, achten Sie auf Ihre Mitmenschen, insbesondere ältere!, und die Bienen – stellen Sie Bienentränken auf!, vergessen Sie nicht, Ihre Hortensien dreimal täglich zu wässern!, gießen Sie Gärten, gießen Sie Bäume!, nein, verschwenden Sie kein Wasser!, lassen Sie Lebensmittel nicht ungekühlt stehen, nie!, Ihr Brot, gestern gekauft: es schimmelt!, Ihre frische Melone: schon klitschig geworden, übersüßlich, belagert von Fruchtfliegen!, Ihr Kartoffelsalat: fürchten Sie Salmonellen!, und fürchten Sie die Wespen, die Wespen!

Die Hitze krakeelt! Alles schwelt, man schmort. Bis:

Im September legt sich was übers Sonnenauge. Dass es seine Lider schließe, lässt sich nicht behaupten – November ist noch fern -, doch es besitzt eine Nickhaut: feines, durchscheinendes Gewebe, welches nun seine brennende Klarheit verdeckt.
Setzen Sie sich ein Stündchen nach draußen, an die milde Luft, ins Helle, und essen Sie… in aller Ruhe… ein Eis.
Wie schmeckt Ihnen jetzt dieses Eis?
Wie fühlt es sich an, eine Stunde lang an der frischen Luft zu sitzen, nun, da diese Stunde nicht mehr vergoldet wird von Sonnenbrand?
Die Luft sitzt nicht mehr auf Ihnen drauf wie eine herrische Katze, dick und warm, sondern rührt sich wieder, rührt sich leicht und schwingend, rührt in trockenen Blättern herum.
Aber klingt dieses Geraschel nicht melancholisch?
Meine Sonnenblumen wanken, von kleinen Windböen geschüttelt. Ich glaube, sie zittern.

Wenn Sie gern Fotos knipsen, kennen Sie das: Intensives Sonnenlicht ist der schönste Goldlack. Alles leuchtet wie von innen heraus. Eine hochsommerliche Beleuchtung veredelt selbst noch die verschrumpeltsten Erdbeeren oder das verdorrteste Rosenköpfchen.
Was nun, im September, wenn auf das ganze anstrengende Gleißen die Erschöpfungsmüdigkeit folgt? Wenn bald der Goldlack ab ist?

Gerade lese ich ein schmales Gedichtbändchen: Menno Wigman, Im Sommer stinken alle Städte.
Selten hat ein Buchtitel so schamlos recht. Bei Hitze beginnt ja die ganze Zivilisationssuppe zu kochen. Aus Eckpfützen, Bordsteinrinnsalen, U-Bahn-Sitzen und dem Saum dichter Gebüsche steigen stechende Aromen empor. Der Sommer kocht allem das Mark aus den Knochen, und vor allem uns: Es brodelt binnenmenschlich. Und zwischenmenschlich sowieso.
Das ist natürlich das blanke Leben.
Beim ersten Durchlesen wundert es mich fast, in einem Gedichtband mit solchem Titel nicht ein einziges Sommerhitze-Gedicht zu finden, aber eben nur fast: Auch ohnedem ist hier alles drückend, drängend, dräuend, alles gärt und kocht. Das Leben halt.
Hier insbesondere das Leben auf der Kippe, das Leben kurz vor oder nach dem Kippen, das Leben mit Kippe, Schnaps oder Koks.

Allgemeine Raublust! Perfektion! Paarungstrieb!
(
aus: Billboards)

Es sind Abgesänge auf das Leben – das eigene, das allgemeine, das spezielle Stadtleben von Amsterdam; außerdem zwei Gedichte, die Wigman für „einsame Bestattungen“ (wo es also keine Freunde oder Angehörigen, keine sonstigen Anwesenden gibt) schrieb und dort vortrug. 33 Gedichte, die sich nichtsdestotrotz fest ans Leben krallen.

Ich kenne die Tristess von Copyshops, / von hohlen Männern mit vergilbter Tagespresse, / bebrillten Müttern mit Umzugsberichten, / den Geruch von Briefpapieren, Kontoauszügen, / Steuerformularen, Mietverträgen, / der nichtigen Tinte, die sagt, dass es uns gibt. (…) / hätt ich doch etwas Neues, etwas Neues bloß zu sagen. / Licht. Himmel. Liebe. Krankheit. Tod. / Ich kenne die Tristess von Copyshops.
(
aus: Zum Schluss)

Dies „hätt ich doch“ ist so präsent, es quillt aus wirklich jeder Zwischenzeilen-Ritze. Hätt ich doch! Was Besonderes an mir, mehr geliebt, besser Bescheid gewusst, einen Plan – hätte, wäre, könnte! Nur, helfen tut’s ja doch nicht. Mal schimpft Wigman gegen diese Vergeblichkeit an, mal lässt er sich auch sachte hineinfallen; immer hält sie ihn fest an der Hand.

Viel Geschimpfe, viel Weh. Und doch: das blanke Leben halt. Wigman starb 2018, 51jährig, und wie ich hier so sitze und ein paar seiner Gedichte lese, kommt mir in den Sinn, dass er damit unmöglich einverstanden gewesen sein kann. Wer sich so sehnt, so garstig liebt und so melancholisch pöbelt, wer sich so heiß am Leben abarbeitet… So eine Hitze ist ja purer, allerschönster Goldlack. „Und doch“, spricht da der Körper, der kranke, und fragt bald nicht mehr nach Sonnenschein.


> Menno Wigman, Im Sommer stinken alle Städte (Parasitenpresse) ist eine 2016 aufgelegte Auswahl von Gedichten aus Wigmans Werken ’s Zomers stinken alle steden (1997), Zwart als kaviaar (2001), Dit is mijn dag (2004), Mijn Naam is Legioen (2012) und Slordig met geluk (2016).


Foto: Grebe 2019

FLUGWESEN > Die Ruhe und der Sturm

Das hier ist Stadtrand. Seit Jahrzehnten. Weder die Partylaune des nahen Stadtzentrums, noch die Wildnis, die einen Steinwurf weit in entgegengesetzter Richtung beginnt, dringen durch den Backstein dieser Straßenzüge. Es mag hier und da Unkraut durch die Gehwegpflasterung schießen, und an dem einen oder anderen Laternenpfahl mögen subversive Sticker-Botschaften zu lesen sein, aber dessen ungeachtet herrschen hier, unangefochten, Ruhe und Ordnung.

Mein Garten ist klein und bietet keinen Ausblick in die Ferne. Er erinnert an einen Schuhkarton: Zwei lange Hauswände bilden gemeinsam mit den kurzen Sichtschutzwände zu den zwei Nachbargärten einen rechteckigen Kasten. Trete ich aus der Terrassentür, stoße ich nach ein paar Schritten geradeaus schon mit der Nase an die Breitseite des Nachbarhauses; nach links und rechts hin dehnt sich der Garten immerhin so weit aus, dass es Platz für Sträucher und Stauden gibt. Ich stecke eine Menge Herzblut in diese Pflanzen, denn sobald ich mich ihnen widme, vergesse ich für einen Moment, dass ich mich in einem Schuhkarton befinde.
Dieser Schuhkarton hat keinen Deckel. Da ich eben nicht, wie ich das zuvor gewohnt war, in die Landschaft hinausschauen kann, folgt mein Blick ganz von selbst dieser einzigen Schneise, die ihm offensteht, und geht zum Himmel.

Der Himmel ist weithin einsehbar. Über meinem Kopf im Garten breitet er sich so groß und so plan aus – eine aberwitzige Leinwand. Die umliegenden Häuserdächer kennen keine Höhen, man wohnt hier flach. Reines Wohnviertel. Die Straßenzüge wurden einheitlich geplant und gebaut: einige Einheiten Genossenschaftshäuser, einheitliche Bungalow-Reihen, reihenweise Reihenhäuser. Von oben besehen bilden diese Häuserreihen sicher ein markantes Muster. Und die anhängigen Gärten, die ja auch nur Reißbrettkinder sind, tun das sicher ebenso. Die Sichtbarrikaden und Revierbepflanzungen, die einen Schuhkarton wie den meinen von den anderen abgrenzen, gelten ja nur für die Bodengebundenen, wie mich. Schon in etwa zwei Metern Höhe – die Hecken, Sichtschutzwände und Bäumchen sind zumeist nicht größer, hier im Viertel – herrscht ziemlich freie Bahn, besteht ein Luftkorridor oberhalb eines grünen Bandes. Eine Flugstraße.

Der herrschende Flugverkehr mutet auf den ersten Blick chaotisch an, doch ebenso wenig wie es in der Wildnis so etwas wie Unkraut gibt, gibt es wohl auf der Flugstraße so etwas wie Irrflüge. Alles folgt einer gewissen Ordnung. Dem Boden (d.h. den Pflanzen und auch mir) am nächsten trudeln die Bienen, Hummeln, Schmetterlinge umher. Die Flugzone der Singvögel erstreckt sich bis hinauf in den höchsten Schwalbenäther. Im Garten fällt auf, dass sowohl Insekten- als auch Vogelvolk stets in Längsrichtung hindurchfliegen; es gibt starken Hin- und Gegenverkehr, aber kaum einmal schert jemand seitlich ein oder aus. Die Tendenz des Flugverkehrs, der Gartenstraße zu folgen, setzt sich in bodenfernen Flughöhen fort: Die Vögel zeichnen ihre Fluglinien an den Himmel, und diese Linien überschneiden einander und bilden, je länger man zuschaut, ein immer dicker werdendes Band – parallel zum Verlauf der Gärten. Selbst der einsame Rotmilan, der sich hier gelegentlich nach Beute umschaut, schnürt zumeist entlang der Gartenstraße durch den Himmel, den Hummeln und den Amseln folgend, geradezu wie von ihnen an einer Drachenschnur gezogen.

Es gibt solche Ordnungen, deren Bestehen man höchstens mal erkennt, wenn sie gestört werden, denn ihr eingespieltes Funktionieren macht sie gewissermaßen unsichtbar. (Wussten Sie, dass die Rauhautfledermaus offenbar jährlich, den Zugvögeln gleich, auf festen Routen über die offene Ostsee zieht? Weiß man auch erst, seitdem Forscher tote Exemplare an neuen Offshore-Windanlagen fanden und sich fragten, wie, wann und warum es ausgerechnet Fledermäuse dorthin verschlagen hatte.)

Seit einigen Wochen bin ich nun also hier. Und dieses Hiersein empfinde ich als eine recht einheitliche Substanz: hell und leicht und dabei sanft klebrig. Eine aberwitzige Portion Zuckerwatte.

Es kommt ein Samstag, für den ein kräftiges Gewitter vorhergesagt wurde. Gegen Mittag verstummen die Grashüpfer. Die Fluglinien der Vögel verlaufen auf einmal wirr, aber das nur kurz, nur in Vorbereitung ihres vollständigen Verschwindens vom Himmel. Der Himmel verliert all seine Geräusche und Regungen, auch seine weiß-blaue Musterung; er leert sich. Um sich mit Unwetter zu füllen.

Und dann ist es da: Wie eine Brandungswelle von unten, vom Boden der Meeresbucht aus betrachtet, rollt es in mein Sichtfeld hinein, dick und schwer, ganz dicht an die Dächer gepresst. Das Licht bekommt einen scharfen, schwefelgelben Stich, als brenne es durch, und so folgt denn auch sogleich Finsternis. Aus der Brandungswelle wird eine schlammfarbene Lawine, und die zieht nicht etwa geordnet, von links nach rechts durch meinen Garten: Das Unwetter kommt übers Dach angebraust und fällt von links und rechts und oben auf mich nieder. Die Wolken schäumen, brodeln, formen sich zu nassen Armen, die auf die Erde herabstoßen, pulsieren im geäderten Leuchten der Blitzschläge. Ich spüre zwar keine Sturmböen, aber die Schwere der Luft und ihren Sog und den Mahldruck der Wassermassen. Es ist eines dieser Unwetter, die sich wie ein Maul über das Land stülpen, es einspeicheln und zerkauen – ein Rottweiler von einem Gewitter. Ich bange um meine Pflanzen, die binnen Sekunden wie Brei am Boden kleben, und ich hoffe, dass gerade niemand in meinem Umkreis einen Dachschaden hat oder einen Unfall erleidet.

Aber es passiert gar nichts. Blitz und Donner nähern sich an, fallen schließlich zusammen, unter großem Getöse – und entfernen sich dann wieder von einander. Bald schon ebbt das nasse Wüten ab. Danach setzt ein lascher, aber geduldiger Nieselregen ein und sprüht den Himmel sauber; die Wolken werden heller, dünner, steigen in immer größere Höhen auf, wo sie verschlieren und schließlich verschwinden. Meine Blumen heben ihre Köpfe, als wäre nichts gewesen. Eine Amsel zischt von links nach rechts über meinen Garten.

Am Sonntag danach herrliches Wetter. Unter einem sehr hohen, sehr blauen Himmel summen die Dinge gleichförmig vor sich hin. Unaufgeregt. Bis die Sirenen schrillen.
Zwei Segelflugzeuge sind in der Luft, im heitersten Himmel, kollidiert. Eines konnte notlanden. Das andere ist direkt in der Nachbarstraße aufgeschlagen und liegt dort nun quer in einem Vorgarten – der Pilot schwer verletzt. Polizei, Feuerwehr, Rettungskräfte und Regionalreporter sind umgehend vor Ort. Auf den Fotos, die in die Presse gehen, sind das zerstörte Segelflugzeug und der zersplitterte Jägerzaun des Vorgartens abgebildet; außerdem der gepflegte Gehweg, ohne auch nur ein einziges Unkraut, was sich da durchs Pflaster drängen würde.


Foto: Grebe 2019

VERGISSMEINICH > ICH, DU, ES und WIR

Dass man umgezogen ist, merkt man ja auch daran, dass die Namen der umliegenden Nachbar-WLANs plötzlich andere sind.

Außerdem natürlich daran, dass man sich zu kümmern hat. Um, na, Dinge.

Vom Frühstückstisch aus ändere ich Daueraufträge und erledige zwei Überweisungen.
(Meine Mutter erzählte erst vorgestern am Telefon, wie empört man im Dorf darüber sei, dass nach der Sparkasse nun auch die Volksbank ihre örtliche Filiale schließe und es somit im weiteren Umfeld keine einzige Bank mehr gebe. Die Banken und die Kommunalpolitik sehen in dieser Empörung eine irgendwie rührende Rentnerschrulle. Meine Mutter selbst klang nicht rührend empört, sondern traurig.)

Das Serviceportal meines Stromanbieters weist mich darauf hin, wie bequem und einfach ich mein Anliegen online abwickeln könne. Schnell und direkt – registrieren, loslegen, fertig!
Ich registriere mich.
Für mein etwas umwegiges Anliegen finde ich keine passende Rubrik. Also doch die Servicenummer wählen.
Warteschleifenmusik loopt vor sich hin. (Eine bunte Maschine, die Erdbeer-Slushy quirlt. Im Ohr.) Mich begrüßt eine freundliche Schauspielerstimme – Vorabendseriendoktor? -, die mich durch allerlei Filter schickt: Postleitzahl, Kundennummer, Anliegen. Danach bricht eine Wartephase an, während der sich mein Fernsehdoktor loopend dafür entschuldigt, dass bislang alle Berater im Gespräch seien, sich für meine Geduld bedankt, mir verspricht, dass sich so bald wie möglich um mich gekümmert werde.
Die Frau, die schließlich meinen Anruf annimmt, weiß, dass mich die achtzehn Minuten Loopmusik und Loopgerede inzwischen völlig eingeloopt haben, und fängt mein Erschrecken über das plötzliche Umschaltknacken in der Leitung professionell auf, indem sie beruhigend, dabei zügig ihre Begrüßungsfloskeln runterspult. Ihren Namen nennt sie nicht (vielleicht hat sie’s vergessen). Ich spule meinerseits Begrüßungsfloskeln und eine Kurzbeschreibung meines Anliegens runter. Die Frau spricht mit leichtem, für mich nicht identifizierbarem Akzent. Ihr Deutsch ist grammatikalisch überkorrekt, ihre Sätze reihen Worte aneinander wie scharfkantige Bauklötze, und es kommt mir vor, als unterdrücke sie eine natürliche Sprachmelodie, indem sie ihre Stimmlage bewusst monoton halte. Sie arbeitet sich systematisch durch mein Anliegen, fragt mich Standardfragen, gibt mir Standardantworten; das klappt sehr geschmeidig. Sobald ich Nachfragen anstelle, die von einem unsichtbaren Schema abweichen, schweigt es in der Leitung über lange Zeitspannen, bis Antworten in plötzlich ungelenkem Deutsch erfolgen, in das sich auch melodische Auffälligkeiten hineingeschmuggelt haben.
Ich könnte keine Wette darauf abgeben, ob ich mit einem Callcenter in Norddeutschland verbunden bin oder einem in Bulgarien oder Indien – mein Anliegen ist jedenfalls verstanden, mein Problem behoben worden, und ein unsichtbares Schema besagt, dass unser Zweckgespräch somit beendet ist.

Welchen Unterschied hätte ich bemerkt, wenn ich dieses Telefonat ausschließlich mit einem Chatbot geführt hätte? Habe ich vielleicht mit einem –
Ich hätte keine Wartezeit gehabt.

Keine zehn Minuten nach dem Telefonat erhalte ich eine automatische SMS mit der Frage, ob mein soeben erfolgtes Gespräch mit dem Kundenservice zu meiner Zufriedenheit verlaufen sei.
Sowohl der Fernsehdoktor und die Kundenberaterin als auch die automatische SMS verwenden peinlich oft das Wort WIR.

Die Kassiererin im Supermarkt sagt Guten Tag, zieht meine Ware über den Scanner und nennt mir schließlich eine Summe. Ich zahle zumeist mit der Karte; heute lege ich einen Geldschein in den Kassenautomaten, der mein Wechselgeld sofort und fehlerfrei abgezählt ausspuckt. Weil ich mir auch nicht den Kassenbon von ihr geben lasse, besteht zwischen der Kassiererin und mir keinerlei Kontakt. Ein Namensschildchen trägt sie nicht (wahrscheinlich vergessen).

Im Baumarkt sind zwei Kassenplätze mit Kassiererinnen besetzt. Vier Kassenplätze sind Selbstbezahlterminals (nur für EC-Zahler).

Zu Hause. Das Serviceportal meiner Krankenkasse weist mich darauf hin, wie bequem und einfach ich mein Anliegen online abwickeln könne. Ich bin bereits registriert und wickle mein Anliegen bequem und einfach online ab.

Ich überlege, mich wieder mehr meinem Kleingewerbe zu widmen, d.h. einen neuen Online-Shop einzurichten.

Ich schreibe mit einem Auge auf dem Handy ein paar WhatsApps an Freunde, während ich mit dem anderen auf dem Laptop kurz mal den Newsfeed durchgucke (Tiervideos). Zwischendurch google ich herum, tippe drauflos – ich tippe „Ich ist ein anderer“ und „Der Mensch wird am Du zum Ich“ . Ich tippe auch ein paar Zeilen Blogbeitrag.

Weil ich etwas bestimmtes, was das Kind demnächst braucht, in der Stadt nicht auf Anhieb finden würde, bestelle ich’s binnen einer halben Minute im Online-Shop.

(Meinen Kaffee muss ich schon noch analog kochen.)

Danach fange ich an, die Steuererklärung zu machen. Via Elster.

Wie ich den Tag bislang verbracht habe, empfinde ganz und gar nicht als unproduktiv. Zugleich wundert es mich ganz und gar nicht, als mich irgendwann das Bedürfnis anfällt, jemanden anzurufen, um zu quatschen, vielleicht meine Mutter (schon wieder, aber warum nicht?) – das heftige Bedürfnis, jemanden zu fragen: Wie geht es Dir?

Meine Mutter hat kein WhatsApp.

Ich muss an den Laden denken, früher; an die verwitweten RentnerInnen, die einmal täglich an der Kasse standen, um einen einzelnen Klecker-Artikel zu kaufen. Und sich zu unterhalten: das Wetter, der Hund, die Baustelle, Politik, Frisuren, ein Kochrezept. Das heftige Bedürfnis, jemanden zu fragen: Gilt die Zweineunundneunzig für Cappuccino aus’m Prospekt eigentlich für diese Woche oder ab Montag erst? / Ist das nicht heiß da draußen? / Brauchen Sie vielleicht noch Kleingeld, junge Frau?

Die Einsamkeit der RentnerInnen.
Qualitativ gar nicht so anders als dreißig Minuten in der Service-Schleife. Oder zwei Stunden auf Twitter.

Ich will nicht darüber jammern, wie unpersönlich alles geworden ist im Zuge von Automatisierung und Digitalisierung. Aber ich muss. Man vergisst es so gern – Automatisierung und Digitalisierung machen einem dieses Vergessen so einfach und bequem.

Was machte man früher bloß, in Fleckeby oder Düdinghausen, wenn es dort niemandem gab, der die Jazz-Sendung im Radio-Nachtprogramm genauso liebte – und auch keinen Plattenladen weit und breit? Wenn man sich an ferne Orte wünschte, sich nach den Straßen von Toronto oder Buenos Aires sehnte, ohne Aussicht, je dorthin fliegen zu können? Wenn man gerne mal thailändisch gekocht hätte, oder karibisch? Wenn man einmal Herzlichen Glückwunsch auf Finnisch sagen wollte? Wenn man ein Klavier zu verkaufen hatte? Wenn man ohne Stadtplan nach Bonn musste? Wenn man etwas über Verhütung und andere Intimangelegenheiten wissen wollte? Wissen musste? Dringend!? Wenn man schwul war?

Man ist nicht mehr allein, seitdem wir uns gemeinsam in dieser digitalen Dimension bewegen können. Und das ist viel.

Und doch nicht genug, um nie mehr einsam sein zu müssen.

Wer kennt mich noch, und wen kenne ich noch – in diesem Raum, wo jeder jeden kennen kann? Wo das Sich-kennen keine physische Begegnung mehr voraussetzt, sondern nach Belieben online hergestellt werden kann?
Wo Datenaustausch zum Maßstab für das Sich-kennen wird, ist es, uneinholbar, das Internet selbst, das mich am besten kennt – dieses diffuse ES. Kein DU mehr. Auch nicht mehr das ICH selbst.
(„Wenn du lange genug ins Internet blickst, blickt das Internet auch in dich hinein.“ – Friedrich Nietzsche)

Das Internet, dieses körperlose, ubiquitäre ES. Eigentlich ulkig, dass man, nachdem man Glauben und Aberglauben schon so weit zurückgedrängt hatte, etwas erschuf, dessen Umfang die Kapazitäten des menschlichen Verstandes und der Sinne dermaßen überschreitet und das seinem Wesen nach, nun ja, als transzendent bezeichnet werden darf, oder nicht?

Behördliche Einrichtungen atmen schale, traurige Luft. Man verplempert Zeit, wenn man wartend diese Luft atmet. Durch Anfahrt und Rückweg verplempert man zusätzlich Zeit.
In der Behörde hat die schale Traurigkeit ein Gesicht, ist gebunden an die Möblierung, die einfallslose Bürobeleuchtung, an einen langen, erdfarbenen Flur und den V-Pullover meines zuständigen Sachbearbeiters.
Selbstverständlich freut man sich über jede Möglichkeit, solche traurig-schalen und Zeit verplempernden Angelegenheiten zu bequemisieren. Indem man Behördengänge in die Online-Dimension verlegt, erspart man sich Umstände.
Zugleich entzieht man damit der Realität eines ihrer Gesichter.

Na und? Muss es denn schade drum sein? Was sollte schon passieren, nur weil wir das eine oder andere Realitätsgesicht, das uns nicht gefällt, abschaffen und irgendwann schließlich vergessen?

Zunehmende Digitalisierung und Automatisierung bedeutet zunehmende Depersonalisierung, Anonymisierung. Das Andere, das Gegenüber – das DU also – wird allmählich unsichtbar.
Wenn jedoch das DU allmählich unsichtbar wird, bedeutet das zugleich, dass auch das ICH allmählich unsichtbar wird, denn mein ICH ist bloß das DU für einen anderen.

Ich bin inzwischen mit Elster fertig.
Im Anschluss google ich weiter herum, weil ich einem undeutlichen Gedanken nicht so recht zu Klarheit verhelfen kann. Ich suche nach einer Formel, die ihn einfasst.
„Ich ist ein anderer“ wird zumeist gelesen als das Motto eines Ich, das alles sein kann, was es will. Mir fällt auf, dass ich niemanden ausfindig machen kann, der es anders liest, nämlich im Sinne von „Der Mensch wird am Du zum Ich“.
Ohne DU kein ICH: Das ist vielleicht nicht die bequemste Formel, aber die wahrste.
Jeder Mensch lebt im anderen.

Ich bin ein simpel gestrickter Mensch. Um philosophische Konzepte kümmere ich mich nicht sonderlich, mein Mindset ist nicht das Produkt teurer Coaching-Sitzungen, religiöse oder esoterische Anwandlungen sind mir fremd.
Fragen zum Stand und zum Wesen der Dinge, zu Gott und der Welt erkläre ich mir, indem ich mir einen einzelnen Begriff vornehme, und dieser Begriff lautet „Weitergabe“. Er lässt sich gut in die Hand nehmen und durchkneten. Man kann kleine Religionen daraus machen, oder Utopien für die ganz nahe oder sehr ferne Zukunft. Man kann den Kopf des ersten wie des letzten Menschen daraus modellieren, und auch seinen eigenen. Man kann daraus Häuser formen. Oder Waffen. „Weitergabe“ ist der Begriff, der als Bestandteil in so ziemlich allen Überlegungen steckt, die mich beschäftigen – gleich, ob es um die Europawahl geht, den Syrienkrieg, den Heringssalat meiner Mutter -, denn alles ist auf die eine oder andere Weise ein Ergebnis von erfolgter Weitergabe, und alles ist Material zukünftig erfolgender Weitergabe.
Alles ICH, alles DU, alles ES und alles WIR sind Stoff von Weitergabe.
Ich bin aus all denen gemacht, die vor mir waren. Das ist einfache Genetik. Ich bin auch aus ihrem Verhalten, also aus ihren Erfahrungen und ihren Anpassungen an diese Erfahrungen gemacht – das ist Epigenetik. Ich bin außerdem aus ihren Sehnsüchten, Freuden, Ängsten und Alltäglichkeiten gemacht – das ist dann wohl Kultur. (Lassen Sie mich an dieser Stelle mit Begriffen wie „Volk“ oder „Rasse“ bloß in Ruhe. In diesem Sumpf suhle ich mich nicht, und wer das tut, weiß halt nicht, was ein „Mensch“ ist, und wird’s auch nie lernen.) In zweihundert Jahren, in achthundert Jahren und genauso in viertausend Jahren wird es (wohl noch) Menschen geben, und die werden aus all denen gemacht sein, die vor ihnen waren – auch aus mir. Sie werden auch aus meinem Verhalten, also meinen Erfahrungen und meinen Anpassungen an diese Erfahrungen gemacht sein. Und auch aus meinen Sehnsüchten, Freuden, Ängsten und Alltäglichkeiten.
Dass man als winziger, aber unweigerlicher Bestandteil in die Nachkommenden eingeht und das kleine, was man selbst ist (das Gute wie das Schlechte), auf diese Weise das Sein und des Ganzen mitgestaltet (im Guten wie im Schlechten) – das ist die einzige Füllung für Worthülsen wie Heiliger Geist und Ewiges Leben, die ich gelten lasse.
Wichtig ist: Man besteht nicht allein aus seinen Eltern und deren Eltern, und man gibt sich nicht allein an seine Kinder und deren Kinder weiter. Weitergabe schert sich nicht um Blutlinien. Jeder Mensch ist dem anderen ein Prüfstein, und wir alle bedingen einander.
Ob ich mein Gegenüber nun mag oder auch nicht, ist völlig nebensächlich: Ich erweise mich an ihm als ich selbst – im Guten wie im Schlechten.

Als was stehe ich aber da, wenn niemand mehr vor mir steht? Wer bin ich, wenn ich irgendwann nicht mehr anhand des Anderen ich selbst werden kann, sein kann, sein muss? Über zunehmende Digitalisierung und Automatisierung und das Internet nachzudenken, heißt auch, einmal gründlich über Personalpronomen nachdenken zu müssen. Wenn das Andere, das Gegenüber aus meinem Alltag verschwindet, weil es wegbequemisiert wurde, wird es immer mehr zum ES. Und zusammen mit dem DU geht auch das ICH immer weiter ins ES ein.

Wenn irgendwann das ES in uns allen ist, und wir alle bloß noch das ES sind – wer sind dann noch ICH, DU, WIR?
Wenn ich diese Personalpronomen einmal ganz vergesse, vergesse ich damit mich selbst.

VERGISSMEINICH > Alltag, Nichtsnacht

Sie kennen Müdigkeit. Verschiedenste Arten von Müdigkeit. Sie kennen Schläfrigkeit, ermattete Schlappheit oder tief, sehr tief wurzelnde Kraftlosigkeit. Sie kennen auch genügsamere, zufriedenere Arten von Erschöpfungsmüdigkeit. Viele von Ihnen kennen Mischformen der Müdigkeit, wo sie sich mit Aggressivität oder auch dumpfer Orientierungslosigkeit verbindet. Einige unter Ihnen haben Erfahrung mit jener trost- und bodenlosen Müdigkeit, die einen reell glauben macht, ein verirrtes, halb verhungertes und schließlich in sibirischer Januarkälte erfrorenes Nutzvieh zu sein.
Aber kennen Sie auch E.I.N.S.C.H.L.A.F.E.N?
Es gibt das Einschlafen vorm Fernseher, das Einschlafen mit Buch, das Einschlafen in der Bahn, dem Auto oder Flugzeug, auch das nicht ungefährliche Einschlafen in der Badewanne; es gibt das sprichwörtliche Einschlafen im Stehen, das zügige Einschlafen nach harter Arbeit oder Sport, das anspruchslose, routinierte, somit nebensächlich gewordene Einschlafen, das Einschlafen unter Alkohol- oder sonstigem Einfluss, das Einschlafen unter Bauchweh und natürlich das unruhige, unbefriedigende (weil unbefriedende) Einschlafen unter Sorgen, Sorgen, Sorgen.
E.I.N.S.C.H.L.A.F.E.N. aber ist etwas anderes.
Lichtschimmer, Farben und Gerüche um Sie her sind milde und weich. Frische Bettwäsche. Ein Kerzchen auf der Kommode spendet zart flackerndes Sonnenuntergangsleuchten. Ihnen ist warm (die übliche Kriechkälte ist restlos aus Ihren Fasern verschwunden; sowohl das Gefühl als auch die bloße Idee von Kälte sind so vollständig verschwunden, dass sich bei Ihnen nicht der kleinste Gedanke daran regt, wie kalt und klamm sich Einschlafen für gewöhnlich anfühlt), zugleich liegt ein angenehm luftiger Hauch im Raum.
Sie mögen diesen Raum. Sie haben sich darauf gefreut, hier zu schlafen; Sie haben die Wandfarbe, das neue Bett, die neuen Bettbezüge, die Bilder, Zimmerpflanzen und sparsame Deko bedachtsam (und in der seltenen, wohligen Gewissheit, sich hierbei nicht zu verschulden oder es sonstwie zu übertreiben) ausgewählt.
Sie hatten einen leichten Tag. Sie haben gelacht. Sie wurden geküsst. Sie haben etwas Gutes gekocht und gut gegessen, ohne Hast, gemeinsam mit Menschen, die Sie lieben und in deren Nähe Sie sich gesund fühlen (der Nachhall ihrer Stimmen liegt Ihnen, leise, noch im Ohr).
Durchs geöffnete Fenster hören Sie das entfernte Rauschen der Stadt und, näher, das nicht zu ungestüme Ein- und Ausatmen des Windes; nirgendwo bellt ein einsamer Hund.
Sie selbst sind nichts weiter als das sachte Pochen, das Sie mit zwei Fingerspitzen unterhalb Ihrer Daumenwurzel ertasten. (Ihr Puls, der mitunter wie eine Horde durchpreschender, um sich keilender Stiere gegen diese zwei Fingerkuppen schlägt, dann wieder flach, unrund plitschernd, wie Sand unter ihnen wegrieselt, rollt und rollt nun in unbeirrtem Takt an ihnen vorbei, flink, aber nicht getrieben, fest, aber dabei geschmeidig. Ein kleines, samtpelziges, agiles Tierchen.)
Sie fühlen sich in dieser Wohnung so wohl wie lange nicht. Ihre Lieben genauso. Es sind nicht nur die schönen Fliesen, die lichte Aufteilung des Wohnbereichs und derlei Banales: Noch ist diese Wohnung bloß ein unbeschriebener Raum. Ein freundlicher, duftiger Kokon. Und Sie leben nun darin.
All Ihre Dinge und auch Sie selbst haben inzwischen hinreichend Ihre Ordnung gefunden; Alltag bahnt sich an. (Ein freundlicher, duftiger Alltag, will man glauben.) Ruhe.
Die Kerze: Der buttergelbe Hof des Flämmchens simmert brav vor sich hin. Irgendwann wird er sich zunächst verkleinern, dann verlöschen. Sie lassen es achtlos brennen, ohne Sorge: Das Kerzchen wird sich von selbst löschen, und nichts kann Feuer fangen, nichts wird schwelen. Aufbrennen, Ausgehen, ganz folgenlos.
Halbgeschlossenen Auges schauen Sie in den Raum und spüren halbbewusst, dass Sie, indem Sie sich selbst so ganz vergessen, einmal so ganz bei sich ankommen. Sie sind ein rundgeschliffener, von sommerlicher Sonne erwärmter Stein – ach was, Sie sind Pudding! Süß wunschloser, ichloser Pudding. Nichts-Ich.
(Das, was Sie eigentlich sind und was Sie immer waren – das, was Sie also wirklich ausmacht, das liegt nach dem Umzug noch immer in diesen ein, zwei Kartons, die Sie bislang nicht ausgeräumt haben. Auf dem Dachboden. Immer sind es diese ein, zwei unausgeräumten Kartons im Oberstübchen, die beinhalten, was einen Menschen grundlegend ausmacht. Sie haben das bloß vollkommen vergessen, heute.)
Und so
S.C.H.L.A.F.E.N.
Sie schließ
lich
E.
I.
N.

HÖHENUNTERSCHIEDE > Von der Ohnmacht der ersten Person (1)

> Édouard Louis, Wer hat meinen Vater umgebracht (Fischer)


Ich muss Édouard Louis gar nicht lesen. Wozu? Ich brauche mir nicht von einem Schriftsteller erklären, schildern, begreiflich machen zu lassen, was ich aus eigenem Erleben kenne oder aus engeren Kreise erfahren kann.
Hab ich’s nötig, dass überhaupt irgendwer mir behilflich sein will, etwas zu verstehen, MICH zu verstehen? Hilfe jeglicher Art ist eh bloß Einmischung. Überflüssig. Verdächtig, scheinheilig.
Und sowieso: Was sollen denn immer diese Privatschauen, diese literarische Wühlerei in den eigenen Kinderwindeln – seinen eigenen Quatsch behält man gefälligst für sich!

Dahinter steht, ganz klar, eine dieser Maximen, die schon immer Gültigkeit besaßen für die EINFACHEN LEUTE: dieses ICH KOMME ALLEIN KLAR.
Wer unter einem ICH-KOMME-ALLEIN-KLAR-Himmel, in einem ICH-KOMME-ALLEIN-KLAR-Haus aufgewachsen ist, entwickelt seltener den Gedanken, wie wichtig für sich selbst – vielleicht sogar übergeordnet wichtig – es sein könnte, von den Dingen zu berichten, mit denen man allein klarzukommen hat. Sie erklären, schildern, begreiflich machen zu wollen.

Natürlich habe ich Édouard Louis rauf und runter gelesen und bin, wenn ich auch nicht immer auf seiner Linie liege, heilfroh, dass es ihn gibt. So geht es mir wirklich – ich sehe einen frisch erschienenen Louis irgendwo ausliegen, nehme ihn mit und denke: Ich bin froh, dass du da bist, Édouard.

Diese Art von Solidarität ist freilich abhängig vom Kontostand. Das nicht einmal 80seitige Wer hat meinen Vater umgebracht gibt es hierzulande gebunden für schlappe 16€; in Frankreich kostet das Original natürlich auch Geld.
Louis schreibt von den EINFACHEN LEUTEN bzw. der UNTERSCHICHT, und er schreibt durchaus für sie, also: in ihrem Sinne. Als Produkt richtet sich das Ganze aber gezielt an Haushalte, wo Stimmen der EINFACHEN LEUTE, der UNTERSCHICHT eher selten und vielleicht auch nur mittels eines teuren, hübschen, viel besprochenen Bändchens Prosa Eingang finden.

Es ist eine Streitschrift über herrschende Ungerechtigkeit innerhalb der französischen Gesellschaft, die, Louis zufolge, lange gewachsen und politisch legitimiert ist. Über die Arroganz der Politik gegenüber der Mittel- und Unterschicht. Über die pauschale Verächtlichmachung bestimmter Milieus durch die Eliten. Und nicht zuletzt über die Menschen jener Milieus, die unter dem Eindruck permanenter Herabwürdigungen vonseiten der Politik, Wirtschaft, Medien ihre Fähigkeit verloren haben, für sich selbst in der ersten Person zu sprechen.

Eigentlich geht es in dieser Schrift über den Vater, den man bereits aus >Das Ende von Eddy kennt, um zutiefst Privates. Wie immer, bei Louis. Aber wie immer, und nicht nur bei Louis, geht es zugleich um die klassische Frage: Wie politisch ist das Private?

Édouard Louis antwortet, indem er die Verzahnung von Politik und Privatem am Beispiel seines Vater schildert, und zwar nachdrücklich: „Die Geschichte deines Körpers ist eine Anklage der politischen Geschichte.“ Seit einem Arbeitsunfall lebt Louis‘ Vater im wahrsten Sinne mit gebrochenem Rückgrat. Nun als kraft- und nutzlos dazustehen, das ICH KOMME ALLEIN KLAR also nicht mehr erfüllen zu können, empfindet er als Schande. Die ohnehin prekäre Lage der Familie rutscht mit dem Unfall ins Elende ab. Gesundheitlich erholt sich der Vater nie, im Gegenteil arbeitet er seinen Körper, um nicht seinen schmalen Unterstützungsanspruch zu verlieren, in immer wechselnden, ungesunden Jobs zugrunde – so verlangen es die Ämter. Und die folgen den Vorgaben der Politik. „Du gehörst zu jener Kategorie von Menschen, für die die Politik einen verfrühten Tod vorgesehen hat,“ schreibt sein Sohn über ihn. Gemeint seien die Menschen, die Macron „Faulpelze“ nenne.

(Louis könnte hinzufügen, der Zustand der Vater-Sohn-Beziehung, die er beschreibe, sei eine Anklage des gesellschaftlichen Zustands. Man wird so sehr fremdbestimmt, dass man sich unweigerlich selbst fremd wird – wie soll man da Anderen nahekommen?)

Das alles haben Sie sicher schon zigmal über den neuen Louis gelesen und gehört, so oder so ähnlich.
Im Feuilleton spielen alle wieder mit. Die einen tätscheln ihren Liebling, die anderen freuen sich über neuerliche Gelegenheit, ihn als überschätzt zu deklarieren. Man zeigt sich entweder ergriffen und empfindet den Ton als berührend, als feinfühlig, poetisch. Man ist bewegt. Oder man rümpft die Nase. Man fragt, ob Louis hier nicht etwas zu übermütig den Boden der Literatur verlassen habe, ob er zu nah am Populismus operiere – Iris Radisch druckst wenigstens nicht so herum, sondern betitelt Wer hat meinen Vater umgebracht in ihrer Rezension vom 24.01. (DIE ZEIT 05/2019) direkt als „vulgärsoziologisches Pamphlet“ .

Selbstverständlich kann man der Meinung sein, Wer hat meinen Vater umgebracht sei keine Literatur mehr. Aber dann hat Louis nie welche geschrieben. Was Louis schreibt, vom Debüt an, sind stets autobiografische Schilderungen des Privaten, das sich zugleich politisch verstanden wissen will. War das je Literatur? Es war immer Politik der ersten Person.

Generell wirken sich politische Entscheidungen auf das gesellschaftliche Klima aus, und dieses Klima bestimmt, was darin gedeiht und was nicht. Für die EINFACHEN LEUTE und insbesondere für die UNTERSCHICHT gilt indessen, so Louis, dass sich politische Entscheidungen viel direkter, konkreter auf das Leben der Einzelnen auswirken.
Louis erzählt von dem Herbst, als der Zuschuss für Schulbedarf der Kinder um hundert Euro erhöht wurde – es wurde gejubelt, man fuhr gemeinsam ans Meer. „Der ganze Tag war das reinste Fest für uns.“ Ein anderer Herbst, 2017: „Emmanuel Macron nimmt den ärmsten Franzosen fünf Euro pro Monat weg […]. Seine Regierung erläutert, fünf Euro seien doch unerheblich. Sie haben keine Ahnung […]. Emmanuel Macron stiehlt dir das Essen direkt vom Teller.“
Ob man Politik so unmittelbar zu spüren bekommt oder nicht, das definiert für Louis den Unterschied zwischen Oben und Unten: „Die Herrschenden mögen sich über eine Linksregierung beklagen, sie mögen sich über eine Rechtsregierung beklagen, aber keine Regierung bereitet ihnen jemals Verdauungsprobleme, keine Regierung ruiniert ihnen jemals den Rücken, keine Regierung treibt sie jemals dazu, ans Meer zu fahren. […] Sie bestimmen die Politik, obgleich die Politik kaum Auswirkungen auf ihr Leben hat.“

„Literatur muss kämpfen, für all jene, die selbst nicht kämpfen können, die zum Stillschweigen verdammt sind“, sagt Louis. Was heißt „zum Stillschweigen verdammt“? Es heißt zum Einen, das ICH KOMME ALLEIN KLAR nicht überwinden zu können, um wirklich von sich selbst zu sprechen. Es heißt zum Anderen, dass ein Gegenüber fehlt, das sich angesprochen fühlen und zuhören würde.

Und nun? Das Feuilleton liest Louis, ist gerührt, legt ihn wieder weg. Das Feuilleton liest Louis, ist degoutiert, legt ihn wieder weg. In keinem Fall fragt das Feuilleton: Was will Louis – von uns?

Das Feuilleton deutet Louis‘ Schreiben erstaunlich einseitig aus – regelmäßig. Mit seinem Debüt räche er sich an seiner Familie für seine unglückliche Kindheit; in seinem Debüt zeige er seinen Hass auf den Vater und fände nun jedoch, in Wer hat meinen Vater umgebracht, zu einer Versöhnung mit ihm; mit Wer hat meinen Vater umgebracht schlage sich Louis, wohlgemerkt ein Bildungsemporkömmling aus dem Prekariat, medienwirksam (Gelbwestenalarm!) auf die Seite des Pöbels.
Was Louis‘ Prosa für mich ausmacht, ist dagegen gerade die Ambiguität der privaten Betrachtungen. Als Kind liebt UND hasst Louis seinen Vater (innerhalb der Familie beruht das jeweils auf Gegenseitigkeit); er wünscht, er könne mehr Zeit mit seinem Vater verbringen, UND er wünscht, der Alte würde einfach verschwinden; inzwischen, als Erwachsener, kommt er seinem Vater nah UND bleibt ihm dabei doch fremd. Louis schreibt über die Verhältnisse seiner Herkunft, ohne sie zu schonen, aber doch in aller Vielschichtigkeit.
Das Feuilleton sieht diese Vielschichtigkeit nicht oder lässt sie nicht gelten, sondern es setzt einseitige Sichtweisen einfach voraus. Es denkt: Ein unglückliches Leben ist automatisch eines, in dem man nie AUCH glücklich war. Wer einen Vater hat, der nichts taugt, muss automatisch froh sein, nicht mehr mit ihm reden zu müssen, anstatt traurig, weil er gern mehr mit ihm geredet hätte. Wer den Bildungsaufstieg geschafft hat, ist automatisch erleichtert, nicht mehr zu den Deppen zu gehören, genießt sein neues Leben und schreibt bloß noch aus Rache über früher.
Das Feuilleton denkt hier in Pauschalurteilen.

Von einer Anklage spricht Louis nie im Zusammenhang mit seiner Familie. Die einzigen Anklagen, die Louis wörtlich ausspricht, richten sich konkret an einzelne, namentlich genannte Politiker, und pauschal an die Eliten.

Natürlich darf man Wer hat meinen Vater umgebracht ein Pamphlet nennen, denn es ist ja eins – es formuliert scharf und polemisch. Zwiespalte darzulegen, relative Sichtweisen auszuarbeiten, das sind bloß schöne Hobbys, solange sie nicht bewirken, dass andernorts endlich ein Erkennen, ein Verstehen, eine Reaktion stattfinden. Und es ist genau diese Trägheit andernorts, die Louis diesmal so angriffslustig werden lässt: „Auch das habe ich bereits erzählt – aber ich muss mich doch wiederholen, wenn ich von deinem Leben erzähle, denn von einem solchen Leben will niemand hören! Man muss sich doch wiederholen, bis sie uns zuhören! Um sie zum Zuhören zu zwingen! Wir müssten doch eigentlich schreien!“
Da ist er, der Zorn.

Das Feuilleton fragt nie: Was will Louis von uns? Es fühlt sich selbst – als Organ der Bildungseliten, denen Louis eine vereinfachende und herablassende Sichtweise auf die EINFACHEN LEUTE vorwirft – nicht von Louis angesprochen.
Es fragt sich gar nicht erst, ob es in dessen Wutschrift wohl mitgemeint sein könnte.

Louis stellt dieser Wutschrift eine Art Regieanweisung voran: Wäre dies ein Theaterstück, müsse es mit einer Szene beginnen, die Vater und Sohn nebeneinander aufgestellt zeige, „in einigen Metern Abstand zueinander in einem großen, weitläufigen und leeren Raum“ . Der Sohn versuche zu seinem Vater zu sprechen, dieser könne ihn aber nicht hören; der Vater selbst spreche wiederum kein Wort.
In seinem Herkunftsroman Das Ende von Eddy beschreibt Édouard Louis, wie die von Mangel geprägten Familienverhältnisse und der trostlos-ruppige Charakter seiner Heimatgegend alles erdrückten, was nicht selbst betonhart war. Wie er mit seiner eigenen Homosexualität haderte, weil er ihretwegen aus der Norm fiel, die hier für die Leute, für ihn galt. Wie sein Vater ebenso mit ihm haderte – nicht allein deswegen, weil sein Sohn sich als schwul entpuppte, sondern zudem als begabt, interessiert, sportlich schwach, gut in der Schule.
Louis erklärt, dass er ohne sein Schwulsein, das ihn von der Norm entfernte, diese Norm gar nicht erst bewusst erkannt, geschweige denn sie je in Frage gestellt hätte. Und dass es sein Schwulsein und seine Flucht in die Bildung waren, die ihn von seinen Verwandten, besonders seinem Vater entfernten, da diese stets eins mit der Norm waren: Sie hatten die Norm nie bewusst erkannt, geschweige denn sie je in Frage gestellt. Aber den Sohn, Bruder, Cousin stellte man in Frage – und fühlte sich zugleich durch ihn arrogant in Frage gestellt.

Vom Prekariat in die Bildungsschicht aufgestiegen, behält Louis seinen Fokus bei: der einzelne Mensch vs. die Verhältnisse. Nur die Blickrichtung ist hier eine umgekehrte: Während er in Das Ende von Eddy aus eigener Perspektive erzählt, wie die Unterschicht ihm das Leben schwer machte und die Elite ihn aufnahm, berichtet er in Wer hat meinen Vater umgebracht stellvertretend für seinen Vater, wie die Unterschicht diesen prägte und die Oberschicht dessen Leben sabotierte.

Nehmen wir einmal an, Louis und sein Vater, die nebeneinander im Raum stehen und keinen Zugang zueinander finden, funktionieren, über das private Bild hinaus, auch als Gesellschaftsbild. Nehmen wir einmal an, wir sehen hier zugleich eine akademisch geprägte Schicht und eine prekäre Schicht, die sich nicht miteinander verständigen können, und der Raum, den sie teilen ist, sagen wir, Frankreich.

Nur Frankreich?