GRAN FUTURISMO > Ts-ts-womp-kr-womp-womp-dydydydydydy-womp-ts

Seit rund 25 Jahren produziert das aus Manchester stammende Duo Autechre Electronica. Ende nicht in Sicht – das aktuelle Album Elseq 1-5 ist seit Mai verfügbar. Über ihre Musik, die unter Verwendung von Synthesizer, Sampler, Drumcomputer und diverser Tongestaltungssoftware entsteht, sagen Autechre, sie funktioniere nach Gleichungen und Formeln.

Die Horse Lords aus Baltimore, deren drittes Album Interventions diesen April erschienen ist, produzieren ihre Musik mit anderen Methoden, aber ähnlichem Ergebnis. Verwendet werden hier Schlagzeug, Bass, Gitarre, Saxophon – handgemachte Musik also, die jedoch den Eindruck erzeugt, von elektronischem Charakter zu sein, indem sie den Klang und die Struktur repetitiver Computermusik aufweist.

Sind die Horse Lords damit nun etwa traditioneller als die guten alten Autechre – oder irgendwie doch moderner?

(Vorsicht, Strobo-Effekte:)

Sobald ich mir „Zukunftsmusik“ vorstelle, denke ich automatisch an rein elektronische Musik, die die gewohnten Klangbilder und rhythmischen Muster hinter sich gelassen hat. Ich stelle mir vor, dass sich die Musik immer weiter zu einem tonalen Abbild der zunehmend durchtechnologisierten Lebenswelt entwickeln wird. Musik, aus der zunächst die menschliche Stimme und das vom Menschen bediente Instrument als Elemente verschwinden werden, und deren Herstellung zuletzt komplett programmgesteuert vonstatten gehen wird – vom per Zufallsprinzip komponierten Basis-Loop bis zum fertigen Tonstück. Möglich vielleicht, dass es gar die allgegenwärtigen Rechenvorgänge selbst sein werden, die Musik als Nebenprodukt auswerfen, indem sie die Verarbeitung von Datensequenzen in Tonfolgen umsetzen.

Was ich mir da vorstelle – Musik auf dem Weg zum Maschinengeräusch – , ist natürlich keine Einsicht in die Zukunft, sondern beruht auf dem sehr gegenwärtigen Erleben der Digitalen Wende. In der tatsächlichen Zukunft wird man diesen Wandel vom Analogen zum Digitalen nur noch als kalten historischen Kaffee betrachten. Die zukünftige Musik wird ihre eigenen Themen, Motive und Formen finden, wird den Zeitgeist abbilden, in den sie eingebettet ist, und ein akustisches Ausdrucksventil sein für die Dinge, nach denen man sich sehnt: Wer weiß, vielleicht wird die musikalische Mode eines noch fernen Tages ja den klerikalen Chorgesang wiederbeleben, oder das gemeinschaftliche Trommeln am Lagerfeuer neu für sich entdecken?

KOPFGEBÄUDE > Tom’s House

Wer baut, vertraut. Oder: Haus bauen, Baum pflanzen, Kind zeugen. Ja ja. Man will eben einer guten Zukunft einen Ankerplatz in dieser Gegenwart einrichten. Wohin einen diese Zukunft aber führen wird, kann man nie wirklich sagen; das gilt selbst dann, wenn man, anders als ich, sie schon fest an einem Ort verankert zu haben glaubt. Ein geistiges Haus, so einen mentalen Stützpunkt, so was braucht man natürlich auch – und kann man nötigenfalls einfach mitnehmen. Planung und Pflege muss man dem allerdings ebenso angedeihen lassen; vielleicht, indem man drüber schreibt, meinetwegen auch singt. Ach, wie banal das klingt, aber: Ach, wie schön es doch ist, sich in einem Song zuhause zu fühlen:

LICHTKÖRPER UND SCHATTENWESEN > Flackertanz

Üblicherweise verheißen Kerzen, sobald sie in Songtexten angezündelt werden, brennenden Kitsch oder wächserne Pathetik. Don van Vliet aber vernichtete das eine wie das andere durch krude Fröhlichkeit. Und tut das – man könnte das als Tele-Booglarisierung bezeichnen – immer noch, inzwischen eben von irgendwo hinter der Venus aus, wo er dieses Jahr auch seinen 75.Geburtstag feierte. Die Topografie der Van Vliet´schen Innenwelt bleibt wundersam: verwunschenes Gelände, beschienen von fremden Himmelskörpern und durchzogen von Schattenschluchten, bevölkert von Fabelgetier. Dieses flackertanzende Hirn, wilde Ton- und Farbschleuder – vielleicht war die Erde auch gar nicht sein angestammter Lebensraum.

FEINDLICHE ÜBERNAHME > Geldherrschaft

Here come the puppet men with their fists
You know those backroom ghouls, 

diese düsteren Halbgötter im Geld-Olymp. Marionetten ihres Systems, aber an diesen Fäden hängen wir ja irgendwie alle, manche wenige eben an den oberen Fädenenden, die meisten an den unteren – bewegt einer weiter oben einen Arm, zappeln in der Tiefe gleich ganze Kollektive nach diesem Takt. Die Fäuste der Oberen sind natürlich schmutzig: Über Leichen zu den Sternen – so hangelt man sich hinauf.

Wie ist das eigentlich: Macht das große Geld die Menschen schlecht, oder sind es nun einmal die schlechten Menschen, die das große Geld machen? Oder ist das Ganze nur ein moderner, medialer Schauermythos, der den in die Jahre gekommenen Herren Teufel und Beelzebub ein neues Make Up verpasst: die feindliche Übernahme der Welt durch eine verdorbene Geld-Elite? Oder müssen wir uns tatsächlich sehr fürchten? Ach, und eins noch: Wer sind die, die profitieren, wenn wir das tun?

WORAUF WARTE ICH HIER? > Wartemelodie

Warten erfüllt mit Ungeduld – darin steckt, dass es etwas widerwillig zu erdulden gilt: Warten ist Passivität, ein Aussetzen der eigenen Bestimmungskraft, und das schmeckt nach Schwäche und Ausgeliefertsein. Auch zwingt es zum Erdulden des Kontrastes zwischen jener Passivität und dem plötzlich brodelnd und mächtig produktiv erscheinenden Tun ringsumher. Warten isoliert mich unangenehm von diesem Tun, und es spielt dabei keine Rolle, ob ich nun bis in eine fünf Minuten, fünf Jahre oder ganz ungewiss entfernte Zukunft in diese Blase eingeschlossen bin. Dort, im Warten, wo das eigene Tun und Bestimmen ausgesetzt sind, wurmt mich also ein Kontrollmangel. Das Gehirn, diese Kontrollmaschine, rebelliert dagegen, drückt, wenn es mangelnde Kontrolle registriert, den Alarmknopf – Ungeduld als Warnsignal. Dort nämlich, wo es nicht selbst bestimmen kann, fürchtet es Chaos. Falls Warten die Neuronen auf bestimmte Weise zum Klingen bringt, hört das Gehirn es vielleicht so:

 

 

SINN UND GEHALT > Bored to be wild*

Stumpfsinnige Arbeit unter prekären Bedingungen nagt an der seelischen Substanz. Wer das für reines Gejammer hält, war noch nie auf sie angewiesen. Von denjenigen, die an dieser Stelle an ihre Putzfrau oder ihren Paketboten denken und sich diese achselzuckend als ohnehin seelenlose Lebewesen vorstellen, mag ich gar nicht erst anfangen.

Bei allem Willen zur geistigen Selbstbehauptung, zwingt einem der tägliche, von Unsicherheit, finanzieller Knappheit und Perspektivenmangel bestimmte Existenz-Limbo irgendwann eine dauerhaft verrenkte, angespannte Haltung auf. Anstrengende Angelegenheit. Nur stempeln gehen zu müssen ist schlimmer.

Besser: Musik draus zu machen. Über das große Sinndefizit und das mickrige Gehalt. Und über deren Ursachen, Ausbreitung und Begleiterscheinungen; über High-End-Kapitalismus, Ungleichheit der Chancen, eine Kultur der Inhaltsleere, das große zwischenmenschliche Egal, Selbstentfremdung und die ständige Nähe zum Abgrund, der nur eine Kündigung entfernt liegt. Sicherlich eine ergiebige Stichwortliste für Gejammer. Besser: für Gepöbel und Gedicht.

*Titel eines Songs vom 2013er Sleaford-Mods-Album Austerity Dogs

NACHTEINSAMKEIT > Die mischtechnische Collagerei und ihr Soundtrack

Mond Sonja Grebe


Every single night / I endure the flight / Of little wings of white-flamed / Butterflies in my brain / These ideas of mine / Percolate the mind / Trickle down the spine / Swarm the belly, swelling to a blaze / That´s when the pain comes in / Like a second sceleton / Trying to fit beneath the skin / I can´t fit the feelings in / Oh every single night´s alight / With my brain (Fiona Apple, Every Single Night)


Der Tisch ist voll. Papiersammelsurium ausgebreitet, Kaffeetassen dazwischen, Acryltuben, Schmiertücher, verklebte Pinsel und noch ungebrauchte, ein Senfglas-Kleckerpott, ein altes Eiswürfelfach als Palette, die letzte Wochenzeitung schützt die Tischplatte, Scheren, Cutter, Brettchen, Klebestifte, Schwamm, angeschwärzte Zahnbürste, Klopapier, eine Leinwand liegt ständig im Weg herum, ADAC Faltkarte Norddeutschland von 1992, Brigitte von 1988, Sprühkleberdose, Kuli, Edding, Kohle, irgendwo Kekse, Fineliner, Bleistift, Spitzerspäne, Pappe, Packpapier, Geschenkpapierreste, Tonkartonstreifen, Malerkrepp, auch die Wort- und Buchstabenschnipselmappe liegt offen da, obwohl ich nichts daraus brauche – man schmeiße zuerst restlos alles auf den Tisch, so die Grundregel, erst dann lege man los.


CIMG6644

CIMG6646

CIMG6648


Musik muss laufen – ich will jetzt ja nicht lesen, sondern das Gegenteil davon. Nachts, beim Bildermachen, höre ich gern Hysterisches, Theatralisches, Schrulliges. Ich habe da so ein Faible für fiebrighirnige Frauen, die ihre Stimmen und Instrumente überlasten. Es lassen sich auch ganze Nächte mit Modest Mouse bestreiten. Völlig begeistert habe ich zuletzt David Fiuczynskis Planet MicroJam gehört, Microtonaler Jazz, bis mir davon reell schwindelig in der Magengegend wurde. Klassisch Waits Bone Machine und Beefhearts Shiny Beast gehen immer. Soundfrickler wie Tortoise und Labradford allerdings genauso, dazu ein bisschen The Notwist, Autechre, Radiohead und UNKLE. Gelegentlich unvermeidbar: Pink Floyd. Mit Alban Darche, Henri Texier oder Ibrahim Maalouf geht es eher schon gegen Frühmorgen.



My heart´s made of parts of all that’s surround me / And that´s why the devil just can´t get around me / Every single night´s alright / Every single night´s a fight / And every single fight´s alright / With my brain (Fiona Apple,Every single night)


Ein Abschnitt, ein Bild, zwei Bilder – am Ende wird immer etwas fertig. Kann sein, dass es taugt, kann sein, dass es in den Müll geht. Kann sein, dass ich etwas wieder aus dem Müll heraus fische, weil es doch noch für irgendetwas brauchbar ist.

Jedes Fertigwerden ist schön, eigentlich aber traurig. Und jetzt muss ich auch noch aufräumen.


Bilder: Mondnacht; Nachttisch-Fotos (Grebe, 2015)

NACHTEINSAMKEIT > Michael Wollnys Nachtmusiken

Der Wechsel vom September zum Oktober: Zeit des Hummeltods, das Flügelgesplirr der Libellen verstummt, aus den Kehlen dahinziehender Gänseschwärme klingt es zum Abschied wie aus rauen Klarinetten, der Froschwinterschlaf beginnt bald und die meeresrauschenden Pappelblätter werden nach und nach zu Bodenlaub. In die stille Bresche, die der Herbst schlägt, springen der tockende Fall der Eicheln und Kastanien, Regenplippeln, das zahnlose Schmatzen von Nasserde. Danach, später, stecke ich in der Wintertaubheit. Erst im Frühjahr höre ich wieder klar.

Früher einmal war die dunkle Jahreszeit die von fernem Wolfsgeheul und nahem Kaminprasseln. An Vergangenes, leicht Schauergemütliches, an die Romantik und ihre Dunkelheitsliebe erinnert mich Der Wanderer, der auf Michael Wollnys Album Nachtfahrten zu finden ist, das heute erscheint. Wollny (Klavier) und sein langjähriger Begleiter Eric Schaefer (Schlagzeug) haben die wechselnde Bassistenrolle im Trio dieses Mal mit Christian Weber besetzt. Anders als beim zuletzt erschienenen Weltentraum mit seinem zeitweiligen Popsong-Nachgeschmack, klingen die Hörproben zu Nachtfahrten (beides ACTmusic) danach, als sei der Ton hier etwas getragener, etwas klassischer – ich kann´s mir gut vorstellen als Herbst- und Winternachtmusik.



Michael Wollny (geb. 1978 in Schweinfurt) tourte bereits als Zwanzigjähriger als Konzertpianist umher und arbeitete fortan mit einer Vielzahl profilierter Jazz-Musiker wie Hubert Winter, Heinz Sauer und Nils Landgren zusammen. Neben kommerziellem Erfolg, sicherten ihm sowohl diese und weitere Ko-Produktionen als auch die Aufnahmen mit seinem eigenen Trio diverse Preise und Stipendien. Inzwischen lebt Wollny in Leipzig, wo er als Professor an der Hochschule für Musik und Theater tätig ist.


Jazznight mit Michael Wollny Trio, Nils Landgren, Lars Danielsson, Laeiszhalle Hamburg, 2014 - war schön
Jazznight mit Michael Wollny Trio, Nils Landgren, Lars Danielsson, Laeiszhalle Hamburg, 2014 – war schön

(Das Schlagwort NACHTEINSAMKEIT übrigens habe ich noch einmal aufgegriffen, nachdem es mir bereits letztes Jahr im Oktober als roter Faden diente. Manchen Schlagwörtern, dachte ich, kann ich ja mal wieder einen Besuch abstatten, sobald sich  – wie hier – neue Beladung für sie angesammelt hat.)

ZUSAMMENSETZUNGEN > Joshua Redman +


The Bad Plus – ich mag dieses Trio aus Perfektspielern, und doch wäre es mir gelegentlich lieber, wären sie etwas weniger perfekt. Ursprünglich aus Minneapolis, später in New York ansässig, inzwischen gefühlt permanent in der Welt unterwegs, kennen Ethan Iverson (Klavier), Reid Anderson (Bass) und Dave King (Schlagzeug) einander bereits ewig und offen-, da hörbar, so gut, dass ihr blindverständiges Zusammenspiel sich auch live schlicht makellos zeigt. Womit ich nie viel anfangen konnte, sind ihre vielfältigen Bearbeitungen von Rock- und Pop-Klassikern, in denen sich zur technischen Sauberkeit eine thematische gesellt – da langweile ich mich. Ihr 2012er Album Made Possible (eOne-Music) gefällt mir dagegen sehr.

Mit Joshua Redman (Saxophon) haben sich The Bad Plus mit einem weiteren musikalischen Vollroutinier zu einem gemeinsamen Album zusammengetan: Auf The Bad Plus Joshua Redman (Nonesuch), erschienen diesen Mai, ergibt sich aus Redmans müheloser Wirbeligkeit und der Formklarheit, die die Stücke von The Bad Plus auszeichnet, ein einheitlicher Stil, der sich nicht anhören lässt, dass er einem Sonderprojekt entsprungen ist. Das liegt auch daran, dass Redman und The Bad Plus bereits seit ein paar Jahren zu recht regelmäßigen Gelegenheiten gemeinsame Live-Auftritte geben. Bislang begleitete Redman das Trio dabei als Gast, gespielt wurden Stücke aus dem TBP-Repertoire. Für das Album wurde nun auch gemeinsam komponiert. Das Spektrum, das sich dort auftut, reicht von milder Melancholie (Lack The Faith But Not The Wine) bis zur Tumultuosität (Faith Through Error). Im Ganzen betrachtet, erweist sich eine jeweils klare Melodielinie, die immer aufs Neue überraschende Brechungen erfährt, als tragendes Stilmittel der neun eigenwilligen Stücke auf diesem Album.

Es wäre zu mühsam, hier eine Auflistung derer machen zu wollen, mit denen Joshua Redman im Laufe seiner etwa 25jährigen Musikerkarriere bereits gemeinsame Auftritte oder Studioaufnahmen unternommen hat. Ehrlich. Deshalb hier nur noch ein zweites Beispiel für seine hohe musikalische Bindungsfreudigkeit: In einer von ihm als Double Trio bezeichneten Besetzung spielte er bereits das großbuchstabig-WUNDERBARE 2009er Album Compass ein, gemeinsam mit dem großartigen Brian Blade (Schlagzeug), Gregory Hutchinson (dito), Larry Grenadier (Bass) und Reuben Rogers (dito). Beim folgenden Barracudas wurden Redman, Rogers und Hutchinson von Matt Penman (Bass) und Bill Stewart (Schlagzeug) begleitet.

OSTWÄRTS > Ungarn, anders

Manche Stücke der Budapester Band Jü ließen sich am besten beschreiben als Fortsetzung des Rock mit den Mitteln des Jazz. Nicht von ungefähr nahm das Trio 2014 ein gemeinsames Album mit dem norwegischen Jazz-Saxophonisten Kjetil Møster auf (Jü Meets Møster, erschienen auf Rare Noise – reinhören hier). Ebenso gehen die Bandmitglieder mit anderen Formationen, die sich mal im klassischen Free Jazz, mal im Bereich Metal bewegen – selbst Reggae-Experimente werden nicht ausgelassen und eröffnen erstaunliche Möglichkeiten -, zwischenzeitlich Verbindungen ein, rotieren so durch unterschiedlichste musikalische Ausrichtungen und Techniken und sammeln dort Zutaten ihrer eigenen Musik. Die hört sich mitunter auch mal geduldig-dahintreibend an: