GROSSE FRAUHEIT > Auf Provinzflucht mit Judy Henske


Im Büro eines Provinz-College und später einer Quäker-Kooperative zu arbeiten, mag für viele eine erfüllende Aufgabe sein. Judy Henske teilte wohl nicht diese Zufriedenheit und schulte sich kurzerhand selbst um, von der Sekretärin zur Sängerin. Geboren wurde Judy Henske 1936 in einer Kleinstadt im Nord-Osten der USA namens Chippewa Falls/Wisconsin. Immerhin konnte der Nachbarstaat Illinois mit Chicago eine veritable Metropole als Fluchtpunkt anbieten. Aber das war für Judy Henske längst nicht alles in Sachen Fernziele: Ende der 50er Jahre zog es sie aus dem waldreichen Norden den Stränden und der Sonne Kaliforniens entgegen, wo sie in San Diego zeitweise auf einem Schiff wohnte und singend durch die Kaffeehäuser Los Angeles´ tingelte. Dort schloss sie sich Anfang der 60er einer Gesangstruppe namens Whiskey Hill Singers an, die sich jedoch bald wieder zerstreute. Henske landete auf Umwegen in Hollywood, wo sie an einer Dokumentation über die Folk-Bewegung und an Album-Aufnahmen anderer Musiker mitwirkte. Außerdem trat sie als schnell populär gewordener Side-Act in der Judy-Garland-Show auf, flog wegen ihres deftigen Humors jedoch bald wieder aus der Besetzung – so schlug sie sich also weiter als Solo-Sängerin durch. Regelmäßig ging sie für Auftritte nach New York und lernte dort Woody Allen kennen, kurze Beziehung inklusive. Der Mann, den sie später heiratete, hieß dann aber Yerry Jester, Mitglied des Modern Folk Quartet. Das Musiker-Ehepaar hielt sich mit pausenlosen, auch gemeinsamen Auftritten in New York und entlang der Ostküste über Wasser. Für eine Karriere als Entertainerin ging Henske nach Los Angeles zurück, floppte aber gründlich und wechselte wieder an die Ostküste, als Yester Ende der 60er Jahre dort einem vielversprechendem Band-Projekt namens The Lovin´ Spoonful beitrat. Parallel dazu kehrte Henske wieder ganz zur Musik zurück und nahm gemeinsam mit Yester ein Psychedelic-Folk-Album auf, das Frank Zappa auf seinem Label Straight Records verlegte. Das Ehepaar wirkte fortan als Rosebud gemeinsam weiter – bis schließlich das Ende Rosebuds und damit auch der Ehe zwischen Henske und Yester ins Haus stand, als sich Henske und der für Rosebud als Keyboarder verpflichtete Craig Doerger verliebten. Seither lebte Judy Henske weitestgehend im Privaten und trat erst ab den 90er Jahren wieder vereinzelt musikalisch auf. Obwohl ihr Einfluss mit der Zeit in Vergessenheit geriet, gilt sie als wichtige Inspirationsquelle vieler amerikanischer Schriftsteller und Musiker.

MEIN WUNDERBARER TRASH-SALON > Verschämte Lieblinge

Liebe Überzeugungs-Akademiker, an dieser Stelle sei es Euch erlaubt einen Beitrag vollkommen ungelesen zu überspringen. Wer dennoch nicht weglesen mag, begibt sich hier auf eigene Gefahr in triviale Niederungen, wo schmalzrutschige Ebenen und verfängliches Dickicht aus Plüsch und Spitzenbesatz darauf lauern, den kritischen Intellekt zur Strecke zu bringen. Entschärfend kann ich darauf hinweisen, dass diese Woche eine kurze wird – Umzugsvorbereitungen gehen vor Bloggen. Dafür werdet Ihr im Folgenden mit einer umso geballteren Portion Unterhaltungskultur befeuert. Also: Fliehet!, oder kramt bitte JETZT die Pralinen und die Gemütlichkeitsgarderobe fürs Sofa heraus.


Stufe 1 – Die historische Schmonzette


Rossetti

Menschen, Tiere, Sensationen – derzeit darf man auf dem rechtmäßigerweise bekannten und beliebten Blog Sätze und Schätze unter dem Hashtag #VerschämteLektüren ungestraft der Freude an seinen aufs Allerheimlichste verschwiegenen Lieblingen frönen, was reihenweise Stoßseufzer auslöst und gekiekste Kommentare provoziert. Sehr schön; speziell der liebevolle Beitrag von Buchpost über James Herriot, Der Doktor und das liebe Vieh löste einen hartnäckig anhaltenden und vom herbstlichen Gemütlichkeitswahn unterstützten Britishness-Anfall bei mir aus. Bezüglich eigener verschämter Lektüren äußerte ich mich in meiner unendlichen Hybris anfangs reichlich naiv: Gibt´s nicht. Peinliche Lieblingslieder? Schuldig, reihenweise – dazu stehe ich problemlos. Filme fürs Herz? Zerknirschtes Ja, allerdings mit Seltenheitswert. Heimlicher Hang zu nostalgischen Kitsch-TV-Serien? Volltreffer! Aber Banal-Literatur? Niemals…! Dann jedoch kam das Thema Historischer Roman auf den Tisch und mir schwante die Fehlerhaftigkeit meiner Selbsteinschätzung.

Der Name Ingrid Krane-Müschen steht für atemlose Spannung vor mittelalterlicher Kulisse, heimlich ins Spitzentaschentuch verdrückte Tränen der Rührung und der Trauer, mitreißende Plots im schottisch-englischen Adelsmilieu und unüberwindliche Schicksalshürden, die mit Liebe und Edelmut schließlich doch überwunden werden. Bevor sich nun jemand in Spott und Häme angesichts meiner Lieblingsschmonzettenautorin ergeht, sollte er sicherheitshalber zunächst im eigenen Regal nach ihrem Künstlernamen Ausschau halten, unter dem sie sich so erfolgreich verkauft, dass ich schlechterdings unmöglich allein mit ihren Büchern dastehen kann: Rebecca Gablé.

An langen Winterabenden oder während des beruflichen Pendelns zwischen Buchhandlung und Zuhause ließ ich mich von ihrer vieltausendseitigen Waringham-Saga vollkommen hingerissen einlullen. Als Unterhaltungsmittel taugt diese Lektüre ungemein, Frau Krane-Müschen/Gablé, unangefochtene Königin des historischen Schmökers, beherrscht ihr Handwerk souverän, gestaltet lebendige Charaktere und Settings, produziert keine Längen, verknüpft die Kapitel mit kunstvollen Cliffhangern und baut Spannung auf.

Die Familiengeschichte der Waringhams erstreckt sich über mehrere Generationen, beginnend im Jahr 1360 mit Stammvater Robin of Waringham, der in Das Lächeln der Fortuna die angekratzte Familienehre wiederherstellen muss. Als Sohn des ehemaligen Earls ist er Schikanierungen durch den Sohn des neuen Earls ausgesetzt und muss sich seinen Weg zurück in den Adels- und Ritterstand unter selbstredend größten Entbehrungen abenteuerlich erkämpfen. Angesichts solch hartnäckigen Edelmuts bleiben entflammte Damenherzen nicht aus. Weiter geht es in Die Hüter der Rose. Dort büxt John of Waringham, Sohn Robins, aus Angst davor, zwecks klerikaler Karrierevorbereitungen ins Kloster gesteckt zu werden, von Zuhause aus und setzt sich nach Westminster ab, wo er zufällig König Harry begegnet. Eine Freundschaft mit dem Königshaus, eine glanzvolle Laufbahn als Ritter während des Hundertjährigen Krieges zwischen England und Frankreich sowie zahlreiche amouröse Verwicklungen sind damit vorgezeichnet. In Das Spiel der Königemüssen sich die Waringham-Sprösslinge Julian und Blanche im Konflikt zwischen den Adelshäusern York und Lancaster für eine Seite entscheiden und geraten in fiese Intrigen, hundsgemeine Machtspielchen und dramatische Herzens-Verwirrungen. Im vierten Band, Der dunkle Thron, stellen die machtpolitischen Auswirkungen der Reformation den Waringham-Erben Nick vor die knifflige Aufgabe, seine Familie durch kluge Bündnispolitik auf die sichere Seite zu bringen – Querelen des Herzens und Vater-Tochter-Konflikte sabotieren dabei einige seiner Bemühungen.

Neben der Waringham-Saga hat Rebecca Gablé einen meterbreiten Schwung weiterer nur wärmstens zu empfehlender Historienschinken verfasst. Wie sonst auch, wenn ich beim Beitragsbild auf Ersatzabbildungen ausweiche (in diesem Fall musste es unbedingt diese betörende Rossetti-Postkarte sein), habe ich das besprochene Buch inzwischen entweder weiter verliehen oder selbst wieder zurück gegeben. Dass ich nicht einen einzigen Gablé-Roman für ein Beitragsbild vor meine Linse bekommen habe, liegt in folgendem Mechanismus begründet: Ließ ich mich dabei erwischen, eine neue Gablé zu lesen, wurde sie mir – teilweise noch bevor ich den Schlusssatz vollständig hatte lesen können – von Gablé-hungrigen Bestien aus den Händen gerissen, so dass ich heute froh bin, noch alle zehn Finger zu besitzen. Meine Mutter war die einzige unter den Raublesern, die vorher immerhin höflich um Leiherlaubnis gefragt hat. Auch Männer gehören zu den Ausleihern, in deren Regalen in einer verschämten Ecke sich nun meine Gablés finden, die ich wohl nie wieder zurück bekommen werde.

Der Winter kommt. Deckt Euch ein mit ein paar Pfund Earl Grey, holt die Blümchentassen heraus, backt ein paar Scones und blättert mal in diesem schmalzig-wonnigen Vergnügen. Ich gebe zu, ich schäme mich gar nicht so ehrlich dafür, mir diesen Schmus gegeben zu haben. Ich würd´s wieder tun.


Stufe 2 – Die chauvinistische Schmalzlocke


Im Zusammenhang mit verschämt geliebtem Unterhaltungsgut darf die Kategorie Film nicht unbesetzt bleiben. Wer an dieser Stelle eine Liebeserklärung an Tanzfilme wie Flashdance oder Dirty Dancing erwartet hätte oder eine Ode an Lovestories vom Kaliber eines Rendezvous mit Joe Black, liegt total daneben. Zwar kam ich als Kind nicht umhin mich gemeinsam mit meiner Oma durch die Sissi-Reihe zu schniefen und habe ein tatsächlich sehr ehrliches Faible für die Liebeskomödie My Big Fat Greek Wedding, doch das sind Ausnahmeerscheinungen. Bei Action-Klassikern kommen wir der Sache schon näher. Stirb Langsam und Lethal Weapon, jeweils 1-4, fragwürdiges Männlichkeitsbild inklusive (ach, wurscht, als gäbe es überhaupt irgendein nicht fragwürdiges Männlichkeitsbild): Ich liebe es! Das tun in meinem Umfeld jedoch erstaunlicherweise flächendeckend alle. Wofür mein Filmherz tatsächlich etwas verschämt schlägt, sind Roger-Moore-Filme – aber nicht irgendwelche:



Simon Templar lautet der Name des nobel gesinnten Privatdetektivs aus der britischen Kriminalreihe The Saint. Bei ungutem Allgemeinbefinden haben sich die Originalfolgen dieser Reihe mit ihrer zuerst schwarz-weißen, später herrlich übercolorierten Ästhetik als wundertätige Stimmungsaufheller erwiesen – sie teilen sich damit bei mir ihren Rang mit den ursprünglichen Teilen der Star-Wars-Trilogie (vor der digitalen Überarbeitung) und Sir David Attenboroughs sämtlichen Naturdokumentationen für die BBC. Von 1962 bis 1969 wurden in England 118 Episoden von The Saint gedreht, 39 davon liefen zwischen 1966 und 1970 unter dem Titel Simon Templar im Abendprogramm der ARD. Zwar handelt es sich hier um eine Fernsehserie, keine Kinoverfilmungen, die Einzelfolgen sind jedoch abendfüllend. Simon Templar zeigt sich darin als Kosmopolit, Snob und Charmeur. Seitdem er seine kriminelle Karriere als kultivierter Dieb, der charakterlich verkommene Reiche ausraubte, aufgegeben hat, nutzt er seine außergewöhnlichen Fähigkeiten in detektivischer Funktion. Smart, gutaussehend, weltmännisch, allein mit einem fatalen Hang zur Eitelkeit geschlagen, löst der Ausnahme-Detektiv seine Fälle mit Leichtigkeit, muss auf dem Weg zur Auflösung jedoch manche Widrigkeit über sich ergehen lassen: Er wird niedergeschlagen, eingesperrt, gefesselt, beinahe erschossen, beinahe ertränkt, betäubt, beraubt, sabotiert und dergleichen mehr. Zum Ausgleich wird der schmalzlockige Gentleman von den Damen umschwärmt, gehätschelt und geküsst.

Für Roger Moore eine perfekte Vorbereitung also auf seine Anschlussbeschäftigung als James Bond (ich überspringe hier die dazwischen liegende Serie Die Zwei, in der Moore ein Duo mit Tony Curtis bildete, weil diese nie so voll meinen Nerv traf), den er von 1973 bis 1985 in sieben Filmen verkörperte. Aus heutiger Sicht mag Sean Connery der Bond für die Ewigkeit sein, der langlebigste und finanziell erfolgreichste Bond jedoch war Roger Moore. Im Gegensatz zum von der Mod-Fashion beeinflussten Simon Templar, begab sich Moores James Bond in das modische Gefahrengebiet der 70er und 80er Jahre, das selbst auf seinen Standard-Anzug giftig übersprang: Einige frühe Anzughosen wiesen einen Hosenbeinschlag auf, später nahmen die Sakkos beige-braune Tönungen an und wurden sogar mitunter durch Wildlederblousons ersetzt. Im Ganzen sind Moores Bond-Filme, zumal aus heutiger Sicht, abgeschmackte Macho-Filme, in denen eine Alibi-Handlung halbherzig zu verschleiern versucht, dass es hier im Kern um einen Mann geht, um DEN Mann.

Von DIESEM Mann indessen fühlte und fühle ich mich keineswegs angezogen (auch nicht heimlich, nein, hier wird nicht geflunkert), und doch verbinde ich besonders mit dem Moore’schen Bond äußerst wohlige Gefühle: Zu Zeiten, in denen man das Fernsehen daheim als Kino-ähnliches Ereignis inszenierte, waren die Wiederholungen klassischer Bond-Filme die ersten Erwachsenen-Filme, die ich legalerweise anschauen durfte – im Kreise der geschlossenen Familie. Eltern und Geschwisterschaft drängten sich auf der Sofa-Landschaft aneinander, einem graugemusterten Polster-Prachtstück, das sehr geschmackssicher den Hauch der späten Bonner Republik atmete. Auf dem Tisch standen in klobigen Kristallschälchen Salzgebäck und Erdnüsse parat, Vater und Mutter tranken mitunter ein Gläschen Weißwein dazu, für uns Geschwister gab´s Vitamalz. Zunächst absolvierte man das Pflichtprogramm Tagesschau, dann dimmte man in der Stube das Licht herunter, bis die messingfarbenen Kugellampen ein angenehmenes Halbdunkel erzeugten, und stritt sich um die Verteilung der Schälchen mit Knabberkram, bis endlich der Filmvorspann begann. Und dann saß ich mittendrin im Gnickern und Gröhlen, Gekicher und manierierten Geseufze meiner älteren Schwestern, in das meine Eltern so gern einstiegen, ärgerte mich schwarz, wenn ich aufs Klo musste und damit die spannendsten Momente verpasste, kicherte manches Mal gespielt mit um zu überdecken, dass mein noch kindliches Gemüt manche Szene, die meine Schwestern losprusten ließ, nicht einzuordnen wusste, und gab mich übertrieben abgebrüht angesichts der bis zur Lächerlichkeit überzeichneten Bösewichte, die mir nichtsdestotrotz Angst machten. Seither ist der Begriff James Bond für mich ein Ausdruck für familiäre Geborgenheit. (Ab und an, wenn etwas Trost nötig ist, tauschen zum Beispiel mein Bruder und ich Nachrichten solcher Art aus: Kannst Du auch nicht schlafen? Heute Octopussy auf WDR, 1.30Uhr!)


Stufe 3 – Die herzige Pop-Hymne



Dieses Video spricht für sich – böse Zungen könnten durchaus formulieren gegen sich, doch so waren eben die Zeiten… Das ändert leider nicht das Geringste an der Aufrichtigkeit meiner nostalgisch verklärten Liebe zu diesem One-Hit-Wonder, das über prägende Jahre hinweg auf mich einwirkte, bis es dann traurigerweise spurlos aus dem Radio verschwand. Nur ein Wort – und damit gibt es dann für diese Woche auch nichts mehr drauf zu setzen: Synthesizer-Fanfaren!

LATEINAMERIKA > Perkussives Jazz-Piano: Gonzalo Rubalcaba


Als Sohn eines Pianisten und Enkel eines Komponisten kam der 1963 in Havanna geborene Gonzalo Rubalcaba von Kindheit an insbesondere mit europäischer Konzertmusik in Berührung. Er selbst wandte sich zunächst dem Schlagzeug zu, nahm später jedoch die väterliche und großväterliche Prägung auf und durchlief eine klassische Musikausbildung in den Fächern Perkussion, Klavier und Komposition. Der Einfluss auch populärer kubanischer Musik ist stark in seinem eigenwillig rhythmisch orientierten Klavierspiel spürbar. Bereits in den 1980er Jahren führten ihn Konzertreisen ins lateinamerikanische Ausland, später auch nach Europa. Dizzy Gillespie, der viele Zusammenarbeiten mit lateinamerikanischen Musikern unternahm (beispielsweise entstand gemeinsam mit Chano Pozo der Klassiker Manteca) und sich besonders gern im afrokubanischen Bereich bewegte, wurde ab Mitte der 80er zu Rubalcabas Freund und Förderer. 1990 ging Rubalcaba in die Dominikanische Republik, seit 1996 leben er und seine Familie in den USA – in Florida, wie so viele Exil-Kubaner. Zu seinen engen Wegbegleitern zählen neben Dizzy Gillespie Charlie Haden und Paul Motian, mit denen er in einem gemeinsamen Trio spielte, oder auch Jack DeJohnette und Chick Corea.


(Diesen Jazz-Standard – Autumn Leaves – in Rubalcaba-Variante mag ich auch nicht für mich behalten. Angesichts dieser Prachtbeispiele von 90er-Jahre-Herrenmode konnte ich mich allerdings erst im zweiten Anlauf so richtig auf die musikalische Ebene konzentrieren…)

KULTURSPRÜNGE > Ibrahim Maalouf


Vom Libanon nach Frankreich: Diesen Weg ging Ibrahim Maaloufs Familie, als sich ihr die Chance bot, aus dem Libanon zu fliehen, wo von 1975 bis 1990 ein verheerender Bürgerkrieg wütete. Geboren 1980 in Beirut, verbrachte Maalouf seine Schulzeit in Paris. Als Kind einer Familie von Akademikern und Künstlern kam er von klein auf mit verschiedenen musikalischen Einflüssen intensiv in Berührung, insbesondere durch seine Eltern: Seine Mutter war Pianistin, sein Vater Trompeter. Von diesem unterrichtet, begann er als Kind auf einer Piccolo-Trompete zu spielen und profilierte sich als Heranwachsender durch seine herausragende Beherrschung der Barock-Trompete. Bis heute spielt Maalouf auch auf einer individuellen Variante dieses Blechblasinstrumentes: der von seinem Vater in den 1960er Jahren erfundenen Viertelton- oder Mikroton-Trompete, die es ermöglicht, Maqams zu spielen – klassische Elemente der persisch-arabischen Musik. Bereits während seines Studiums am Renommee-trächtigen Pariser Konservatorium nahm Maalouf an einer Vielzahl internationaler Wettbewerbe Teil und gewann außergewöhnlich viele davon. Seine spezielle Prägung und Begabung spiegeln sich auch in seinen häufigen Berufungen in akademische Positionen in aller Welt, so hat er bereits Meisterklassen in Frankreich und den USA gegeben. Ebenso betätigt er sich international als Komponist, zum Beispiel in der Ausführung einer Komposition für die Brüsseler Musikfestspiele oder im Auftrag der Cinémathèque française, für die er einen Stummfilm vertonte – die Aufnahmen hierfür führten Maalouf nach New York und entstanden gemeinsam mit US-amerikanischen Jazz-Musikern. Neben seinen Zusammenarbeiten mit unterschiedlichsten Musikern auf deren Alben, unter Anderem mit Sting oder dem Mali-Blues-Duo Amadou et Mariam, hat Maalouf inzwischen mehrere eigene Alben veröffentlicht, die seine spezielle Verschmelzung klanglicher Stile zum Ausdruck bringen: Jazz, Rock, Funk, Elektro, Klassik, zeitgenössische und folkloristische arabische Musik – all dies nimmt Maalouf ganz selbstverständlich hinein in seine persönliche Ausprägung von Fusion-Jazz.

OBERFLÄCHENKULTUR > Leider wunderbar: Mac DeMarco, Salad Days


Obacht, ein Hipster-Beitrag! Von den Paradeschnöseln Phoenix als Tour-Support gebucht zu werden, kommt wohl einem zeitgeistlichen Ritterschlag gleich. Und mit seinem aktuellen Album Salad Days folgt der kanadische Singer-Songwriter Mac DeMarco denn auch Kernmotiven modischer Kulturschafferei: der unerträglichen Leichtigkeit des Seins und der Ironisierung alles Unerträglichen. Aber es nützt nichts – ich liebe dieses Album.

Bereits bei Blue Boy, und das ist Track Nummer zwei, war mir klar, ich würde Salad Days tagelang rauf und runter spielen, gleichwohl ich mich irgendwie als unrechtmäßige Besitzerin dieser Musik empfinde. Wie gut, dass dem kleinen Album (sein Umfang beträgt eine süße halbe Stunde) völlig gleichgültig ist, wo es gespielt wird, andernfalls würde es sich in unserem Bonbonfarben-freien Haushalt ohne Dreieck- oder Hirschgeweih-Gedöns wohl etwas fehl am Platz fühlen. Kein Helvetica-Schriftzug weit und breit, keine geometrischen Windspiele vorm Fenster, einzig meine originalen 90er-Jahre-Jutebeutel könnten mit Mühe ein paar Credits einheimsen. Aber egal, in besagten 90ern standen auch Beck (bezüglich DeMarcos eine beliebte Vergleichsperson für die Presse) und Henry Rollins nebeneinander in meinem CD-Regal, ob ihnen das nun gepasst hat oder nicht. Auf diesem CD-Regal lag übrigens ein ungeordneter Haufen Kassetten, auf deren buntbekritzelten Index-Zettelchen sich unter Anderem folgende Namen und Musiktitel fanden: Gerry Rafferty, Right Down the Line / The Korgis, Everybody´s Got to Learn Sometimes / Fleetwood Mac, Dreams / Al Stewart, Year of the Cat / Neil Young, Heart of Gold / Kenny Rogers, Ruby Don´t Take Your Love to Town / Pink Floyd, Time / Paul Simon, Fifty Ways to Leave Your Lover / J.J. Cale, Call Me the Breeze. In der Loveparade-Ära natürlich alles geschmackliche Todsünden, aber eben das geschmackliche Vermächtnis meiner älteren Schwestern, und von mir per Tapedeck in mühseliger Sammeltätigkeit beim Radiohören mitgeschnitten. Bis heute bekomme ich angesichts von Softpop-Perlen und 70er-Jahre-Plüschigkeit eine etwas verschämte Gänsehaut, und in den frühen 80ern fühle ich mich ohnehin kinderzimmerwohl.

Als hätte man sämtliche jener Mixtapes zusammen mit dem halben Inhalt des CD-Regals – genau: Beck, aber da waren auch Cake, Pixies, Violent Femmes, Lou Reed und enorm viel Grunge – in einem Mixer getan, so klingt Salad Days. Die abgegriffene Mixer-Metapher musste sein, nämlich der Schrammig- und Schiefigkeit des Klanges wegen: Der Sound kommt zwar urvertraut, aber auch kaputtgemacht daher, die Verzerrungseffekte klingen nach sich anbahnendem Kassettenbandsalat, schwächelnder Walkman-Batterie und dicken Kratzern auf analogen Tonträgern. Herrlich also. Natürlich legt DeMarco damit die selbe Rückbeziehungswut an den Tag, die ich andernorts als nervtötend empfinde: Die vollkommen freie Kombination aus vergangenen Stil-Elementen verbunden mit einem Basis-Paket akuter Trends ist eben der Stil der Zeit, aber solange es keine Prise Originäres darin gibt, kann man seine eklektisch gewählten Referenz-Zutaten noch so hochtourig verquirlen – etwas Eigenes entsteht dadurch doch nicht. Es ist nur so, dass die Liste von Referenzen bei diesem Album so perfekt meinen Nerv trifft, dass ich es unmöglich nicht mögen kann. Ich wünschte übrigens, eine Zeitschleife würde Blue Boy erfassen und im Jahr 1998 auf dem Soundtrack von The Big Lebowski platzieren – soviel zu der Frage, wie sehr ich vielleicht doch selbst rückbeziehungswütig bin. Erwischt.

Textlich betrachtet ist das Album eine Aneinanderreihung postpubertärer Belanglosigkeiten. Geschrieben aus Langeweile, kreisend um Pseudo-Melancholie, undramatische Herz-Wehwehchen und Alltagsstimmungen, sind die Songtexte reinster Wohlfühlkitsch. Voll in Ordnung, denke ich. Ich könnte mich auch, wie sonst, darüber ärgern, dass die kunstschaffende Oberschicht sich mal wieder selbst egal ist – für Augenblicke aber glaube ich tatsächlich, dass DeMarco einfach die kunstschaffende Oberschicht egal ist. Denn mit dem Titel Salad Days ist genau jene schlabberige Gehaltlosigkeit, das Fehlen von Biss, von Brennwert, also die inhaltliche Anspruchslosigkeit, die der Generation Y so vehement vorgeworfen wird, nicht nur perfekt ausgedrückt, sondern perfekt überzeichnet. Ist DeMarco nun ironisierender Hipster – oder doch die Ironisierung des Hipsters? Man beachte, der Mann trägt keinen Vollbart… Wie auch immer: Er steht in meinem CD-Regal. Ich weiß nicht recht, wie seine Nachbarn dort das so finden, aber der gute alte Henry Rollins hat sich mit der Zeit schon an ganz anderes gewöhnt.


 

NACHTEINSAMKEIT > Lars Danielsson, Liberetto II

Nachteinsamkeit heißt Selbstversunkenheit, der ein himmelgroßer Resonanzraum zur Verfügung steht. Der will gefüllt sein: mit Stille, mit Gedanken, mit Nachtgeräuschen, natürlich aber auch mit Musik.

Vor Kurzem erst ist das neue Album des schwedischen Jazzquartetts um Lars Danielsson erschienen: Liberetto II versammelt zwölf nachttaugliche Stücke, die trotz ihrer Zugänglichkeit nichts an Komplexität fehlen lassen. Dafür sorgt die hochkarätige Besetzung: So ist Magnus Öström, ehemals Percussionist für e.s.t., wieder im Quartett vertreten, und als Gäste beteiligen sich unter Anderem der norwegische Multiinstrumentalist Mathias Eick sowie die große dänische Jazz-Stimme Caecilie Norby. Durch viele gemischte Zusammenarbeiten sind alle am Album, nicht nur am Quartett, beteiligten Musiker längst hörbar miteinander vertraut. Diese Harmonie spiegelt sich in der Klarheit und Sättigung der für Danielsson typischen Klangfarben. Schön zum nächtlichen Begleithören.


Lars Danielsson, Liberetto II (ACT)

WHERE THE WEIRD THINGS ARE > Moondogs Reisen

Ein weites Feld der Literatur sind Lebensgeschichten, seien es fiktive oder verbürgte, bekannte oder verborgene, exemplarische oder exzentrische. In manchen Fällen wird die Literatur jedoch von der Realität rechts überholt, was die Originalität der Protagonisten und des Handlungsbogens einer Lebensgeschichte anbelangt. Einer jener Spezialfälle des Schicksals beschäftigt derzeit mein Gehör und heißt Moondog.

Geboren 1916, in der Aufbruchszeit des 20sten Jahrhunderts, verlebte Louis Thomas Hardin als Sohn eines Wanderpredigers eine vom Umherziehen geprägte Kindheit im Mittleren Westen der USA. Gestorben ist er zum Ende jenes Jahrhunderts, 1999, im „Tiefen Westen“ Deutschlands – als Moondog. Zwischen diesen Eckdaten erstreckt sich zum Einen die Entfaltung der musikalischen Neuzeit, zum Anderen die Biographie eines wunderlichen Musikers und Poeten.

Abenteuerhaftes Potential besitzen bereits seine jungen Jahre, in denen Hardin durch die Tätigkeit seines Vaters unter Anderem Kontakt zu Indianern und deren musikalischer Kultur erhält. Auch Explosionen fehlen nicht in seiner Lebensgeschichte: Der sechzehnjährige Hardin verliert bei einem tragischen Unfall mit einer Dynamitkapsel sein Augenlicht. Dieses Ereignis erweist sich wörtlich als Urknall, rückblickend bezeichnet Moondog seine Erblindung als Grundstein seiner musikalischen Entwicklung. Auf einer Blindenschule erhält er die Gelegenheit mehrere Instrumente zu erlernen. Unermüdlich vertieft er autodidaktisch seine Kenntnisse zu Kompositionslehre und Klassischer Musik, verschlingt alles, was in Blindenschrift zum Thema Musik zu beschaffen ist, und setzt schließlich eigene Werke in Blindenschrift um.

Nach Ablauf seiner Schulzeit verliert sich seine Spur für eine Weile, danach aber taucht Hardin als stadtstreichender Künstler im Big Apple auf. Selbst im von Sondernaturen bevölkerten New York der 1940er Jahre erfährt er eine stetig wachsende Aufmerksamkeit. Zum Teil ist der Zulauf, den seine Straßenauftritte finden, dem Kuriositätswert seiner Erscheinung geschuldet: Der Liebhaber europäischer Sagen – speziell fasziniert ihn die Nordische Mythologie – tritt als skurriles Wikingerwesen auf und nimmt damit bereits eine Erscheinungsform des Phantastischen vorweg, die sich erst später als eigenes Genre etablieren soll: Fantasy. Sozial isoliert ist der Sonderling allerdings nicht, er wird bald als Institution des Straßenbilds Manhattans wahrgenommen und unterhält einen regen Austausch mit Künstlern, die das kulturelle Umfeld gestalten. So ist er regelmäßiger Gast der Carnegie Hall, da er freundschaftliche Beziehungen zu Musikern der New Yorker Philharmoniker sowie deren Dirigenten pflegt. Die weitere Liste seiner künstlerischen Bekanntschaften ist lang: Arturo Toscanini, Igor Strawinski, Leonard Bernstein, Charlie Parker, Julie Andrews, Benny Goodman, Charles Mingus, Allen Ginsberg. Eine Vielzahl prominenter Größen begleitet seinen Weg, er nimmt gemeinsame Alben mit ihnen auf, gestaltet gemeinsame Lesungen, er lernt von ihnen und sie von ihm. Sein Lebenswandel bleibt davon unberührt, Moondog – so nennt er sich nach einem Hund, den er besaß, der besonders wehmütig den Mond anheulte – steht mitten im kulturellen Geschehen und lebt trotzdem für sich.

In den 1970ern verlässt Moondog Manhattan. Vor Ort kann sich niemand sein Verschwinden erklären, Moondog hat sich nirgendwo verabschiedet und keine Spuren hinterlassen, weder Freunde noch Presse wissen um seinen Verbleib. Während Paul Simon im Fernsehen Moondogs mutmaßlichen Tod bedauert, streift dieser in Deutschland umher, nachdem er vom Hessischen Rundfunk zu Bach-Konzertveranstaltungen eingeladen worden war und, ohnehin angezogen von der kontinentalen Kultur, während seines Aufenthaltes den Entschluss gefasst hat, nicht mehr in die USA zurück zu kehren. Er beginnt von Neuem ein vagabundierendes Leben, es zieht ihn von Frankfurt nach Hannover, nach Hamburg, und ihm gefallen Land und Leute. Zu seinem Stammplatz wird schließlich die Recklinghäuser Altstadt. Dort gabelt ihn eines Tages eine Studentin auf, sie hat eine seiner Aufnahmen gekauft und bietet ihm daraufhin eine Bleibemöglichkeit. Aus dem Versuch zu verstehen, was um Himmels Willen einen metropolenerfahrenen Amerikaner mit musikalischer Karriere dazu bringen mag, ein Straßendasein in der Provinz Nordrhein-Westfalens zu führen, entwickelt sich nach und nach eine Zusammenarbeit: Ilona Sommer gründet ein Label, das Moondogs Aufnahmen sammelt und vertreibt, sie organisiert und begleitet Konzertreisen und Auftritte Moondogs, agiert als Managerin und bringt darüber hinaus dem rastlosen Streuner eine sesshaftere und etwas bürgerlichere Lebensweise nahe. Nachdem sein Leben während der 1980er Jahre somit erneut auf soliderem Boden verlaufen ist, zieht es ihn für einen einzelnen Auftritt wieder zurück nach New York, des Weiteren nimmt er in England zu Beginn der 1990er ein Album auf, verankert bleibt er jedoch in Deutschland – sein Grab findet man in Münster.

LEBEN AM FLUSS > Von Vätern und Söhnen: Blues am Mississippi und am Niger

Wer Blues sagt, denkt den Mississippi mit – an wohl kaum einem anderen Ort sind Musik und Fluss so eng miteinander verbunden. Der Delta-Blues, entstanden zu Beginn des letzten Jahrhunderts, hat sich für die Entwicklung moderner Musikrichtungen als Zündfunke von unschätzbarem Wert erwiesen. In der Fortentwicklung des Neuen jedoch ging das Wissen um dessen Wurzeln weitgehend verloren. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, die den Blues hervorgebracht hatten, durchliefen grundlegende Veränderungen, es stockte dadurch auch die mündliche Tradierung des Liedguts. Neue Tonaufnahme- und Wiedergabetechniken waren noch nicht demokratisiert verfügbar. Vermutlich wäre die Vielfalt des Blues bald undokumentiert verklungen und ein großer Teil vergessen worden.

<Go and get this material while it can be found. Preserve the words and music. That’s your job.>* Mit diesen Worten wurde John Lomax von Seiten der Harvard-Universität in seiner Forschungsarbeit ermutigt, die ihn kreuz und quer durch die USA führen sollte: Die Dokumentation amerikanischer Musikfolklore. Lomax, dessen Kindheit auf der elterlichen Farm begleitet worden war von den Gesängen der Tagelöhner, befreiten Sklaven und Cowboys, hatte durch Ernteerlöse und den Verkauf seines Ponys genug Geld zusammenkratzen können um eine akademische Ausbildung zu finanzieren, die sich bald in den Kulturwissenschaftsbereich verlagern sollte, wo sie sich schließlich auf die Musikforschung konzentrierte. Beginnend mit seiner Studienzeit, sammelte Lomax über Jahrzehnte hinweg tausende von Dokumenten traditioneller amerikanischer Musik. Zunächst allein, ab den 1930er Jahren dann begleitet von seinem Sohn Alan und einem annähernd drei Zenter schweren Phonographen, begab er sich auf seine als Field Trips bekannt gewordenen Aufnahme-Reisen. Steigende akademische Anerkennung und gelegentliche Radioauftritte sorgten dafür, dass Lomax´ zunehmende Popularität teilweise auch auf die von ihm besuchten Musiker abstrahlte: Zum Beispiel beschäftigte Lomax sich intensiv mit Prison Songs – die Gefängnisse galten als Enklave ungebrochener Weitergabe traditionellen Liedguts, auch in Form der von den Chain Gangs gesungenen Work Songs – und stieß in diesem Zusammenhang auf einen ehemaligen Häftling namens Lead Belly. Diesem war als erstem Blues-Musiker eine veritable Karriere beschieden, die von Lomax durchgehend gefördert wurde. Die von Lead Belly adaptierten oder selbst geschriebenen Stücke sind ein elementarer Bestandteil der amerikanischen Musikkultur geworden. Alan Lomax setzte die Arbeit des Vaters fort, indem er einem vielleicht noch intensiveren Weg folgte. Über die USA hinaus führten ihn seine Aufnahmereisen unter anderem bis nach Haiti, Marokko, Großbritannien und auf die Bahamas. Ihn trieb die Idee an, durch das Verdeutlichen von Entwicklungszusammenhängen in regional getrennten Musiktraditionen eine Art musikalischer Internationale aufzuzeigen. Geprägt war die Musikforschung der Lomaxes jahrzehntelang von finanziellen und gesundheitlichen Widrigkeiten. Eine breite öffentliche Wertschätzung ihrer Arbeit bestand jedoch stetig. Über zehntausend Aufnahmen lagern in der Library of Congress. In digitalisierten Zeiten vereinfacht sich der Zugriff auf die Dokumentationen für die breite Öffentlichkeit. Inzwischen findet sich via Youtube eine Zusammenstellung vieler beeindruckender Aufnahmen im Alan Lomax Archive.

(*Charles Wolf and Kip Lornell, Life and Legend of Leadbelly (New York: Da Capo Press,1999), S.108)

Die Wurzeln des Blues zurückzuverfolgen, führt in letzter Konsequenz über den Ozean, den Abstammungsspuren amerikanischer Sklaven – nach Afrika. Dort hat sich derweil eine eigene Ausrichtung des Blues entwickelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Gitarre, bisher dort wenig verbreitet, ein populäres Instrument auf dem gesamten afrikanischen Kontinent. Und im Zuge verschiedener Unabhängigkeitsbewegungen vormaliger Kolonialstaaten zeigten in den 50er und 60er Jahren viele Regionen auch Mut zu ihrer musikalischen Identität. Die afrikanische Musik im Allgemeinen wurde zugänglicher für internationale Einflüsse und fand im Austausch größere Verbreitung auf dem europäischen und amerikanischen Kontinent.

Entlang des Niger zeigt sich eine ganz eigene musikalische Prägung. Den wenigsten unter uns dürften Instrumente namens Njarka, Ngoni oder Gurkel ein Begriff sein. In Verbindung mit der neu entdeckten Gitarre schufen Musiker in den Niger-Anreinerstaaten aus dem Klang jener traditionellen Instrumente und modernen Einflüssen den mittlerweile international populären Klang des Mali-Blues. Der inzwischen verstorbene Ali Farka Touré hat als zweimaliger Grammy-Gewinner unter jenen Musikern einen besonderen Status inne. Geboren am Niger und aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen, profitierte Touré in den 60er Jahren nach der Unabhängigkeit Malis von staatlichen Programmen zur Förderung lokaler Musiker. Seine erste eigene Gitarre kaufte Touré übrigens in Sofia; das Interesse an Folk-Musik erreichte in den späten 60er Jahren neue Höhen in Europa und führte auch afrikanische Musiker auf Tourneen zum Kontinent im Norden. In den 90er Jahren entstand mit dem amerikanischen Blues- und World-Musiker Ry Cooder eine Zusammenarbeit, die nicht nur Ali Farka Touré, sondern dem Mali Blues generell eine enorme internationale Aufmerksamkeit bescherte: Das Projekt Talking Timbuktu wurde mit einem Grammy geehrt und sicherte Touré auch finanziellen Erfolg. Inzwischen führt Tourés Sohn Vieux Farka Touré den musikalischen Weg seines Vaters fort und hat sich durch Auftritte in Afrika, Europa und Nordamerika als improvisationsbegabter Live-Musiker profiliert.

DAS LEBEN VON GESTERN > Die verspätete Frau Baier


Mein musikalischer Geschmack springt für gewöhnlich in zerschrammten Lederstiefeln umher, setzt sich allerdings ebenso gern am Jazzklavier nieder. Gäbe es in meiner Musikwelt diese Pole nicht – Krawallmacherei und Konzentriertheit -, wäre sie leblos und hätte nichts mit meinem Inneren zu tun. Glücklicherweise fehlt ihr die räumliche Dimension, sodass es möglich ist auf einem einzigen Speichergerät beliebige Stile unterzubringen, zwischen denen eine solche Distanz besteht, dass man andernfalls ohne Flugobjekt vielleicht nie von einem zum anderen käme.

Zwei schlichte, aber goldene Gesetze erklären alles, was auf meinem MP3-Player vor sich geht: 1. Gegensätze ziehen sich an. 2. Vielfalt ist besser als Einfalt. Sie lassen sich ebenso gut zu Rate ziehen, wenn es darum geht, ein anderes Speichermedium auszulesen – meinen Lebenslauf.  (Musik und Leben sind eben oft wesensgleich.)

Auch in Sibylle Baiers Lebensgeschichte kommt Einiges zu einander, was tektonisch betrachtet so gar nicht zusammengehört. Deutschland und die USA etwa. Weiterhin: zarte Singer-Songwriter-Stücke aus den 1970er Jahren und eine der Grunge-Zeit entsprungene Kultfigur des Independent Rock.

Es sind die späten 60er Jahre: Eine Freundin zerrt Sibylle Baier in die Welt hinaus, zwei Mädchen machen sich auf die Reise über die Alpen. Danach beginnt Sibylle damit, Songs aufzunehmen – der erste, Remember the Day, erzählt von ihrer Reise. Von 1970 – 1973 entstehen 14 Songs, die Sibylle selbst aufnimmt. Eine Stimme, eine Akustikgitarre, ein Tonbandgerät. So schlicht ihre Aufnahmemethoden sind, so klar und natürlich sind der Klang und die Atmosphäre der Stücke. Man glaubt ihnen die Ungehetztheit ihres Entstehens anzuhören, es ist eine Sammlung privater Lieder, aus dem Bedürfnis heraus geschrieben und gesungen, das eigene Leben zu begleiten, und nicht die Vorgaben von Produzenten oder Plattenfirmen zu erfüllen. Trotz kurzer Ausflüge in die Schauspielerei – in Wim Wenders´  Alice in den Städten spielt sie 1973 eine kleine Nebenrolle – orientiert Sibylle Baier sich jedoch nicht weiter beruflich im Kulturbetrieb. Auch bleiben ihre Lieder unveröffentlicht. Ihre Lebensplanung richtet sich nun nach etwas anderem aus: Wie in so vielen Biografien, verebben künstlerische Anfänge, man heiratet, man gründet eine Familie. Sibylle Baier lebt inzwischen in den USA, das Wichtigste sind ihr aber nicht etwa neue Karrierepläne, sondern ihre Kinder.

Wie verändert sich der Blick auf die eigene Mutter, wenn man Tonbänder entdeckt, die aus einem fremden Leben zu stammen scheinen und doch die vertrauteste aller Stimmen wiedergeben? Sibylle Baiers Sohn Robert, selbst Musiker, hat in den Neunziger Jahren die jahrzehntealten Tonbandaufnahmen seiner Mutter wiederbelebt, zunächst in Form einer Kleinpressung, die im weiteren Familienkreis verbreitet wurde. Mit zunehmender musikalischer Professionalisierung erreichte Robert allerdings nach und nach Kreise, die ihm wertvolle Branchenkontakte lieferten, bis es sich schließlich ergab, dass er die Aufnahmen J Mascis vorlegte. Nicht nur als Kopf von Dinosaur JR, sondern auch als Produzent von Sonic Youth hat Mascis sich seinen Status als eine der bleibenden Größen der 1990er erarbeitet. Das Ergebnis dieses Zusammentreffens war die Veröffentlichung eines Albums mit den 14 Songs von Sibylle Baier auf dem Label Orangetwin. Unter dem Titel Colour Green ist die melancholisch gefärbte Songsammlung seit 2006 lieferbar.