ANS EINGEMACHTE > Persistence

Die Sommerferien sind vorbei.
Kein hitziger Freibad-Sommer war das, aber doch eine zähe, unbewegliche, plattgedrückte Zeit; in jedem Jahr verfalle ich in solche Sommerstarre, es ist einfach nicht meine Jahreszeit.
Keine Reise. Viel Wandern, einmal Wattwandern, sonst keine sonderlichen Ausflüge. An den verregneten Tagen erinnerten mich diese trägen Ferien ausgesprochen deutlich an meine eigenen Schulferien – in den 90ern – , was kein Zufall ist, wo ich doch neuerdings mit Kind und Mann in meinem Elternhaus wohne. (Das sollten Sie nicht etwa als einen Rückzug in meine heile Kindheitswelt missverstehen. Hier gibt’s bloß einen Haufen Arbeit.) Neben der räumlichen Nähe besteht auch qualitative Ähnlichkeit: Ferien bedeuteten für mich als Kind, die Zeit totzuschlagen. Mich irgendwie zu beschäftigen. Keine – ich wiederhole: keine – Termine zu haben. In meiner Kindheit ging man, ganz wie in pandemiebewussten Zeiten, auch nicht einfach Leute besuchen, in Restaurants oder Museen, es gab kaum Sport-, keine Unterhaltungsangebote vor Ort, hier in der Provinz, und für mich auch keine Spielbesuche. Es war nichts los. Gar nichts. Und in den Ferien noch weniger als das.
Nie bin ich anfälliger für gemütskranke Schübe als im Sommer.
Meine Jobsuche: keine interessanten Stellen, zwei Absagen.
(Immerhin macht mir, wie gesagt, das Haus zu viel Arbeit, um sagen zu können, ich hätte Langeweile. Aber nicht die Art von Arbeit, um sagen zu können, ich hätte eine Aufgabe.)
Ich bin heilfroh, dass mein Kind nach dem Umzug hierher gut anknüpfen konnte an alte Freundschaften, auch neue dazugewonnen hat und nach den ersten Schultagen als Fünftklässler glücklich über die neue Schule ist. Das ist meine Pandemietaktik: Grundlagen definieren, die gesichert sein müssen – Kind glücklich, Mann gesund – , und allem übrigen einfach seinen Lauf lassen. Dankbar sein. Nicht nölen.
Ich bin tatsächlich dankbar, es könnte uns tatsächlich schlechter gehen. Es ging uns schon schlechter.
Ob der Bläserkurs in der Schule, für den sich mein Sohn eingetragen hatte und den er kaum erwarten kann, einigermaßen stattfinden kann, muss sich zeigen. Ich wäre schon zufrieden, wenn wir nicht nach den ersten paar Schultagen direkt in die erste Quarantäne wandern.
Anfangs habe ich mich lustig gemacht über solche Leute, die es nicht aushalten können, wenn ihr Alltags-Einerlei ausnahmsweise einmal nicht nach Plan verläuft. Ich selber kann Alltag nicht gut; in kritischen Lagen bin ich viel, sagen wir mal, funktionaler. Aber jetzt, da das Auf und Ab mit der Pandemie zum Alltags-Einerlei geworden ist – da geht es mir reell ans Eingemachte.
Die kleine Stereoanlage in meiner Küche spielt pausenlos Nachrichten, Features und Musik ab, weil Geräusche die Decken davon abhalten, mir auf den Kopf zu fallen. Vor einer Weile habe ich mir mal eine neue CD bestellt (ich gönne mir das selten), die ich inzwischen schlechterdings als mein Pandemie-Album bezeichnen muss; erschienen war es schon 2019, lief für mich aber erst unter Lockdown-Bedingungen zu Idealform auf und schmiert seitdem quasi täglich seine klebrigen Melodien an meine Wände. Bowman Trio, Persistence. Drei Finnen mit Trompete, Bass und Schlagzeug. Das ist sehr hörbarer, dabei aber kein glatter Jazz: zähe, trottende Dynamik, in der es ab und an unrund stolpert. Manchmal versucht die Trompete, ein Stück auf Trab zu bringen, dann aber geht ihr doch die Puste aus und sie legt sich müde hin – allerdings nie endgültig, sie berappelt sich immer wieder. Persistence heißt ja so viel wie Beharrlichkeit, und das passt denn auch zu diesem Album, dessen Ton häufig kurz davor scheint, vor Entkräftung dahinzusiechen, und gleichzeitig einfach nicht totzukriegen ist; bestechend perfekt also auch sein atmosphärischer Einklang mit meinem Alltags-Einerlei.
Besonders das Titelstück ist ein Ohrwurm, der mich seit Monaten verfolgt: ein unauffälliges, aber unerbittliches Stück. Manchmal, wissen Sie, da stelle ich mir schaudernd vor, wie es gespielt vom Bläserorchester meines Kindes klingen würde, in einem oder zwei Jahren, ein jedes Kind mit seiner Trompete oder Posaune zugeschaltet von zuhause via IServ-Videokonferenz.

PUBERTÄT REVISITED > Eddie, Chris

Nachdem mein treues Küchenradio endgültig seinen Geist aufgegeben hatte, wurde mir letztens zum Geburtstag ein Radio inklusive CD-Player geschenkt.

Mein Notebook hat ein CD-Laufwerk, aber das ist nicht dasselbe, klar. Mein altes Auto besaß seinerzeit einen CD-Player, im Kindertaxi liefen zumeist Hörspiele und einigermaßen kindertaugliche Musik, nur auf meinen kurzen Pendelwegen zur Arbeit blökten mit Vorliebe die Sleaford Mods aus den Boxen. Der Großteil meiner CDs aber ging binnen der letzten 15 Jahre bloß durch meine Hände, wenn ich sie wieder einmal aus einem Schrank in Umzugskartons und aus Umzugskartons in einen Schrank räumte.

Ich besitze nun also wieder einen CD-Player, einen richtigen. Ich nehme meine CDs heute nicht aus dem Schrank, um sie in Kartons zu legen, sondern um sie zu hören.

Natürlich fühle ich mich dabei alt.

Nicht, dass ich keine neueren Alben im CD-Format besäße – nur greife ich, sobald ich den Schrank öffne, blindlings zu den alten, den verschlissenen, den meistgehörten. Das sind die meistberührten, eindeutig, und die haben dieses tausendfache Anfassen in sich gespeichert, sodass ich, wenn ich sie jetzt anfasse, zugleich den Griff meiner früheren Hand in den Fingern spüre, und näher kommt man der vergangenen Haut, in der man einmal steckte, nur schwerlich.

Zum 12. Geburtstag wurde mir ein eigener CD-Player mit Kassettendeck geschenkt, nachdem ich von Schwester 2 immer öfter den verdienten Ärger dafür bekommen hatte, heimlich den heiligen Plattenschrank im heiligen Großeschwesterzimmer zu durchwühlen. Abgesehen von diesen kurzen Ausflügen in die Vinylschatzkammer war ich kein Schallplattenkind und empfinde wenig Sehnsucht nach diesem Format – mein Nostalgieträger ist eben die profane kleine Schwester, die CD.

Während ich eine alte CD ins neue Gerät einlege, gilt mein erster Gedanke der Unvernetztheit dieser Aktion: Kein offener, kein heimlicher Datentransfer – die auf mich zugeschnittenen Online-Inhalte und Werbeanzeigen wissen nichts davon, was ich hier tue, wer mich gerade entertaint, ob und wie mir das gefällt. Das fühlt sich angenehm klandestin an. Ach, fast schon kriminell!

Mein zweiter Gedanke gilt der historischen Note der Sache. Ich besitze natürlich keine Raritäten, nichts aus objektiver Sicht wertvolles, ich horte Massenware, aber eben die spiegelt einen gewissen Zeitgeist. Und nicht bloß die Gegenstände der Zeit geben mir zu denken, sondern insbesondere die Abstände an Zeit. Die meisten CDs kaufte, tauschte oder lieh ich mir so 1996, 1997 zusammen – erschienen waren die liebsten Herzensalben zwischen 1992 und 1997. Heißt also, dass sie heute im Durchschnitt ein Vierteljahrhundert alt sind. Gute Güte! Wenn ich 1996, 1997 ein Album hörte, das rund ein Vierteljahrhundert alt war, dann waren das Alben wie „L.A. Woman“ von den Doors, „Pearl“ von Janis Joplin, „The Dark Side of the Moon“ von Pink Floyd usw. Es ist derweil so: Es war früher schwer vorstellbar für mich, dass es, eine Generation über mir, Leute gab, für die solche Schallplattengespenster wie Janis Joplin, Jimi Hendrik oder Robert Plant einst als vor-ikonische Menschen existiert hatten. Ich denke, dass es heute für meinen ältesten Neffen ebenso schwer vorstellbar ist, dass es, eine Generation über ihm, Leute gibt, für die solche Retro-Objekte wie Kurt Cobain und Konsorten einst als vor-ikonische Menschen existiert haben. …Es ist überhaupt schwer vorstellbar für mich, dass es eine Generation unter mir gibt, oder, na, eher schon zwei.

Drittens beschäftigt mich dann die Qualität dessen, was ich da höre. Das ist mitunter ernüchternd; manch bombastische Nummer erweist sich, nach Abzug meiner jugendlichen Begeisterungsleistung, als echter Schrott. Manche Stücke sind echter Schrott, keine Frage, aber zugleich große Liebe. Manche sind einfach über die Jahre verbrannt – das liegt nicht an ihnen, sondern ich habe schlicht keinen Zugang mehr zu ihnen, keine Verwendung mehr für sie, ich kann nicht einmal mehr nostalgische Impulse aus der Asche ziehen. Andere wiederum sind über die Jahre gewachsen und klingen erst jetzt wirklich, wirklich groß.

Lachen sie nicht – meine existenziellsten Alben sind nach wie vor und auf ewig „Vitalogy“ von Pearl Jam und „Superunknown“ von Soundgarden. Pearl Jam und Soundgarden, Eddie Vedder und Chris Cornell: Der Klang eines zu großen, warmen Sweatshirts, das mir von einem Freund über den Kopf gezogen wird, weil mir kalt ist; die Stimmen sonnenverbrannter Wiesen im Juli, herbstgelber Pappelreihen, bekritzelter Bushaltestellenhäuschen und heimlicher Zigaretten, von Heft- und Bücherstapeln auf einem falschen Orientteppich, von verwaschenen Jeans, Haartönungen, Kajal und Klimperarmbändern, von Klassenräumen und Jugendzimmern.

Vorhin drehte sich hier „Down on the Upside“ von Soundgarden, was ich zwischenzeitlich immer mal wieder gehört hatte, aber nie im Ganzen, bloß einzelne Songs daraus, und mir fiel dabei auf, wie arg ich es vermisse, ein Musikalbum (samt der womöglich weniger geliebten Songs) als eine feste zeitliche und auch feste klangliche Einheit zu verstehen. Danach habe ich „Ten“ von Pearl Jam eingelegt, dem ich, analog wie digital, eigentlich lieber aus dem Weg ging – nachdem ich als Dreizehnjährige quasi nichts anderes hören konnte, konnte ich’s danach nicht mehr hören, Sie kennen das sicher. Wie gut ich dieses Album nun finde, trifft mich wie eine Backpfeife. Ich hätte fast vergessen, dass „Wash“ der perfekteste, der wundervollste Regensong aller Zeiten ist. Bei „Oceans“ heule ich den Mond an, „Deep“ ist die reinste Achterbahnfahrt, und sogar „Jeremy“, diese so abgenudelte Nummer, lässt meine Haarspitzen knistern. Ich höre das ganze Album am Stück, ich höre es einmal, zweimal, dreimal. Und jetzt lege ich es wieder in den Schrank zurück, damit ich’s in, sagen wir, 25 Jahren wieder genauso hören kann.

Foto: Grebe

ANEINANDER VORBEINSAM > Salzmorgen

Weil es heute Sperriges mitzuschleppen gibt, bringe ich das eigene und das Nachbarkind mit dem Auto zur Schule. Natürlich ist das eine dumme Idee – auf dem Rückweg lande ich punktgenau in diesem Verkehrshoch, das einmal morgens, einmal spätnachmittags (die Gezeiten der Blechmeere) die Stadt beherrscht. Hinzu kommt die Sperrung einer Nebenstrecke, sodass sich alles auf meinem Weg bündelt. Da stehe ich nun auf der Straße herum, komme ein bisschen voran, in der Schrittgeschwindigkeit eines Montagmorgens, stehe wieder. Der Motor dröhnt, er brummt die sehr lange und sehr eintönige Ballade vom automobilen Einzelpersonenverkehr (das Kulturgut der Autobahnen, Landstraßen und innerstädtischen Hauptverkehrsadern). Auch der Körper dröhnt ein bisschen (die Erkältung). Dunkel ist es, dreckig schwarz blitzt die Fahrbahn unter Scheinwerfern auf, dreckig grau schlafen die Bürgersteige. Ich wünsche mich weg, nach Brachland, die Füße bis über die Knöchel in schönstem Unkraut und um die Ohren nichts als einen Himmel voller Krähen und Bussarde. Der Motor dröhnt. Neben mir, hinter mir, vor mir Autos, in denen je ein einzelner Mensch sitzt, wie ich: Alle drei Meter ein Mensch, einzeln verpackt, und ein Motor, der sein Lied dröhnt. Ich schaue mir die Gegenspur-Gesichter an, die im Scheinwerfer aufglimmen, und ich könnte mir kein einzelnes merken, und niemand merkt sich mich. Einsam wirken wir alle. Montagmorgeneinsam. Arbeitswegeinsam. Mitsichselbsteinsam. Das Auto ist der schmückende Rahmen dieser Einsamkeit. Der Motor dröhnt.

Warum singe ich vor mich hin?

Ich habe den dröhnenden Kopf auf einen Schlag voller Musik. Heute aber nicht die bewährten Trostlieder, diese Brachlandlieder, gemütlich, warm – dafür ist mir inzwischen tatsächlich zu grau zumute, leicht jaulig sogar. Sondern also diese salzigen, leicht jauligen Lieder, die ein bisschen trösten und zugleich brennen (das Geisterflüstern verflossener Berührungen und anderer Wohlgefühle, auch von Herzeleid, Scham, oder auch von Momenten einer „So ist das also“-Erkenntnis, die, äußerlich unsichtbar, innerlich genauso einschlagen kann wie eine Umarmung, eine Backpfeife). Intensität ist das eigentliche Gegenteil des Montagmorgens. Musik, die eine gewisse, erlebte Intensität speichert (die Musik der wunden Punkte und der peinlich gehüteten Wunder), kann mir vielleicht gegen diese mitsichselbsteinsame Parade von Gesichtern, meines inbegriffen, helfen – ? Sie muss bloß irgendwie ankommen gegen den Motor, der sein Lied dröhnt.

Morgen wieder zu Fuß.

 

 

VERGISSMEINICH > Alltag, Nichtsnacht

Sie kennen Müdigkeit. Verschiedenste Arten von Müdigkeit. Sie kennen Schläfrigkeit, ermattete Schlappheit oder tief, sehr tief wurzelnde Kraftlosigkeit. Sie kennen auch genügsamere, zufriedenere Arten von Erschöpfungsmüdigkeit. Viele von Ihnen kennen Mischformen der Müdigkeit, wo sie sich mit Aggressivität oder auch dumpfer Orientierungslosigkeit verbindet. Einige unter Ihnen haben Erfahrung mit jener trost- und bodenlosen Müdigkeit, die einen reell glauben macht, ein verirrtes, halb verhungertes und schließlich in sibirischer Januarkälte erfrorenes Nutzvieh zu sein.
Aber kennen Sie auch E.I.N.S.C.H.L.A.F.E.N?
Es gibt das Einschlafen vorm Fernseher, das Einschlafen mit Buch, das Einschlafen in der Bahn, dem Auto oder Flugzeug, auch das nicht ungefährliche Einschlafen in der Badewanne; es gibt das sprichwörtliche Einschlafen im Stehen, das zügige Einschlafen nach harter Arbeit oder Sport, das anspruchslose, routinierte, somit nebensächlich gewordene Einschlafen, das Einschlafen unter Alkohol- oder sonstigem Einfluss, das Einschlafen unter Bauchweh und natürlich das unruhige, unbefriedigende (weil unbefriedende) Einschlafen unter Sorgen, Sorgen, Sorgen.
E.I.N.S.C.H.L.A.F.E.N. aber ist etwas anderes.
Lichtschimmer, Farben und Gerüche um Sie her sind milde und weich. Frische Bettwäsche. Ein Kerzchen auf der Kommode spendet zart flackerndes Sonnenuntergangsleuchten. Ihnen ist warm (die übliche Kriechkälte ist restlos aus Ihren Fasern verschwunden; sowohl das Gefühl als auch die bloße Idee von Kälte sind so vollständig verschwunden, dass sich bei Ihnen nicht der kleinste Gedanke daran regt, wie kalt und klamm sich Einschlafen für gewöhnlich anfühlt), zugleich liegt ein angenehm luftiger Hauch im Raum.
Sie mögen diesen Raum. Sie haben sich darauf gefreut, hier zu schlafen; Sie haben die Wandfarbe, das neue Bett, die neuen Bettbezüge, die Bilder, Zimmerpflanzen und sparsame Deko bedachtsam (und in der seltenen, wohligen Gewissheit, sich hierbei nicht zu verschulden oder es sonstwie zu übertreiben) ausgewählt.
Sie hatten einen leichten Tag. Sie haben gelacht. Sie wurden geküsst. Sie haben etwas Gutes gekocht und gut gegessen, ohne Hast, gemeinsam mit Menschen, die Sie lieben und in deren Nähe Sie sich gesund fühlen (der Nachhall ihrer Stimmen liegt Ihnen, leise, noch im Ohr).
Durchs geöffnete Fenster hören Sie das entfernte Rauschen der Stadt und, näher, das nicht zu ungestüme Ein- und Ausatmen des Windes; nirgendwo bellt ein einsamer Hund.
Sie selbst sind nichts weiter als das sachte Pochen, das Sie mit zwei Fingerspitzen unterhalb Ihrer Daumenwurzel ertasten. (Ihr Puls, der mitunter wie eine Horde durchpreschender, um sich keilender Stiere gegen diese zwei Fingerkuppen schlägt, dann wieder flach, unrund plitschernd, wie Sand unter ihnen wegrieselt, rollt und rollt nun in unbeirrtem Takt an ihnen vorbei, flink, aber nicht getrieben, fest, aber dabei geschmeidig. Ein kleines, samtpelziges, agiles Tierchen.)
Sie fühlen sich in dieser Wohnung so wohl wie lange nicht. Ihre Lieben genauso. Es sind nicht nur die schönen Fliesen, die lichte Aufteilung des Wohnbereichs und derlei Banales: Noch ist diese Wohnung bloß ein unbeschriebener Raum. Ein freundlicher, duftiger Kokon. Und Sie leben nun darin.
All Ihre Dinge und auch Sie selbst haben inzwischen hinreichend Ihre Ordnung gefunden; Alltag bahnt sich an. (Ein freundlicher, duftiger Alltag, will man glauben.) Ruhe.
Die Kerze: Der buttergelbe Hof des Flämmchens simmert brav vor sich hin. Irgendwann wird er sich zunächst verkleinern, dann verlöschen. Sie lassen es achtlos brennen, ohne Sorge: Das Kerzchen wird sich von selbst löschen, und nichts kann Feuer fangen, nichts wird schwelen. Aufbrennen, Ausgehen, ganz folgenlos.
Halbgeschlossenen Auges schauen Sie in den Raum und spüren halbbewusst, dass Sie, indem Sie sich selbst so ganz vergessen, einmal so ganz bei sich ankommen. Sie sind ein rundgeschliffener, von sommerlicher Sonne erwärmter Stein – ach was, Sie sind Pudding! Süß wunschloser, ichloser Pudding. Nichts-Ich.
(Das, was Sie eigentlich sind und was Sie immer waren – das, was Sie also wirklich ausmacht, das liegt nach dem Umzug noch immer in diesen ein, zwei Kartons, die Sie bislang nicht ausgeräumt haben. Auf dem Dachboden. Immer sind es diese ein, zwei unausgeräumten Kartons im Oberstübchen, die beinhalten, was einen Menschen grundlegend ausmacht. Sie haben das bloß vollkommen vergessen, heute.)
Und so
S.C.H.L.A.F.E.N.
Sie schließ
lich
E.
I.
N.

WINTER > Frostlicht, Frostmusik

In den Urmel-Büchern von Max Kruse freut sich Nordpolbewohner Angakorok über zwei Geschenke, die ihm helfen sollen, die finsterkalte Polarnacht zu bewältigen: Ein Licht. Und Musik.

Ich bin kein Wintermensch. Ich fürchte ihn immer ein bisschen, ich mag ihn nicht; nichtsdestotrotz schaue ich ihm interessiert bei der Arbeit zu. Schließlich wird er nur mir zuliebe ja nicht ausbleiben. Ich kann ihn bloß beobachten. Und außerdem auf Lichtfang gehen und nach Wintermusik graben.

 

KÖTER > Schlüppi

A Giant Dog ist so ein Bandname, bei dem man sofort begreift, wie’s gemeint ist, sobald man die ersten Songs hört. Die Texte handeln nicht unbedingt von Quantenphysik, fröhlich großmäulige Energie treibt das Ganze an, und wer an dieser Art von, was weiß ich, sagen wir Glam-Punk keinen Spaß hat, dem ist wahrscheinlich auch sonst nicht zu helfen.
Schade also, dass das allmählich mich selbst betrifft: Neuerdings tritt Frontbiest Sabrina Ellis eher kraftlos trällernd in Erscheinung, deutlich ausgezehrt, zwar mit vorzeigbarem Sixpack und Make Up, aber eben irgendwie ungesund. Mag sein, dass ich damit etwas dazu beisteuere, den kommerziellen Erfolg schlechtzureden, der die Band inzwischen verändert hat, aber das ist nicht meine Absicht – der ist schließlich verdient.
Tatsächlich steht enorme Arbeit dahinter, Alben über Alben, Tour- und Festivalauftritte am Fließband, und das für Sabrina Ellis nicht nur als singender, shoutender und leitender Kopf von A Giant Dog, sondern parallel und in gleicher Funktion beim noch etwas mehr am 70er Jahre Glam & Glitter orientierten Projekt Sweet Spirit. Da schleift sich die Substanz unweigerlich runter. Und gleichzeitig professionalisiert sich rundum alles, vom Merchandising über das Auftreten in Interviews bis hin zum Look der Frontfrau.
Gerade der hatte es bislang aber so schön in sich: Sabrina Ellis, ungeschminkt, unfrisiert, körperlich proper, die mitunter barfuß, mal in Hotelpagen-Uniform, Bademantel oder Glitzer-Trenchcoat über schlabberigem Top (gern BH-befreit) und im legendären rosa Schlüppi über die Bühne zappelt.
Und nun plötzlich flacher Bauch, Porzellanteint, Helene-Fischer-Outfits, und auch die Songs werden glatter: Ich will nicht oberflächlich sein, aber ich finde, dass hier etwas ins Oberflächliche verschwindet, dem ich richtiggehend traurig hinterherschaue, mit einem Taschentuch winkend.

PROVINZLEBEN > Stadt, Land, Fluss

The Doldrums – die Kalmen: Was im seemännischen Sprachgebrauch die gefürchteten Dauerflauten in manchen Meereszonen bezeichnet, lässt sich als charakterisierender Begriff natürlich wunderbar auf die ereignisarmen, dörflich bis kleinstädtisch geprägten Breiten übertragen, wo, fernab metropolischer Turbulenzen, das Leben im Großen und Ganzen ziemlich gleichförmig vor sich hin dümpelt.

Jagt man Rohnert Park – The Friendly City durch Google, erfährt man, dass es sich dabei um eine Planstadt mit 40.000 Einwohnern in Kalifornien handelt; dazu poppen Fotos von steril-gepflegten Vorgärten, Angelteichen und einem Wal-Mart Supercenter auf. Aber wozu kalifornische Planstädte googlen, wo ich doch auf dem Weg zum nächsten Supermarkt in der nahen Kreisstadt (40.000 Einwohner) für solche Bilder (steril-gepflegte Neubaugebiete, Angelteiche) nur aus dem Autofenster gucken muss.


Die an hiesigen Jägerzäunen befestigten Zeitungsrollen füllen sich täglich mit Nachrichten über haarsträubende Katastrophen, Mord, Totschlag, Krieg, Korruption und Dekadenz, die überall, rund um den Globus, gegenwärtig sind, nur eben nicht hier: in der soliden und sicheren Provinz, Standort ländliches Niedersachsen. In der Region hegt man freilich so seine eigenen Meinungen zu Globalgeschehen und Großstadt-News und tut diese auch kund – beim Frisör, während des Brötchenkaufs beim örtlichen Bäcker oder an der Bierbude beim Schützenfest. Und nicht selten verhält sich dabei die Stimme aus dem provinziellen Off gegenüber den Ereignissen auf der Weltbühne ganz ähnlich, wie etwa eine kinderlose, philiströse alte Tante, die sich neunmalklug über die Beziehungsformen, Erziehungsmethoden, Wohn- und Jobsituationen ihrer jüngeren Verwandtschaft auslässt. Um die etwas unmittelbarere Lebensrealität kümmert sich indes die Regional-Presse: Stadtmarketing Dödensen gibt diesjährige Termine für verkaufsoffene Sonntage bekannt / Autohaus Münkelmann präsentiert neue Kleinwagenmodelle / TSV Blumenfeld schlägt Krähenwinkel 86 mit 3:1 / Senioren-Residenz Rosengarten lädt zum Tag der offenen Tür / Autofahrerin erleidet Blechschaden bei Wildunfall auf der B443 / Kreissparkasse spendet Ausrüstung für Handballsparte des TUS Klein Audorf / Hof Blanke serviert hausgemachte Torten in neu eröffnetem Scheunen-Café / Bauarbeiten an der Hauptstraße West blockieren die Durchfahrt zur Mülldeponie / Shanty-Chor Frische Brise e.V. sorgt für musikalische Untermalung beim Heinstedter Spargelfest / Ortsbrandmeister Hannes Heinemann freut sich über geglückte Renovierung des Zeughauses / etc. Weit und breit keine Mordfälle in Sicht, hier oder in den umliegenden Gemeinden. Ebenso keine international bekannten Großveranstaltungen, welche Horden von touristischen Marodeuren in die Gegend schwemmen, die nur Krach, Verkehrschaos und am Ende hohe Entsorgungskosten für Berge von Verpackungsmüll und Bierflaschenbruch verursachen. Außerdem steht man hier wirtschaftlich gar nicht so übel da, sofern man nun nicht gerade einen Milchviehbetrieb unterhält. Wer hier lebt, hat’s also gut, und wer’s gut hat, der kann zufrieden sein. Im Umkehrschluss gilt: Wer hier nicht zufrieden ist, mit dem stimmt doch was nicht.


Kurze Unterbrechung dieses Beitrags für eine dringende Meldung der Whatsapp-Gruppe Kindergarteneltern:  Seit gestern vermisst: Gesucht wird die vierjährige Nuschka! Nuschka ist zuletzt am späten Nachmittag gesehen worden und über Nacht verschwunden geblieben! Sie hat schwarzes Fell mit weiß abgesetzten Pfötchen. Nuschka ist mutmaßlich durch eine geöffnete Terrassentür entlaufen und normalerweise KEINE Freigängerin! Die Halter gehen davon aus, dass Nuschka jetzt SEHR verängstigt ist und die Nähe zu Menschen suchen wird! Hinweise bitte an…


Wenn manche Ortsansässige bezüglich der lokalen Lebensqualität eine gewisse Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen, handelt es sich dabei natürlich um jugendliche Einzeltäter.


Architektonisch besehen hat man im mir bekannten Teil des Hannöverschen Umlands bis hin zum Landkreis Schaumburg die 1990er Jahre über zwanzig Jahre hinweg am Leben erhalten. Erst seit kurzem zeichnet sich der Trend ab, etwa bei städtischen Bauprojekten, von der typischen Vor-Jahrtausendwende-Formsprache Abstand zu nehmen und auch in der Außengestaltung die klassische Uli-Stein-Cartoon-Farbpalette durch zeitgemäße Farbtöne aus dem Spektrum eines neuen IKEA-Katalogs zu ersetzen; der private Häuslebauer allerdings ist bislang eher selten zum Stilwandel aufgelegt.
Mag sein, dass der derzeitige Eigentumsbauboom in der Region zurückzuführen ist auf die aktuell niedrige Baufinanzierung, oder meinetwegen auf diese virale Begeisterung für die Romantik des Landlebens – hier im Dorf zumindest verlaufen Bauboomphasen analog zum Generationenwechsel: Nach Kriegsende kehrten viele Männer hierher heim, kamen viele Vertriebene hierher, die sich verstärkt ans Familiegründen und, mit Beginn des Wirtschaftswunders, auch ans Hausbauen machten (Siedlungshäuschen); deren Kinder bauten in den 1970ern munter ihre sandfarbenen, beigen, braunen Einfamilienhäuschen im Pulk an den Dorfrand an; in den 1990ern folgte der nächste Schub, und es entstanden doppelhausweise bewohnbare Riesentetrapaks mit putzigen Design-Akzenten in den Eingangsbereichen und Fensterrahmen in knallblau, außerdem einzelne Barbie-Häuschen mit glasierten (knallblauen) Dachziegeln. Inzwischen ist die nächste Eigenheim-Staffel im Bau, aber bis auf ein einziges Häuschen mit Pultdach und strenger, minimalistischer Linienführung sind hier noch keine nennenswerten Versuche in Modernität zu beobachten. In der nahen Kleinstadt immerhin wurde letztens ein größeres modernes Immobilienprojekt fertiggestellt – zwanzig ineinander verschachtelte Penthouse-Wohnungen, die ihrer Geometrie nach an einen liegenden Jenga-Turm erinnern und deren Außenoptik von strengem, flächigem Weiß bestimmt wird, aufgelockert durch anthrazitfarben geklinkerte Elemente und den Einsatz von hellem Holz.
Um aufs Dorf zurückzukommen: Ich weiß gar nicht genau, wann und warum man einst aufgehört hat, diese eigentlich ortstypischen, langlebigen Fachwerk- und Rotklinkerhäuser zu bauen, die in Schönheit altern, in Würde verwittern.


Wissen Sie eigentlich, wie man Lüttje Lagen trinkt? Man greift mit Zeigefinger und Daumen ein kleines Glas mit 5cl dunklem Broyhan-Bier, klemmt zwischen die übrigen Finger ein langstieliges Schnapsglas mit 1-2cl Korn, setzt das Bierglas an und hebt dann ruckartig den Kopf in den Nacken, sodass man das Bier und den über den Bierglasrand plätschernden Korn zusammen runterkippt. Sichbetrinken, gehobener Schwierigkeitsgrad: Man benötigt dafür eine gute Fingerfertigkeit – bei gleichzeitiger Trinkfestigkeit, sonst ist es nämlich auch mit der schönsten Fingerfertigkeit nach der sechsten Lage schon vorbei.
Sie ahnen vielleicht, von welchem Charakter eine Region ist, die eine solcherart perfektionierte Trinkkultur hervorgebracht hat?


Musikalische Fackelträger der binnenländisch-niedersächsischen Seele sind seit jeher: Fury in the Slaughterhouse, Terry Hoax und die Scorpions. Das Provinz-Mixtape, Edition Landkreis Hannover, setzt sich weiterhin zusammen aus Schlagerkrachern, Autoscooter-Mucke und radiotauglichem Durchschnitts-Pop; die B-Seite wiederum ist bespielt mit schnauzbärtigem Classic Rock und dazu viel, viel Gruftie-Kram. Während beispielsweise die Supermarktbeschallung in manchen Hamburger Märkten einen durchaus souligen Einschlag erkennen lässt, dürfte man dagegen in hiesigen Filialen musikalisch den Nerv treffen, wenn man sich irgendwo zwischen Plastik und Patschuli bewegt: Depeche Mode und Helene Fischer, sowieso, auch Roxette, Bon Jovi und den regionalansässigen Heinz Rudolf Kunze liebt man hier treu, und dazwischen könnte man bedenkenlos Deine Lakaien und die Sisters of Mercy einstreuen, oder auch Blutengel, Schandmaul und dergleichen, die der Kundschaft vom alljährlich im nicht allzu weit entfernten Hildesheim stattfindenden M’era Luna Festival her bekannt sind, im Wechsel mit Eurodance-Perlen, Andrea Berg und Silbermond abdudeln – im Geschmackskosmos des sogenannten Calenberger Landes jedenfalls fügt sich das alles ziemlich nahtlos zusammen.
Unangefochtene Könige des T-Shirt-Aufdrucks und der Autorückscheiben-Banner sind nach wie vor, seit Jahren unverändert: AC/DC, Subway to Sally und die Böhsen Onkelz.


Morgens und mittags rauschen vor dem örtlichen Kindergarten die Eltern in gebündelter Schar ein, bringen die Zwerge, holen sie ab. Familie G. fällt dabei jedes Mal durch die hemmungslos übertriebene Lautstärke auf, mit der Mamas Ska-Sortiment aus den Boxen dröhnt. Kind und ich singen lauthals kauderwelschend mit: Aye aye aye, aye aye aye! – Tell you baby – You huggin up the big monkey man!  Und: Stop your messing around – Better think of your future – Time you straighten right out – Creating problems in town – Rudy! – A message to you, Rudy! Mit Vorliebe also einschlägige Trojan- und 2-Tone-Label-Klassiker. Die Best-ofs von Prince Buster oder Toots & The Maytals. Oder artverwandtes von The Clash – Wrong ‚Em Boyo zum Beispiel. Ein paar satte Bläser und sonnigen Off-Beat in die hiesige Atmosphäre pusten – irgendjemand muss das ja machen! Bislang finde ich allerdings weder mit meiner musikalischen Alltagspraxis, noch meinem Dress-Code, noch meiner Freizeitplanung Nachahmerinnen am Ort, und es mag wohl sein, dass die übrigen Mütter gern glauben, ich würde mir in der etwas albernen Rolle der Etwas-andersartigen-Mama ganz gut gefallen. Aber das ist Quatsch. Im Gegenteil bemühe ich mich sehr, hier nicht als allzu schrullig wahrgenommen zu werden – noch nicht. Zumindest nicht, solange das im Zweifelsfall mein Sohn ausbaden muss, der sich hier gerade ein funktionierendes soziales Umfeld aufbaut. Aber was manche gewisse Eigenarten angeht, bestehe ich dann doch darauf, dass sie gepflegt und erhalten werden müssen, selbst – oder gerade – wenn man damit allein auf weiter Flur dasteht. Alldieweil bekommt mein Fünfjähriger regelmäßigen Spielbesuch, von viel mehr Kindern, als ich in seinem Alter überhaupt je mit Vornamen gekannt hätte, und denen gefällt’s bei uns zu Hause ziemlich gut.


Bei erstaunlich vielen Calenberger Landsleuten, die innerhalb eines bestimmten Jahrgangsfensters geboren wurden, gehören New Model Army zum festen Bestandteil des Platten-/CD-Schranks. Das liegt wohl an der spezifischen Doppelnatur, die die knarzigen alten Recken in diesem Umfeld entfalten: Keine andere Band brachte so gut auf einen gemeinsamen Nenner, was man hierzulande als Subkultur empfand, und gleichzeitig klingt aus den staubtrockenen, knüppelharten Bassläufen, aus Justin Sullivans schmucklosem Gekrähe und aus dem handfesten Songwriting ohne Schnickschnack eine bis heute gültige Wesensänlichkeit mit diesem an sich nüchternen, ruralen Landstrich heraus. Für den gar nicht so kleinen Teil der Landbevölkerung, der zu einer gewissen rustikalen Form von Melancholie neigt, haben sich NMA, die sich ebenso wenig verändern mögen wie man eben selbst, als langjährige Begleiter etabliert. The Ghost of Cain zählte auf jeden Fall zum Standardrepertoire für all die jugendlichen Einzeltäter hier, die sich in ihrer Unzufriedenheit an der lokalen Lebensqualität suhlten, weil es eine Platte war, die eine enge atmosphärische Verschwisterung mit dem Ortsgefühl einging und doch nach einem Aufmucken gegen ebendieses Ortsgefühl klang. Ich bekam sie mit vierzehn von der älteren Schwester einer Schulfreundin geliehen und hörte sie etwa achttausendmal, bevor ich mich dann selbst mit dem ganzen NMA-Kram eindeckte und das Bandlogo mit Autolack und selbstgeschnippelter Schablone auf meinen Rucksack sprühte. Zwar war ich nach einem halben Jahr mit dieser Phase restlos durch und ließ die CDs danach verstauben, aber umso unverwässerter verbinde ich nun mit NMA einen Sommer voller träge verbrachter Nachmittage am Flussufer.


Von Seegraben, Beeke und Aue ging’s für mich erst mal ans Leineufer. Dann weiter an die Kieler Förde, zu Schwentine und Nord-Ostsee-Kanal. Danach rüber zu Elbe und Alster. Und nun wieder zurück an den Seegraben. Wer weiß, wo ich in zwanzig Jahren bin: an der Weser, der Maas, der Birkenheider Dummbäke, oder doch der Themse? Oder vielleicht begnüge ich mich auch einfach damit, es den Lachsen nachzumachen: gegen den Strom an in die Heimat zurückstrampeln, laichen, sterben?


Die Störche sind zurück und kreiseln über den Dächern herum, staksen durch die frühjahrsnassen Äcker und Weiden, klappern. Auch die Kiebitze schreien wieder ihr Wyywitt. Die Trecker schwärmen aus, pflügen, eggen, drillen und düngen. Je nach Bodentemperatur und Pollenflug verändert die Luft hier ihren Geruch. Wenn es in der Stadt Frühling wurde, hab ich das oft erst am saisonalen Deko-Wechsel im Supermarkt erkannt und mein Dorf dann heimlich, aber schrecklich vermisst.


Die Stadt vermisse ich meist so lange, bis mir wieder in den Sinn kommt, wie viele wirklich verflucht hässliche Häuser es da gibt. In denen man dort ja tatsächlich lebt, und das auch noch haarsträubend teuer. Und dann spaziert man da durch die hübscheren Viertel, an den hübscheren Häusern entlang, in denen die Leute wohnen, die für ihre Wohnung monatlich den Gegenwert eines Gebrauchtwagens hinblättern, und denkt ganz versonnenheitsblöde bei sich, wie schön sie doch ist, die Großstadt, mit ihrem Flair, mit ihrem Charme.


Wenn ich mit siebzehn aus der Schule nach Hause kam, mit dem Bus, der zwischen Kleinstadt und Dorf pendelt, packte mich ein mitunter kaum auszuhaltendes, klaustrophobisches Gefühl. Ich guckte mir diese Gegend an, die in etwa soviel Charakter besitzt wie eine Packung Toastbrot, und war mir ganz sicher, dass ich, wenn ich noch länger hierbliebe, unweigerlich irgendwann meinen gesamten Biss verlieren würde. So wenig Leute hier, und so groß die Borniertheit und der Mangel an Neugier.
Natürlich war es das einzig Richtige, mit achtzehn sofort die Beine in die Hand zu nehmen und in die nächstbeste Stadt wegzulaufen, denn natürlich ist es schön, in der Stadt zu wohnen. Erst mal, ein paar Jahre lang jedenfalls.
Irgendwann aber, als ich so mit Ende zwanzig allmählich müde war vom Feiern, begann mich plötzlich ein mitunter kaum auszuhaltendes, klaustrophobisches Gefühl zu packen, wenn ich mich durch überlaufene Geschäfte drängelte, wenn ich mir unsere kleine Großstadt-Wohnung so anschaute und mal wieder vom stets hörbaren Gerödel der Nachbarn über und unter und neben uns genervt war, wenn ich selbst morgens um sechs im hintersten Stadtparkwinkel kein Plätzchen fand, das ich, nur mal kurz, nur für mich selbst besitzen durfte, sondern spätestens nach einer Viertelstunde schon wieder umlagert war von den ewigen Joggern, Hundehaltern, Taijiquan-Betreibern und sonstigen Frischluft-Bedürftigen.
Die Stadt bietet so viel Input, so viel Ablenkung, aber so wenig ungestörten Raum. Das ist schlechterdings das Merkmal der Stadt: ihre Dichte. So viel Leute da. Aber auch so viel Mimese und Mimikry, so oft so wenig zu entdecken unterhalb der Oberfläche. Spätestens unter den Kindergartenmamas habe ich mich dort bisweilen gefühlt wie in einer von artifiziell verfremdeten Lebewesen bevölkerten Blase, und ich war mir ganz sicher, dass ich, wenn ich noch länger hierbliebe, unweigerlich irgendwann meinen gesamten Biss verlieren würde. Ich kam mir ziemlich blöd dabei vor, am Essen zu sparen, damit von unserem Budget irgendwie Geld übrig blieb, das ich dann in überteuerten Krempel stecken konnte, auf dass ich von den Miteltern nicht scheel angeguckt werde, weil mein Kind als einziges mit den falschen Klamotten rumläuft, bei angesagtem Spielzeug nicht mitreden kann und noch nie im Szene-Familiencafé frühstücken war. Und ich hatte es schnell satt, beim Spielplatztreff so zu tun, als interessierte ich mich für vegane Backrezepte für den Kindergeburtstag und für die besten Kursanbieter in Sachen Eltern-Kind-Yoga. Nichts für ungut: Wem das etwas gibt, dem wünsche ich ehrlich viel Spaß damit, aber eben ohne mich.


Meanwhile in Schicksterhude: Die Schlange vor dem Café Eispalast hat sich laut der Eispalast-App inzwischen auf 1,3km Länge ausgedehnt, die Wartezeit beläuft sich aktuell auf ca. 2 Stunden und 27 Minuten. Ab heute bieten wir Euch wieder täglich frische, hausgemachte Eis-Kreationen! Probiert unbedingt unsere Lakritz-Rosmarinsalz-Sensation! Außerdem: Soja-Sesam-Quinoa, White Choc mit einem Hauch Amalfi-Zitrone, laktosefreies Vanilla de Luxe, Pili-Nuss-Crunch, Granadilla-Curuba-Sorbet und Cherimoya-Champagner. 


Es gibt keine Adresse, die mich so ganz von selbst zu einem interessanteren Menschen machen würde, oder zu einem einsamen, oder zu einem zufriedenen.
Was gibt mir die Stadt? Sie gibt mir zu denken. Das Dorf gibt mir zu atmen. Ich kann das eine wie das andere gut gebrauchen. Ganz vorbehaltlos zuhause fühle ich mich weder hier noch da, denn weder hier noch da gehöre ich so recht hin und füge mich sonderlich passgenau ein.
Ich habe lieber aufgehört, mein Zuhause an bestimmten Orten zu suchen – ich finde mein Zuhause in einzelnen Menschen, mit denen ich wirklich reden kann und an denen mir viel liegt. Die brauche ich, und die habe ich, hier und da; alles andere spielt für mich keine große Rolle mehr.


DIE BESESSENEN > Rollin‘ just to keep on rollin’*

Mark Lanegan darf das. Und zwar: diesen jauligen Song, der sich durchaus in der Romantik der Selbstzerstörung suhlt, und den zuvor schon Johnny Cash sang, schön elegisch nachbrummeln. Und er darf das deshalb, weil man ihm schlechterdings nicht vorwerfen kann, sich fahrlässig an der Verklärung ruinöser Verhaltensauswüchse zu beteiligen, ohne dabei deren unappetitliche Konsequenzen je selbst kennengelernt zu haben – davon nämlich ist unbedingt auszugehen. Weil er dem smarten Val Kilmer von damals ja längst nicht so ähnlich sieht wie hier, sondern sich eben, höchstmutmaßlich, tatsächlich damit auskennt, wie das so ist: Wenn man von einem biestigen Etwas besessen ist, das einem ab und an die Psyche umkrempelt, so dass man ständig irgendeinen Mist auszubaden hat, den man sich doch gar nicht vorsätzlich hatte einbrocken wollen, bis man, nach und nach, gleichgültig wird, das Bedauern und Wiedergeradebiegen der Dinge schließlich einstellt und fortan das Biest einfach machen lässt.

So ein Biest kann man sich natürlich einfangen, indem man, wie Lanegan das vorgemacht hat, ab und an zu tief ins Glas guckt. Da übersieht man vielleicht eine kleine, unscheinbare Veranlagung oder eine akute, aber eigentlich nicht zwingende Gefährdungslage, denkt sich nichts dabei, und unversehens entfaltet sich schon ein prächtiges Problem zu vollster, grausamster Blüte. Dieser Vorgang verläuft so simpel und doch so komplex – entsprechend gestaltet sich auch die Bewältigung des Rückwegs so scheinbar einfach und doch zum Haareraufen schwierig: Komm, du musst halt einfach aufhören zu saufen, irgendwie. Zurück zu Lanegan: Man kann natürlich versuchen, sich vom Alkohohl zu verabschieden, indem man sich wiederum noch humorloseren Drogen zuwendet. Was erwiesenermaßen eine ganz schlechte Idee ist – die bestenfalls noch in einen *Methamphetamine Blues mündet anstatt direkt in irgendeine Crack-Hölle.

Selbstredend sollte man das lieber alles von Anfang an bleiben lassen, Kinder, und zwar kategorisch.

Das gilt im Übrigen für jedwede Form von Besessenheit. Ganz gleich, ob man sich, sagen wir, in einer allzu heftigen Leidenschaft aufreibt, oder etwa einem pathologischen Karrierewahn unterliegt, oder, meinetwegen, ein krankhaftes, gleichwohl gesundheitsorientiertes Selbstoptimierungsprogramm betreibt, oder aber sich bis zur Besinnungslosigkeit einer ideellen Verblendung hingibt oder einer auf Angst basierenden Raserei und so fort: Der zwingenden Dynamik hat man bitteschön zu widerstehen, unbedingt muss man die Finger davon lassen, solange man noch kann! Denn auch die schönste Besessenheit befördert am Ende freilich gar nichts als immer nur sich selbst – und ihren Träger, der sie an der Leine zu haben glaubt, samt Leine in den Abgrund. Aber das weiß man ja. Nur: Wo bleibt sie denn, die Vernunft, wenn man sie am dringendsten braucht? Macht sie Urlaub? Hat man ihr womöglich irgendwann gekündigt und kann sich bloß nicht mehr so recht daran erinnern?

Andererseits, wie lasch wäre das Leben denn so ganz ohne Raserei und Wahn, ohne manche reizvolle und lehrreiche Grenzberührung mit dem Fatalen, die mitunter den Treibstoff liefern für Enthusiasmus, Empathie, Erfolg?

Fragt sich bloß, wie man so genau wissen soll, ob man einfach anständig brennt oder nicht vielleicht doch längst explodiert?

SPRACHMUSIK > „I speak that acient tounge / There lies a language in the noise and the hum“*

So mit vierzehn, fünfzehn ließ ich, wie sich das damals gehörte, unter anderem natürlich Rage Against the Machine, House of Pain, Wu-Tang Clan, Tool, Nine Inch Nails, The Prodigy und Tricky aus meinem Kinderzimmer dröhnen, bis der Rest der Familie das Jaulen kriegte. Höre ich gedanklich zurück, vermischen sich diese jeweiligen Klangrichtungen zu einer einzigen Industrial-Rap-Elektro-TripHop-Wall of Sound. Derartig konditioniert, komme ich nicht umhin, Dälek, die genau so klingen, eben großartig zu finden – obwohl inzwischen deutlich über vierzehn, und nach wie vor im Grunde ahnungslos im Sektor Hip Hop. Während der Nullerjahre hat das mal Trio, mal Duo aus New Jersey fünf Alben rausgehauen, darunter ein Gemeinschaftsalbum mit den Hamburger Krautrockern Faust -wie auch immer diese Verbindung zustande gekommen sein mag -, außerdem eine Handvoll weiterer Kollaborationen nebenher betrieben, etwa mit den Elektrokrachkombos Techno Animal und Kid606; dazu tourten sie nebenher als Support für die Melvins und die Post-Metaller ISIS. Vom hypnotischen, zehnminütigen Kopfnicker-Stück bis zum Noise-Ragnarök gibt das Dälek-Spektrum eigentlich alles her. Nach längerer Pause war 2016 mit Asphalt for Eden (Profound Lore Rec.) auch endlich wieder ein neues Album drin. (*From Mole Hills)


Young Fathers könnten nun, obwohl sich ihr 2015er Album White Men Are Black Men Too (Big Dada Rec.) noch längst nicht ausgelutscht anhört, eigentlich auch mal was nachlegen. Das Schotten-Trio entzieht sich mit seiner Vielseitigkeit so gewollt wie gekonnt einer entschiedenen Einordnung in die Hip Hop-Sparte, hat dort jedoch seine Wurzeln und kommt gern auf sie zurück. Im Ganzen aber ist das mehr als bloß Soul hier, Hip Hop zwischendurch und Indiepop da, sondern eine quecksilbrige Legierung diverser urbaner Stile, aus denen ihr archaischter gemeinsamer Nenner hervorgegraben wird: Trommeln, Beschwörungsformeln, Trance.

SPRACHMUSIK > London Speaking

Da hat nun ein Musiker den Literaturnobelpreis erhalten, und irgendwie kann man sich immer noch nicht recht einigen, wie man das finden soll. Mich zumindest interessiert dieser Preis nicht ausreichend, um in aller Breite über das Für und Wider dieser Vergabe mitzudiskutieren. Mich interessieren Texte, und je vielfältiger die Erscheinungsformen von Text sind, desto besser. Den Einordnungsfeldern schadet es dabei nicht, wenn zwischen ihnen rege Osmose stattfindet – im Gegenteil.

Lyrik, Hip Hop, Spoken Word, Predigt: Sprache und Rhythmus. Kate Tempest kann das mit oder ohne Buchdeckel, Kojey Radical auch ohne Beatbox, Bitches und Bling Bling.