FORMWANDLUNGEN > Yoko Tawada, Sendbo-o-te

„Sind wir in hunderttausend Jahren also alle Kraken?“

Weiß man’s? Wer weiß schon, was die Evolution mit uns noch so vorhat? Wir manipulieren bös am Zustand der Natur herum, tiefgreifend und folgenreich – warum sollte das nicht auf uns zurückfallen, indem sich das Menschliche mit der Zeit ebenso wild funktions- und formverändert?

Yoshiros Körper zum Beispiel ist nicht mehr in der Lage zu sterben. Was man zunächst eher als Segen missverstehen könnte.

Als Kind hatte er gedacht, das Ziel der Medizin sei das ewige Leben. Das Leid, nicht sterben zu können, konnte er sich damals noch nicht denken. 

Irgendwas über hundert ist er inzwischen. Verhängnisvolle Ereignisse, über die nichts genaues deutlich wird, haben Japan vollkommen verändert, und der fitte Greis sieht sich mit deprimierenden Lebensumständen konfrontiert.
Der in Sachen Isolationspolitik historisch nicht unerfahrene Inselstaat sperrt sich nun vehement gegen jeglichen Austausch mit der übrigen Welt. Alle Fremdwörter werden japanisiert. Niemand besitzt Reisefreiheit. Ein deutlicher Hauch von Totalitarismus liegt in der Luft.
Die Umwelt bringt monströs-mutierte Pusteblumen und kontaminierte Meeresfrüchte hervor. Nicht nur auf die Lebensmittelversorgung wirkt sich das verheerend aus.
Während Yoshiro und seine Generationsgenossen, die nicht sterben können, vor sich hin leben wie Gespenster, die ihre Körper ausnahmsweise behalten durften, ist die Lebensfähigkeit in der Generation der Urenkel dagegen stark verringert, ihre Körper verfallen im Sauseschritt. So ergeht es auch Mumey – seinem eigenen Urenkel, um den sich Yoshiro wie eine Glucke kümmert.

[Mumey] sah aus wie ein Küken. Das lag wohl daran, dass sein Kopf für seinen langen, dünnen Hals zu groß war. Seine seidenfeinen Haare waren nass von Schweiß und klebten fest an seiner Kopfhaut. Die Augen leicht geschlossen, bewegte er seinen Kopf, als wollte er mit den Ohren die Luft erkunden.

Mumey ist ein Sonnenschein, leicht ins Herz zu schließen. Was seine Vorfahren ihm körperlich voraus hatten, stehen sie ihm charakterlich oftmals eindeutig nach. Sein Vater ist ein unausstehlicher Nichtsnutz und Herumtreiber, seine Oma, Yoshiros Tochter, lebt auf einer entfernten Insel; Yoshiro ist und bleibt Mumeys ganze Familie. Der Alte schiebt den Jungen, der aus eigener Kraft kaum laufen kann, auf dem Gepäckträger zur Schule, und weil Mumeys Zähne aus den weichlichen Kieferknochen ausfallen wie Reiskörner, füttert er ihn mit schluckgerecht portionierten Lebensmitteln, in der Hoffnung, dass Mumeys Magen sie bei sich behalte.
Yoshiro leidet unter Mumeys Leid, er leidet unter den Schuldgefühlen eines viel zu Gesunden gegenüber einem viel zu Kranken, er leidet auch unter Mumeys unerschütterlich mildem, frohem Gemüt und er leidet besonders unter der Abschottung, in der er und Mumey mit ihren Mitmenschen gefangen sind, denn diese Abschottung bedeutet den Ausschluss von Hilfen, mithin also die Finalisierung ihrer schwierigen Lage.
„Ken-to-shi, Sendboote nach China“ lautet der Titel eines Romanmanuskripts, das Yoshiro einst verfasste, dann aber aus guten Gründen lieber auf dem „Dingfriedhof, einem öffentlichen Friedhof, wo jeder immer und nach Belieben auch Dingen die Letzte Ehre erweisen konnte“, begrub: Der Titel verweist auf frühmittelalterliche Expeditionen, die Japan in Richtung China unternahm, um erste diplomatische Bande nach außerhalb zu knüpfen – eine Sehnsuchtsbenennung.
Als „Sendbote“ wird Mumey derweil von einer geheimnisvollen Vereinigung auserwählt, mit der Aufgabe, sich als blinder Passagier außer Landes zu begeben, um das internationale Ausland über den „Gesundheitszustand japanischer Kinder“ zu informieren. Eine Geheimmission? Oder eine, vielleicht geheimdienstliche, Falle?

Sendbo-o-te ist eine Dystopie, klar, aber keine, die mit den üblichen apokalyptischen Bildern, mit den gängigen Endzeit-Elementen operiert. Eher eine Dystopie in Pastellfarben – unangestrengt, zugänglich, alltagsgesättigt. Wie Yoshiro und Mumey ihr Leben gestalten, das verströmt, bei aller Wehmut, die Yoshiro nicht unterdrücken kann, viel Wärme und Humor. Und Mumey, eigentlich ja schwer gebeutelt von körperlichen Gebrechen, ist fröhlich, lebendig, mutig, resilient. Yoshiro dagegen, der für immer unverändert bleibt, der in einer Art Geistergeheul über die Vergangenheit spricht und sich in einer radikal veränderten Welt nicht mehr heimisch fühlen kann, gerät zur tragischen Figur – und das um Stabilität ringende Japan zum Unterdrückungsstaat.
Egal, welche Art Mega-Katastrophe hier auch stattgefunden haben mag: Der unvermeidbare Lauf der Dinge spart solche Untergänge und Weltveränderungen nicht aus. Dass sie eintreten, auf verschiedenste Weise, ist nicht die Frage. Was dagegen in Sendbo-o-te mit lockerer Hand ausgelotet wird, ist die Frage, wie unterschiedlich, wie vielgestaltig und unvorhergesehen einzelne Menschen und ganze Systeme auf sie reagieren.


> Yoko Tawada, Sendbo-o-te (Konkursbuch Verlag)

FORMWANDLUNGEN > Noëmi Lerch (mit Walter Wolff), Willkommen im Tal der Tränen

Ja ja, ich bin jetzt eine von allen, die was darüber schreiben, aber das macht mir nichts – einen Hype würde ich hier glatt begrüßen. Denn Willkommen im Tal der Tränen ist ein seltenschönes Buch. Die linken Seiten so schön schwarz mit weißen Grafiken; auf den rechten der schöne Text schwarz auf weiß. Der Einband in grauen, rauen Stoff geschlagen, und darauf, glattschwarz, eine der schönen Grafiken. Dekorativ ist das, hübsch, „so schön haptisch“, wie man Leute sagen hört, also gestalterisch wirklich einmalig.
Aber das allein meine ich gar nicht.
Es geht um drei Mann auf dem Berge: Zoppo, den Lombard und den Tuinar. Wer sie sind, wie sie aussehen – unwichtig. Es zählt, was sie machen: Käse, Polenta, melken, schweigen, ein Feuer, eine Faust, Kaffee, ausmisten, schauen, frieren, den Käse wenden, singen, gehen, streiten, warten, Holz aufladen, den Tisch decken, schlafen. Es geht um Arbeit und Sein. Und die Alpenlandschaft.
Die Schweizerin Noëmi Lerch steht mit dem einen Fuß in der Literatur, mit dem anderen in der Landwirtschaft, was in ihrem Fall heißt: Sie weiß nicht nur, wie es sich auf der Alp lebt, inmitten herrischer Natur, mit Vieh, Hütehund, Familie und Touristen, sondern auch, wie es sich über Arbeit, Sein und Landschaft schreiben lässt.
Während sich Alpen-Prosa im Großen und Ganzen recht bipolar präsentiert, entweder als klassischer, romantisierender Alpen-Kitsch oder als hartlederner Alpen-Noir, ist das hier… Etwas seltenschönes jedenfalls, und ich würde es fast Alpen-Mystik nennen, aber diese tiefe, aufs Elementare konzentrierte Versenkung unternimmt Lerch keinesfalls in irgendwie esoterisch gearteter Absicht. Arbeit, Sein, Landschaft werden so konsequent reduziert, dass gewissermaßen ein Alpen-Destillat entsteht.

Die weite Ebene. Im Winter ist da niemand. Es gibt diese Orte. Sie brauchen Zeit. Keinen Besuch. 

Im Sommer, da sind dann die Touristen da, die leuchtend bunte Funktionsjacken, Trekkingschuhe und Wanderrucksäcke tragen, sodass sie sich nie mit der Landschaft verbinden. Den Lombarden, den Tuinar und Zoppo grüßen sie nicht, sondern fotografieren die pittoresken Männer ungefragt während ihrer pittoresken Tätigkeiten, beim Ausmisten zum Beispiel, genauso, wie sie auch die Kühe fotografieren, oder ein Stück Landschaft. So fotografieren sie Arbeit, Sein und Landschaft – von außen. Und somit ist auch die notwendige Binsenweisheit abgehakt, dass Touristen ja meistens viel fotografieren, aber eigentlich gar nichts sehen.
Was es zu sehen gibt, sieht man, indem man mit Zoppo und dem Tuinar in die malerische Ebene geht und Holz auflädt, oder den spärlichen Kaffeetisch deckt – das hört sich jetzt romantisch an, nicht wahr? Zoppo, der Lombard und der Tuinar arbeiten als Viehhirten, und sie erledigen alles, was in der Viehwirtschaft so zu erledigen ist, und was könnte wohl näher an der ursprünglichen Idylle, an den antiken Hirtengedichten sein als das? Nichts da. Mag der Buchtitel vielleicht auch schmachtig klingen – was im Erzählten herrscht, ist weder Romantik noch Dramatik, sondern eine große Stille, die mal mehr, mal weniger bleiern gestimmt ist.

Der Stausee liegt wie ein leerer Mond unter der Alp. Im Dunkeln des Morgens sieht man die Lichter der Bagger. Sie graben ein tiefes Loch. […] Für den Schlamm, der sich am Grund angesammelt hat und den Ablass verstopft. Im Schlamm sind die Reste vom alten Dorf. Steine, Balken, tote Bäume. […] Abends kriechen die Bagger wie Käfer an die Ränder vom Mond. Sie verschwinden in den Tunneln, in der Staumauer. […] Den drei Männern bleiben der leere Mond und seine Stille. Die Glocken der Kühe läuten ringsherum und erinnern sie an eine Zeit, die so weit zurückliegt, dass sie sich nicht daran erinnern können. Sie erinnern sich trotzdem. 

Auch einer Blut-und-Boden-Romantik, wie man sie im alpinen Biotop unter hart arbeitenden Agrariern womöglich zu wittern befürchtet, wird nirgendwo Nährstoff gegeben. Der Tuinar zum Beispiel ist prekärer Arbeitsmigrant und kommt eigentlich vom Meer – woher genau, das erzählt das Buch nicht, und es unterhält sich auch keiner drüber, da oben, auf der Alp, wozu auch.
Was es im Verborgenen zu sehen gibt, das sehen die Augen des Lombard, als ihn ein Naturerlebnis ereilt wie eine Epiphanie, vulgo: Der arme Mensch verliert in der großen Stille schlechterdings seinen gesunden Verstand – im Tausch gegen seinen Eintritt in die Einheit der Natur.

Der Lombard schaut auf das weite Grasland. Die Sonne scheint auf den Lombarden und das weite Grasland. Das weite Grasland beginnt im Lombarden aufzusteigen, in ihn hineinzuwachsen. Und die Sonne steigt in den Lombarden hinunter, beginnt in ihm aufzugehen. […] Er spürt, wie sich jede Zelle in ihm öffnet, grün wird und Licht. Und es beginnt ihm weh zu tun, als müsste er auseinandergehen. […] Der Lombard versucht zu atmen, ruhig zu atmen. Er möchte etwas sagen, aber der Mund geht nach innen auf, nicht nach aussen. Er spürt die Lippen im Innern seines Mundes und das Gras unter seiner Haut. Er will die Augen schliessen, aber die Augen drehen sich um. Schauen nach innen anstatt nach aussen. Da drinnen sieht er nichts als das weite Grasland und Sonne. 

Zustandsveränderungen bestimmen hier der Gang der Dinge. Das illustrieren die Jahreszeiten und das Wetter, der Wechsel von Tag und Nacht, von Schneeflocken- zu Kirschblütengestöber. Auch der Stausee, der einst das Dorf fraß, und die Bagger, die nun wiederum am See fressen. Und der Tuinar putzt seine Schuhe und fettet sie, und so trampelt er mit ihnen durch Staub und Schlamm, und so putzt er wieder seine Schuhe und fettet sie. Es wächst das Gras, es grasen die Kühe und werden gemolken, die Milch wird verkäst, es reifen die Käselaibe und werden verzehrt. Kein Zustand besteht ewig, das gilt mitunter eben auch für den geistigen.

Mit den Kühen spricht der Lombard wie mit Engeln. In seinen Augen glüht etwas Heiliges, von dem man nur hoffen kann, dass es bleibt, wo es ist.

Was es wirklich überall zu sehen gibt, das sind die Wechsel, Zyklen, Prozesse, die in dieser Landschaft arbeiten und zugleich in den Menschen und das Sein überhaupt bestimmen:

Manchem sieht man an, was es früher einmal war. Tier oder Mensch. Feuer, Erde, Holz, Stein oder Wasser. Alles kann alles gewesen sein. Alles kann immer zu allem wieder werden. 

Genau da setzen die Grafiken an – gestaltet von Alexandra Kaufmann und Hanin Lerch, die gemeinsam das Künstlerinnenduo Walter Wolff bilden. Während auf den weißen Seiten mit Wörtern erzählt wird, was geschieht, wird auf den schwarzen Seiten mit Grafiken erzählt, was noch so vorgeht, was alles so vor sich hin geschieht, in der großen Stille. Die Formen entwickeln sich Seite um Seite, wandeln sich zu etwas Konkretem, dann wieder zu etwas Abstraktem. Man kann den Buchblock tatsächlich wie ein Daumenkino in die Hand nehmen und die schwarzen Blätter fliegen lassen und dann sieht man, wie Flächen zu Pflanzen werden, die wiederum vergehen, und wie sich lose Linien zusammenfinden und zur Maserung eines Holzblocks werden, der wiederum verwittert, und wie Blätter entstehen, die nach und nach ihre Stiele verlängern und ihre Blattrippen verformen, und so werden sie Messer, Gabel und Löffel. Und, und, und. Da sind streng geometrische Formen, organisch-schnörkelige Formen, identifizierbare Formen, rätselhafte Formen, die mit den Wörtern mal sehr direkt, mal eher lose korrespondieren und dabei stets eigenständig bleiben. Was dieses Buch anbietet, ist also – auf ganz andere Art, als das in illustrierten Buchausgaben oder Comic-Erzählungen, Entschuldigung: Graphic-Novels der Fall ist – eine echte Möglichkeit, in Stereo zu lesen. Doppelschön.


> Noëmi Lerch, Willkommen im Tal der Tränen, illustriert von Walter Wolff (Verlag Die Brotsuppe)


Herzlichen Dank an den Verlag für das Leseexemplar, um das ich gebeten hatte!

POTPOURRI DER GEFÜHLE > James Gordon Farrell, Troubles

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Weil von mir glücklicherweise niemand verlangt, ich müsse bezüglich meiner Kriterien irgendeine Art von Objektivität walten lassen, kann ich Ihnen direkt sagen, dass ich Romane, die 500seitig daherkommen und als Sittengemälde ausgewiesen werden, nur äußerst selten in die Hand nehme. Noch seltener kommt es vor, dass ich einen betreffenden Wälzer obendrein so herzlich liebgewinne, wie nun also diesen hier.
Stellen Sie sich feuchte Küstenluft vor, in die sich der Rauch von Torffeuern mischt; eine karge Gegend, nichts als Gras, Moos, Fels und Wasser. Und mitten hinein denken Sie sich jetzt bitte eine krachend überproportionierte Bruchbude mit hunderten von Zimmern voller Stuck, Samt und Edelholz, Motten, Wurmfraß und Schimmel. Und darin: Menschen, die zu Tee sitzen, während gusseiserne Badewannen durch morsche Zwischendecken rauschen.
Troubles erschien 1970 als erster Teil der Empire Trilogy, in der Farrell die Zerfallsprozesse des Britischen Weltreichs zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg zum Tanzparkett seiner Figuren macht – hier nun den Irischen Unabhängigkeitskrieg von 1919 bis 1921.
Ja, genau: vor 100 Jahren. Beschrieben in einem 50 Jahre alten Roman. Und das klingt dann mitunter so, als lausche man einer ziemlich heutigen Unterhaltung über den Brexit:

The Major only glanced at the newspaper these days, tired of trying to comprehend a situation which defied comprehension, a war without battles or trenches. […] O’Neill was now saying confidently that there was no need to worry. „All this will be cleared up now within five or six weeks, you can take it from me.“ […] „Yes, yes, to be sure,“ agreed the Major dubiously. „It must end soon. That’s what we used to say in the trenches,“ he added with a faint smile. „Of course, of course, “ O’Neill said, failing to perceive the Major’s irony. 

Heute ist die Union freilich eine andere und nicht die Republik Irland diejenige, die rauswill, sondern Großbritannien, oder besser Britannien, oder wie auch immer – während der Streit um etwaige Grenzverläufe derselbe ist.
Die „trenches“, die der englische Major erwähnt, sind die des Ersten Weltkriegs, denen er nicht ganz unbeschädigt entrinnen konnte. Mit dem Zivilleben holen ihn auch zivile Themen wieder ein. Angela Spencer zum Beispiel, die der Major – mit zivilem Namen Brendan Archer – 1916 während eines kurzen Heimaturlaubs in Brighton kennenlernte, Turteleien inbegriffen. Drei Jahre lang schrieb die Tochter eines Hoteliers Liebesbriefe und unterzeichnete diese stets als „Your loving fiancée“, was den Major stets milde erstaunte, aber sei’s drum – in der Absicht, die Verhältnisse zu klären und gegebenenfalls eine Hochzeit vorzubereiten, macht sich der nach Fronteinsatz und langem Klinikaufenthalt nun einigermaßen genesene Major im Sommer 1919 auf den Weg nach Kilnalough, Irland, dem Wohnsitz seiner mutmaßlich Verlobten.
Dabei ist die eigentliche Heimat der englandtreuen und erzprotestantischen Spencers weniger das strukturschwache Küstenstädchen Kilnalough selbst – ihr Leben findet hauptsächlich im Majestic statt, dem familieneigenen Prachthotel, dessen Fassade und scheinbar endlose Masse an Zimmern dem Namen eindeutig gerecht werden. Eine isolierte Festung, bewacht von der Bronzestatue Queen Victorias, die den Gästen, aber ebenso den irischen Bediensteten anzeigt, welcher Geist hier herrscht. Das Majestic ist – Sie ahnen längst, wie diese Geschichte funktioniert – natürlich mehr als ein bloßes Hotel: Es ist ein steinernes Manifest anglo-irischer Überheblichkeit, gelegen auf dem höchsten Punkt einer schmalen Halbinsel, von wo aus es sich recht angenehm auf die niederen Reviere des Katholizismus herabblicken lässt, und der Patriarch Edward Spencer führt diesen Klotz mit ähnlichem Habitus und in ganz ähnlichen Strukturen wie ein Feudalherr.
Nur, die pompöse Residenz hat ihren Zenit längst überschritten. Als der Major in Kilnalough eintrifft, lernt er das Majestic bereits als faulenden Apfel kennen. Es erreicht seit Jahren keine Auslastung mehr, schreibt nur noch rote Zahlen und sein guter Ruf verfällt parallel zur Bausubstanz. Im Pool wuchern Seerosen, Katzen ergreifen Besitz von ungenutzten Gesellschaftsräumen. Was der Major für Sommergäste hält, erweist sich als eine Schar alter Damen, die wegen ihrer jahrelangen Haustreue von Edward längst als Familienangehörige behandelt werden und, seit ihre Gelder bedauerlicherweise irgendwann aufgebraucht waren, stillschweigend freie Kost und Logis genießen. Nicht zuletzt Edward selbst, den man hier schnell als den (unfreiwilligen) Bannerträger britischer Schrulligkeit identifiziert, trägt seinen Teil zur Vanitas-Atmosphäre bei: Der Witwer ist ein emotionales Pulverfass, bewegt sich zwischen cholerischen Ausbrüchen, Jovialität und Schwermut, er widmet sich exzessiv seinen Hunden und Schweinen, versucht sich auch mal als Erfinder und ignoriert stets die Bedürfnisse seines Hauses und die seiner Kinder. Ein stattlicher, löwenköpfiger, bärbeißiger Unglücksvogel, dessen Verstand nach und nach genauso erodiert wie Haus und Empire.
Und der Major, dessen ziviler Name in diesen Roman beinahe nie Erwähnung findet? Der kommt ursprünglich als Besucher, und bleibt dann lange, lange, wie einst Hans Castorp, nur dass sich diesen Zauberberg eher Monty Python hätten ausdenken können. Es mag seinem soldatischen Wesen geschuldet sein, dass der Major im Majestic sofort dem Gefühl aufsitzt, sich vielmehr im Einsatz anstatt an einem Erholungsort zu befinden. Und Edwards Feldherrenmanier unterstützt diesen Eindruck nach Kräften. Dem Hausherren kommt ein qualifizierter Kampfgefährte gerade recht, sowohl in der Schlacht um den Erhalt des maroden Hauses, als auch zur Verteidigung gegen die überall lauernden (oftmals imaginären) „Shinners“, wie die Partisanenkämpfer von Sinn Fein hier genannt werden. Schon die erste Begegnung der beiden verläuft militärisch druckvoll – kaum dass der Major seinen ersten Schritt ins Majestic getan hat, zerrt Edward ihn sogleich an die Front.

[…] now they had reached Edward’s study, a room smelling strongly of dogs, leather and tobacco. It turned out to contain a staggering amount of sporting equipment piled haphazardly on an ancient chaise-lounge scarred with bulging horsehair wounds. Shotguns and cricket stumps were stacked indiscriminately with fishing-rods, squash and tennis rackets, odd tennis shoes and mildewed cricket bats. „Take your pick. More in the gun room if those won’t do. You’ll find the ammo over there.“ Edward pointed at a drawer which had been removed from a sideboard and was lying on the floor beside the empty, blackened grate. A huge and shaggy Persian cat was asleep on the pile of scarlet cartridges it contained, scarcely bothering to open its yellow eyes as it was lifted away and deposited on a brass-mounted elephant’s foot. By now they had been joined by two or three other men in white flannels who were also rummaging for ammunition to suit their respective firearms; evidently a tennis match had been in progress. The Major, who had no intention of shooting anyone on his first day in Ireland if he could possibly avoid it, tugged dubiously at a .22 rifle which had become entangled with a waterproof wader, a warped tennis racket and hopelessly tangled coils of fishing-line.

Bis unters Dach Unordnung, unzurechnungsfähige Männer, Katzen, Katzen, Katzen. Wohl oder übel – der Major betrachtet das Haus von Beginn an als Objekt seines Pflichtgefühls, als eine Stellung, die es zu halten gilt, und er bleibt. Er bleibt viel länger als Angela. Er bleibt so lange, dass er irgendwann selbst der Schicksalsfamilie aus gestrandeten Gästen und Gastgebern angehört; auch er genießt stillschweigend freie Kost und Logis, und ebenso stillschweigend nimmt er nach und nach die Verantwortung für das Majestic und seine Bewohner in die eigenen Hände.
Die Troubles um die Unabhängigkeit Irlands wüten unterdessen landesweit. Im Majestic spürt man davon wenig – von Edwards hysterischen Scheingefechten einmal abgesehen. Bis es für die anglo-irische Filterblase reell gefährlich wird und an der Frühstückstafel kein Besteck, sondern Revolver neben den Tellern liegen (die entsprechende Munition in den Zuckerdöschen), dauert es ganz schön lange. Doch was sich in der Zwischenzeit innerhalb des Hauses an Unruhen ereignet, das entspricht durchaus den großen Geschehnissen, gespiegelt auf kleinkosmischer Ebene. Hier toben Stolz, Verzweiflung, Sehnsucht, Trauer, Liebe, Anstand, Begehren und Hass auf engstem Raum. Es ringen verschlagene, nachtsichtige Katzen mit treuherzigen, blinden Hunden um Revieransprüche. Es wird scharf geschossen, geliebt, gelitten, geblutet, sich geschämt, sich amüsiert, sogar gestorben. Draußen wird Queen Victoria auf ihrem Ehrenplatz in der Hotel-Auffahrt angegriffen – drinnen wird eine lange nicht beachtete Marmor-Venus vom Staub befreit. Die Spencer-Kinder – Bruder Ripon, sowie die stets brandgefährlichen Zwillingsschwestern Faith und Charity – bescheren Edward graue Haare, indem sich ihre amourösen Absichten weder um konfessionelle Grenzen noch Anstandsregeln scheren. Und während Angela, des Majors ziemlich antriebslose „loving fiancée“, zunehmend kränkelt, kommt im Gegenzug deren liebste Freundin, die irische, katholische Sarah, nach einer ominösen Bettlägerigkeit Stück für Stück wieder auf die Beine, und diese Beine, ach!, haben geradezu bezaubernd zart-zierliche Waden! Wobei es aber dann doch eher der bezaubernde, herrische Kopf ist, der dem Major das Leben schwer macht. Sarah ist seine große, private Herausforderung. Um nicht zu sagen Schlacht. Fehlt sie ihm in seiner Nähe, läuft der ansonsten doch sehr kampferprobte Major kläglich aus dem Ruder.

He mastered with difficulty a great explosion of rage […], but he knew that the real reason for his irritation was the deprivation of Sarah’s company, for which, feverish and vulnerable, he felt an acute longing.

Schlimmer ergeht es ihm eigentlich nur, wenn die irrlichternde Sarah in seiner Nähe IST. (Sie kennen das vielleicht?)
Der letzte Winter im Majestic lehrt die Hausgemeinschaft bereits das Fürchten und den Major das Leiden, aber das ist noch nichts gegen den kommenden Frühling, der zum großen, apokalyptischen Feuerwerk (der Gefühle) gerät, und ich wünschte sehr, Rowan Atkinson hätte all dies dereinst verfilmt als Blackadder-Serienspecial, ja, das wäre wundervoll gewesen, aber egal jetzt – diese Geschichte ist extrem unterhaltsam, tiefgründig, anrührend und genügt sich selbst, vollauf.


> James Gordon Farrell, Troubles, Teil 1 der Empire Trilogy; die Originaltitel der Teile 2 und 3 lauten The Siege of Krishnapur und The Singapore Grip


Foto: Grebe 2016

ANEINANDER VORBEINSAM > Zusammen ist man irgendwie noch ein bisschen mehr allein

> Mira Gonzalez, Ich werde niemals schön genug sein, um mit dir schön sein zu können (Hanser)


Ich gucke Leute an, die tanzen und sich anfassen
Ich trinke Wodka mit Eis und fühle mich unglaublich beschissen
Ich frage mich, ob sich irgendjemand hier einsamer fühlt als vor einer Stunde
als sie allein in ihren Zimmern waren und sich Sachen im Internet angeguckt haben
(Ohne Titel 5)

Na, jede Zeit bekommt eben die Lyrik, die sie verdient.

„Ich frage mich“ ist an dieser Stelle rhetorisch gemeint, oder nicht? Vielmehr garstig ironisch – denke ich, wenn ich einen eher garstigen Tag habe. An einem eher lethargischen Tag allerdings nehme ich diese Frage wörtlich, so, wie ich mir diese Frage auch als lethargische 15-, 16jährige auf einer Party ganz ernsthaft gestellt hätte, wäre Sachen im Internet angucken damals schon ein Ding gewesen: Fühlen sich eigentlich alle heimlich einsam oder bin nur ich der Jammerlappen hier?

Ich bin aber doch nicht mehr 15, 16?
…Richtig?

Wie viele Merkmale, die Dich heute von Dir mit 15, 16 unterscheiden, kannst Du innerhalb von 20 Sekunden auflisten? Go!
Es ist gut, im Inneren immer ein bisschen wie 15 oder 16 zu bleiben. Discuss!

Vor fünf Jahren erschien Ich werde niemals schön genug sein, um mit dir schön sein zu können von Mira Gonzalez, bei Hanser, in einer übertrieben besonderen Ausgabe. Zweisprachig, tolle Typo, bisschen Pink etc. Nicht, dass ich das nicht hübsch fände. Aber ich frage mich durchaus, ob es not tut, ein Buch zu machen aus etwas, was sich überhaupt nicht anders anfühlt als zwei Stunden Rumeiern auf Twitter. Dem Twitter von 2014, wohlgemerkt. So viele Leute, so wenig echte Themen…

Na, jeder Lyrikband ist eben ein Dokument seiner Zeit.

Gut. Wie lange währte jene Zeit also, welche in Mira Gonzalez‘ Lyrik drinsteckt? Eine Tweetlänge? Fifteen minutes? Oder dauert sie ungebrochen an?

Ich berührte den klebrigen Staub auf der Innenseite meines Wandschranks und fühlte mich ohne besonderen Anlass schuldig
(aus: Ich wünschte, du würdest mich anschreien und ich würde zurückschreien und wir würden uns beide daran erinnern, dass wir mal eine Beziehung hatten, die das Geschrei wert war)

Du genießt deinen Hunger
Hunger ist ein lösbares Problem
Es liegt ein roher Triumph auf jedem Ort

an dem du keinen Sex hattest
(aus: 3,14159265359)

Ich glaube, ich höre auf, meine Brille zu tragen
Die Dinge erscheinen mir angenehmer, wenn ich nicht allzu scharf sehe
Ich hätte gern ein Gefühl, als würde mir 3 Jahre lang gemächlich ins Gesicht geschlagen
(aus: Vor 2 Wochen habe ich auf einer Party nach Drogen gesucht)

Diese Gedichte dokumentieren eine Zeit der Verweigerung gegenüber Anforderungen vieler Art. Anforderungen an die Form, denn die Form dieser Gedichte ist mal so, mal so, insgesamt eher irgendwie schnuppe. (Ich glaube, daher nervt mich diese hübsche Ausstattung der Hanser-Ausgabe auch so, die ist so appealing, das fühlt sich so ganz falsch an; man müsste diese Gedichte in Oktavhefte drucken, wie man sie in der Schule hatte, um seine Hausaufgaben zu notieren. Am besten sollten sie vielleicht gar nicht erst gedruckt, sondern handgeschrieben sein, mit Kuli; dazwischen ein paar Kritzeleien und, was weiß ich, Tabakkrümel.) Anforderungen an den Inhalt, denn der ist insgesamt ziemlich schnuppe, dabei stets sensationslos und zum Herzerbarmen selbstreferentiell. Anforderungen sozialer Natur an das lyrische Ich, dem die Natur des Sozialen insgesamt irgendwie fremd, aber sowieso auch irgendwie schnuppe ist. Über ihre Zeit, deren Dokumente diese Gedichte sind, sagen sie also vor allem aus, dass es sich dabei um eine Unzeit für Handlungs-, Gestaltungs- und Erfüllungswillen handelt.

Wenn ich Zeit sage, sind Sie übrigens aufgefordert, Raum bzw. Blase mitzudenken. Zeit und Raum markieren hier eine Blase, in der folgende Attribute bestimmend sind: millennial, single, mental instabil, emotional haltlos, isoliert, passiv, weiblich, westlich, weiß.

Ich hatte nichts gegen den Sex und die Autofahrten
die leisen Entschuldigungen für unser Unvermögen, mit unseren Mündern etwas Handfestes hervorzubringen
Ich habe in diesen Nächten so gut geschlafen
(wieder aus: Ich wünschte, du würdest mich anschreien und ich… usw.)

Warum lese ich diese Gedichte gern?

Am wohlsten fühle ich mich unter Leuten, die mir Vorwürfe machen
Ich finde, wer mir nicht dauernd Vorwürfe macht, lügt
oder will mich irgendwie anders (…)
In letzter Zeit hege ich die Vermutung, dass Trockenfrüchte mehr Kalorien haben als normale Früchte
Ich fühle mich wie 400 tote Quallen auf der Autobahn
(aus: Was ich heute gegessen habe: Kaffee, Currygemüsezeug aus dem Biomarkt, Pflaumen)

Warum zum Teufel fühle ich mich durch diese Gedichte so oft ertappt, erwischt, getroffen? Ich bin kein Single, nehme keine Drogen, bin emotional überhaupt nicht haltlos und mein 15-, 16jähriges, emotional haltloses, isoliertes, passives Ich, das offenbar in vielen Millennialköpfen noch selbstverständliches Wohnrecht genießt, habe ich doch längst unter viel Aufwand und Getöse rausgeschmissen! …Richtig?

Warum haben die vergangenen fünf Jahre mit ihren Themen, die uns doch alle so kollektiv, aktiv und aware haben werden lassen – Pegida, „Flüchtlingskrise“, Trump, Me too, Fridays for Future etc. pp. – dem atmosphärischen Wahrheitsgehalt dieser Gedichte nichts anhaben können? Wir glauben, endlich der nihilistischen Niemandsherrschaft entronnen zu sein, die uns seit den 90ern fest in ihrer Gewalt gehabt hat, denn nun gibt es plötzlich wieder Themen, die zählen, Dinge, für oder gegen die wir sein können, Menschen, die etwas zu SAGEN haben, nicht wahr? Kommt, ein paar Tage noch, und dann beginnt das nächste Jahrzehnt, ein ganz neues Jahrzehnt, und es wird das Jahrzehnt ganz neuer Bewegungen sein, und alle, alle machen mit! Innere Isolation war gestern – Schurkentum, Heldentum liegen auf einmal wieder in der Luft, wo zuvor bloß Kifferqualm war!
Wir sind doch endlich AUFGEWACHT jetzt!

…Richtig?

SPÄTSOMMER > Lack und Leben

Garten3

Sommerhitze ist wie Fieber – macht schwitzig und lähmt. Manche haben das gern. Andern ist das, wie in vormoderner Zeit, ein Begleitzeichen von Seuche und Verfall. Hitze ist Lust und/oder Leid. Hitze ist Hochdruck. Hitze ist Dringlichkeit: Trinken Sie zwei bis drei Liter täglich!, verschlingen Sie Ihr Eis sofort, sonst schmilzt es dahin und pladdert Ihnen vor den Latz!, lassen Sie niemals Kinder, Hunde, Katzen, Schokolade, Thermopapier-Kassenbelege im Auto, auch wenn Sie bloß kurz mal __!, verwenden Sie Sonnencreme!, mit besonders hohem LSF!, sonst Krebs!, behalten Sie Ihren Kreislauf im Auge!, suchen Sie umgehend medizinische Hilfe, falls Übelkeit, Nackensteifigkeit, Bewusstseinsstörungen bei Ihnen auftreten: Sonnenstichsymptome!, achten Sie auf Ihre Mitmenschen, insbesondere ältere!, und die Bienen – stellen Sie Bienentränken auf!, vergessen Sie nicht, Ihre Hortensien dreimal täglich zu wässern!, gießen Sie Gärten, gießen Sie Bäume!, nein, verschwenden Sie kein Wasser!, lassen Sie Lebensmittel nicht ungekühlt stehen, nie!, Ihr Brot, gestern gekauft: es schimmelt!, Ihre frische Melone: schon klitschig geworden, übersüßlich, belagert von Fruchtfliegen!, Ihr Kartoffelsalat: fürchten Sie Salmonellen!, und fürchten Sie die Wespen, die Wespen!

Die Hitze krakeelt! Alles schwelt, man schmort. Bis:

Im September legt sich was übers Sonnenauge. Dass es seine Lider schließe, lässt sich nicht behaupten – November ist noch fern -, doch es besitzt eine Nickhaut: feines, durchscheinendes Gewebe, welches nun seine brennende Klarheit verdeckt.
Setzen Sie sich ein Stündchen nach draußen, an die milde Luft, ins Helle, und essen Sie… in aller Ruhe… ein Eis.
Wie schmeckt Ihnen jetzt dieses Eis?
Wie fühlt es sich an, eine Stunde lang an der frischen Luft zu sitzen, nun, da diese Stunde nicht mehr vergoldet wird von Sonnenbrand?
Die Luft sitzt nicht mehr auf Ihnen drauf wie eine herrische Katze, dick und warm, sondern rührt sich wieder, rührt sich leicht und schwingend, rührt in trockenen Blättern herum.
Aber klingt dieses Geraschel nicht melancholisch?
Meine Sonnenblumen wanken, von kleinen Windböen geschüttelt. Ich glaube, sie zittern.

Wenn Sie gern Fotos knipsen, kennen Sie das: Intensives Sonnenlicht ist der schönste Goldlack. Alles leuchtet wie von innen heraus. Eine hochsommerliche Beleuchtung veredelt selbst noch die verschrumpeltsten Erdbeeren oder das verdorrteste Rosenköpfchen.
Was nun, im September, wenn auf das ganze anstrengende Gleißen die Erschöpfungsmüdigkeit folgt? Wenn bald der Goldlack ab ist?

Gerade lese ich ein schmales Gedichtbändchen: Menno Wigman, Im Sommer stinken alle Städte.
Selten hat ein Buchtitel so schamlos recht. Bei Hitze beginnt ja die ganze Zivilisationssuppe zu kochen. Aus Eckpfützen, Bordsteinrinnsalen, U-Bahn-Sitzen und dem Saum dichter Gebüsche steigen stechende Aromen empor. Der Sommer kocht allem das Mark aus den Knochen, und vor allem uns: Es brodelt binnenmenschlich. Und zwischenmenschlich sowieso.
Das ist natürlich das blanke Leben.
Beim ersten Durchlesen wundert es mich fast, in einem Gedichtband mit solchem Titel nicht ein einziges Sommerhitze-Gedicht zu finden, aber eben nur fast: Auch ohnedem ist hier alles drückend, drängend, dräuend, alles gärt und kocht. Das Leben halt.
Hier insbesondere das Leben auf der Kippe, das Leben kurz vor oder nach dem Kippen, das Leben mit Kippe, Schnaps oder Koks.

Allgemeine Raublust! Perfektion! Paarungstrieb!
(
aus: Billboards)

Es sind Abgesänge auf das Leben – das eigene, das allgemeine, das spezielle Stadtleben von Amsterdam; außerdem zwei Gedichte, die Wigman für „einsame Bestattungen“ (wo es also keine Freunde oder Angehörigen, keine sonstigen Anwesenden gibt) schrieb und dort vortrug. 33 Gedichte, die sich nichtsdestotrotz fest ans Leben krallen.

Ich kenne die Tristess von Copyshops, / von hohlen Männern mit vergilbter Tagespresse, / bebrillten Müttern mit Umzugsberichten, / den Geruch von Briefpapieren, Kontoauszügen, / Steuerformularen, Mietverträgen, / der nichtigen Tinte, die sagt, dass es uns gibt. (…) / hätt ich doch etwas Neues, etwas Neues bloß zu sagen. / Licht. Himmel. Liebe. Krankheit. Tod. / Ich kenne die Tristess von Copyshops.
(
aus: Zum Schluss)

Dies „hätt ich doch“ ist so präsent, es quillt aus wirklich jeder Zwischenzeilen-Ritze. Hätt ich doch! Was Besonderes an mir, mehr geliebt, besser Bescheid gewusst, einen Plan – hätte, wäre, könnte! Nur, helfen tut’s ja doch nicht. Mal schimpft Wigman gegen diese Vergeblichkeit an, mal lässt er sich auch sachte hineinfallen; immer hält sie ihn fest an der Hand.

Viel Geschimpfe, viel Weh. Und doch: das blanke Leben halt. Wigman starb 2018, 51jährig, und wie ich hier so sitze und ein paar seiner Gedichte lese, kommt mir in den Sinn, dass er damit unmöglich einverstanden gewesen sein kann. Wer sich so sehnt, so garstig liebt und so melancholisch pöbelt, wer sich so heiß am Leben abarbeitet… So eine Hitze ist ja purer, allerschönster Goldlack. „Und doch“, spricht da der Körper, der kranke, und fragt bald nicht mehr nach Sonnenschein.


> Menno Wigman, Im Sommer stinken alle Städte (Parasitenpresse) ist eine 2016 aufgelegte Auswahl von Gedichten aus Wigmans Werken ’s Zomers stinken alle steden (1997), Zwart als kaviaar (2001), Dit is mijn dag (2004), Mijn Naam is Legioen (2012) und Slordig met geluk (2016).


Foto: Grebe 2019

SPÄTSOMMER > Der dreißigste August

Das Jahr ist ein Gliedertier: Frühling, Sommer, Herbst und Winter.

Die Lebensphasen, die stellt man sich oftmals genauso gestaffelt vor wie die Jahresphasen; überhaupt vergleicht man sie mit allen möglichen Schrittfolgen des Gangs der Natur:
Anfangs die morgendlich frische Kindheit, es folgt die mittagsheiße Blütezeit als Erwachsener, Lebensernte im Lebensherbst, schließlich die nächtlich kalte, lichtarme Endphase, wo die Dinge absterben, sich auflösen, unter die Erde gehen.

Ich schaue meinen Sonnenblumen zu, wie sie ihre Köpfe gegen den dicken Himmel stemmen – noch weiter hoch, und noch ein bisschen. Der Himmel wiederum schmilzt ihnen die Köpfe krumm und drückt sie so von sich weg, und weiter bodenwärts, und noch ein bisschen.

Spätsommer haben wir’s. Das ist, so als Jahresphase, also rein äußerlich schon, etwas massives.

August! Da waren sie, die Tage aus Eisen, die in der Schmiede zum Glühen gebracht wurden. Die Zeit dröhnte. Die Strände waren belagert, und das Meer wälzte nicht mehr seine Wellenheere heran, sondern täuschte Erschöpfung vor, die tiefe, blaue. Am Rost, im Sand, gebraten, geflammt: das leichtverderbliche Fleisch des Menschen. Vor dem Meer auf den Dünen: das Fleisch. Ihm war angst, weil der Sommer sich so verausgabte. Weil das bedeutete, daß bald der Herbst kam. Der August war voll Panik, voll Zwang, zuzugreifen und schnell zu leben.

Das stammt aus Ingeborg Bachmanns Erzählung Das dreißigste Jahr, worin ein namenloser Er (mal wird allwissend über ihn geplaudert, mal kommt er selbst zu Wort) die Dreißig als Wendepunkt in seinem Leben begreift, als eine Bewusstseinswende und auch eine Wende der äußeren Gegebenheiten, zusammenfallend mit dem Spätsommer.

Er pendelte zwischen dem Meer und der Stadt hin und her, zwischen hellen und dunklen Körpern, von einer Augenblicksgier zur andern, zwischen Sonnengischt und Nachtstrand, mit Haut und Haar gepackt vom Sommer. Und die Sonne rollte jeden Morgen schneller herauf und stürzte immer früher hinunter vor den unersättlichen Augen, ins Meer. Er betete die Erde und das Meer und die Sonne an, die ihn so fürchterlich gegenwärtig bedrängten. Die Melonen reiften; er zerfleischte sie. Er kam vor Durst um. Er liebte eine Milliarde Frauen, alle gleichzeitig und ohne Unterschied.

Als Jugendliche (Oberstufe) ließ ich mich davon total erschlagen, von dem Geruch und dem Geschmack, den diese Erzählung abgibt, von ihrer gärigen Üppigkeit, die so gefährlich nah dran ist, in Fäulnis umzukippen. Ihrer Kompostwärme. Gewitterdruck lastet auf diesen Sätzen. Mich erschlug’s wirklich – aber mitgeben konnte es mir so gar nichts. Noch nichts. Zu früh alles.

Selbst dreißig geworden, verschwendete ich dann aber keinen einzigen Gedanken an Bachmannsche Sätze. Ich hatte ein Kleinkind und einen Haufen Dinge um die Ohren und nie Schlaf, ich steckte mit dem Kopf vollauf in einem ebenso lebenswütigen Frühling, kurz, ich hatte zu tun.

Und jetzt, Mitte dreißig?

Wer bin ich denn, im goldnen September, wenn ich alles von mir streife, was man aus mir gemacht hat? Wer, wenn die Wolken fliegen!

denkt Bachmanns Er, vom Sommer getrieben, gegart, geschleift.

(…) nichts, was ich denke, hat mit mir zu schaffen. Nichts anderes ist jeder Gedanke als das Aufgehen fremder Samen. Nichts von all dem, was mich berührt hat, bin ich fähig zu denken, und ich denke Dinge, die mich nicht berührt haben. (…) Warum habe ich einen Sommer lang Zerstörung gesucht im Rausch oder die Steigerung im Rausch? – doch nur, um nicht gewahr zu werden, daß ich ein verlassenes Instrument bin, auf dem jemand, lang ist’s her, ein paar Töne angeschlagen hat, die ich hilflos variiere, aus denen ich wütend versuche, ein Stück Klang zu machen, das meine Handschrift trägt. Meine Handschrift!

Über Nacht kommt so ein Morgen, wo der Heuduft des Sommers ins Schwächeln gerät, weil er das Gewicht der Herbstgerüche von Totholz, Waldpilzen, nassem Laub plötzlich mittragen muss.
Auf den, seiner Trägheit und Hitze wegen, so quälend endlos anmutenden August folgt der September wie eine unerwartet eingetroffene Nachricht, mit der zunächst einmal nichts vernünftiges anzufangen ist.
Auf „Mitte dreißig“ folgt „fast vierzig“ wie eine Unebenheit im Boden, ein beginnendes Gefälle, worauf man nicht gefasst war.

Auf Frühling folgt Sommer, auf Sommer Herbst, dann Winter – so geht das Jahr, hat man gelernt. Doch fängt die Zählung des Jahres ja mitten im Winter an, und sein kalendarischer Mittelpunkt liegt bloß ein paar Tage hinterm Frühlingsende, und wenn der Sommer vorbei ist, beginnt schon gleich, im Handumdrehen, das letzte Jahresviertel.
Und mag man (weil man um die Ohren hat, weil man zu tun hat) auch noch so unbeirrt wähnen, in vollem Lauf unterwegs zu sein – nur einen Schritt weiter, und schon ist man da, und noch einen, schon steht man mittendrin, mit beiden Beinen: im Abschlussquartal, nicht wahr?
Im Endspurt, wo die Ziellinien drohen.


> Ingeborg Bachmann, Das dreißigste Jahr (Piper)


Foto: Grebe 2019

FLUGWESEN > Durch Ruhe und Sturm mit Ernst Schnabel

„Pionier des Radio-Features“ ist der legitime Ehrentitel Ernst Schnabels: großer Nachkriegs-Radiomacher, von 1951-1955 Intendant des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR), immer auch selbst Schriftsteller. Seemann war er noch dazu. Ach, und obendrein Pilot.
Übers Radio bin ich denn auch auf Schnabel gestoßen. Durch eine vierteilige Sendereihe des Deutschlandfunks, irgendwann vor ein, zwei Jahren ausgestrahlt: Zu hören war das Interview mit einem Stern, eine Hörspielproduktion des NWDR von 1951, mit Stimmen von, unter anderem, Hardy Krüger, Heinz Klevenow, auch Ernst Schnabel selbst; Regie führte Fritz Schröder-Jahn.

Nun kommen wir auch schon zu der Stelle, wo ich erzähle, wie lieb ich doch diese verstaubten Hörspiele aus der ganz jungen bis mittleren BRD-Ära habe. Die Fälle des Paul Temple. Das Totenschiff von B.Traven, oder Das Schiff Esperanza von Fred von Hoerschelmann. Die frühen Gewinner des Hörspielpreises der Kriegsblinden, wie Bachmanns Der gute Gott von Manhattan, oder Der Bussard über uns von Margarete Jehn, oder Dürrenmatts Die Panne. Klaus Kinski, den ich in Film und Fernsehen einfach nicht ertragen kann, las (oder eher: performte) 1960 für den Hessischen Rundfunk das von Horst Bienek geschriebene Ein-Mann-Stück Sechs Gramm Caratillo; 1962 sprach er die Hauptrolle im HR-Hörspiel Die Nacht allein, geschrieben von Wolfgang Graetz; beide Stücke Klassiker, an denen ich nichts Liebenswertes finde und die ich dennoch liebend gern höre.
Naturgemäß verströmen die Hörspielproduktionen aus der Glanzzeit der bundesrepublikanischen Rundfunkanstalten heute reichlich Patina, bzw. altbacksche Luft, insbesondere solche Krimihörspiele in klassischer Whodunit-Manier, die nach Faltenrock, Tweedsakko und Samtcord klingen. Aber es ist – nützt ja nichts – besonders diese Gestrigkeit, die ich an ihnen so gern hab.
Läuft ein Stück wie Die Treppe von John Whiting (eine Produktion des WDR von 1962, Regie: Wolfram Rosemann), fühle ich mich direkt zurückversetzt auf den falschen Orientteppich unterm Stubentisch meiner Großeltern, wo ich, vorzugsweise an verregneten Nachmittagen, in Zeitschriften blätterte, während meine konzentriert häkelnde Oma nebenher auf dem Fernseher einen Miss-Marple-Film laufen ließ. Häufig kam vor, dass ich unterm Stubentisch vergessen wurde und so beim Abendprogramm – oft Edgar Wallace oder Alfred Hitchcock, und viele Filme mit der jungen Senta Berger, dem jungen Hansjörg Felmy, dem ewig großartigen Gert Fröbe – heimlich mitlauschen konnte, bis mich meine Mutter, der irgendwann auffiel, dass ich längst hätte zu Bett gehen sollen, dann doch fand.

Zurück zu Ernst Schnabel: Der Name sagte mir nichts, obwohl mir durchaus einige der Hörspiele bekannt waren, die Schnabel produziert und teils selbst verfasst hatte, erst als Chefdramaturg, dann Leiter der Abteilung Wort, schließlich Intendant des Hamburger Funkhauses des NWDR, später als Mitarbeiter des NDR und des Sender Freies Berlin (SFB). Das Manuskript zu Wolfgang Borcherts Stück Ein Mann kommt nach Deutschland wurde von Ernst Schnabel und dessen Bruder Günther (damals als Hörspielredakteur für den NWDR tätig) bearbeitet; auf Ernst Schnabels Vorschlag hin änderte Borchert den Titel zu Draußen vor der Tür; seine Uraufführung erlebte das berühmte Stück nicht am Theater, sondern, im Februar 1947, als Hörspielausstrahlung des NWDR. Parallel arbeitete Ernst Schnabel an einer besonderen Art von Collage: Nachdem der NWDR dazu aufgerufen hatte, dass die Hörerschaft an einem bestimmten Stichtag, nämlich dem 29.Januar 1947, den individuell erlebten Tag beschreiben und diesen Bericht einsenden möge, entwickelte Schnabel aus den rund 35.000 Zuschriften ein zeitdokumentarisches Stück, das den Alltag der Menschen im verheerenden Hungerwinter 1946/47 widerspiegelte. Das Ergebnis wurde im Mai, inszeniert von Ludwig Cremer, der bereits bei Draußen vor der Tür Regie geführt hatte, unter dem schlichten Titel Der 29. Januar ausgestrahlt – es schrieb Rundfunkgeschichte. 1957 stellte Schnabel eine Reportage zusammen, die sich mit Anne Frank befasste. Der Verlag S.Fischer hatte den Auftrag zu einer Hintergrundrecherche ausgeschrieben, als Reaktion darauf, dass öffentliche Stimmen die Echtheit des Tagebuchs der Anne Frank anzweifelten. Schnabel fand und interviewte Menschen, die Anne Frank begegnet waren, in den Niederlanden oder in Bergen-Belsen, setzte sich mit Kontakten in Deutschland, Holland, der Schweiz und Kanada in Verbindung und trug seine gesammelten Texte zu einem Feature zusammen, das 1958 im Norddeutschen Rundfunk ausgestrahlt wurde. Unter Regie von Fritz Schröder-Jahn und besetzt mit bekannten Sprechern wie Heinz Klevenow und Hans Paetsch, wurde Anne Frank. Spur eines Kindes zu einem Radio-Ereignis, das – auch in Buchform – in viele Sprachen übersetzt und mehrfach preisgekrönt wurde.
Die ARD-Hörspieldatenbank listet allein 25 Stücke des NWDR, NDR, WDR und SWF, die Ernst Schnabel als Autor verantwortete. Darüber hinaus gibt es eine große Anzahl von Hörspielen und Reportagen für den Rundfunk, die er redaktionell oder als Produzent bearbeitete, begleitete, vorantrieb. Alfred Andersch nannte Schnabel einen wahren „Geheimschreiber“: Ein großes Talent, noch dazu wahnsinnig produktiv – leider eben für den Hörfunk. Als AutorIn dieses Mediums schrieb man für ein ungemein großes Publikum, das allerdings nur selten nach Namen fragte. Mithin schafften es nur wenige Rundfunkmacher (fallen Ihnen irgendwelche Rundfunkmacherinnen ein?) in die Annalen der Nachkriegsliteratur, in den Kanon für den Deutsch-Leistungskurs. Dabei hatte Schnabel bereits vor seiner Rundfunkzeit mehrere Bände seiner seemännischen Erzählungen veröffentlicht. Und auch später erzielte er durchaus den einen oder anderen Erfolg auf dem Buchmarkt. Der sechste Gesang beispielsweise: Nicht nur das NWDR-Hörspiel (Erstausstrahlung 1955, Will Quadflieg sprach den Odysseus), sondern auch die bei S.Fischer verlegte Textausgabe seiner sehr gegenwärtigen Odyssee-Adaption ließen aufhorchen. Und doch ging Schnabel so erschöpfend im Rundfunk auf, dass keine Energie blieb, um sich als freier Schriftsteller nachhaltig zu etablieren; sein Tod 1986 wurde ohne sonderlichen Feuilleton-Rummel zur Kenntnis genommen.
Zu Schnabels erklärten Lieblingsautoren zählten Joseph Conrad, Herman Melville, Ernest Hemingway. Das spürt man seinen eigenen Texten durchaus an. Er schrieb jedoch nicht bloß im Geiste klassischer Weltenbummlerliteratur, er lebte auch so – wobei Schnabel nicht etwa als markiger Abenteurer in Erscheinung trat, sondern einfach als ein Süchtiger nach Beobachtung. „Ernst Schnabels Werk wird niemals etwas anderes sein, als die fortlaufende Beschreibung seiner großen Liebesaffäre mit der Erde,“ schrieb Andersch über seinen Radiokollegen.

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Interview mit einem Stern, 1951 im NWDR erstausgestrahlt und parallel im Claassen Verlag Hamburg als Buch herausgegeben (eine wunderschöne Ausgabe übrigens, versehen mit vielen zeitgeistsatten Zeichnungen von Gerhard C. Schulz), ist die Dokumentation einer Weltumrundung mit dem Flugzeug. Und ein Seelenbericht. Eine Textcollage… Wie soll man’s benennen? Noch einmal Alfred Andersch: „Ob der Funk schon begriffen hat, was ihm an jenem Abend im NWDR widerfahren ist? Er hatte eine Reportage bestellt und bekam eine Dichtung.“ 
Schnabels Idee zu diesem, ja, Feature ging zurück auf eine Erfahrung aus seiner Zeit auf See, die ihn ungebrochen umtrieb: Er hatte auf seinen Schiffsreisen, wie man so schön sagt, die ganze Welt gesehen – nur eben nicht als ein Ganzes, nicht an einem Stück. Die unzähligen Bilder, die er mit den Jahren sammelte und die, sollte man meinen, zusammengesetzt doch ein ungemein rundes Weltbild ergeben müssten, bewirkten aus Schnabels Sicht vielmehr ein Gefühl von Weltzersplitterung. Nun aber, da der technische und logistische Stand der Dinge eine Reise um die Welt in deutlich weniger als 80 Tagen möglich machten, reizte es Schnabel, eine solche Flugreise zu unternehmen, um die Welt doch einmal als ein Ganzes erfahren und begreifen zu können.
Der Marathon nötiger Vorbereitungen zu jener Reise gestaltete sich freilich aufwändiger und langwieriger als am Ende die Reise selbst…
Bedenken Sie, wir befinden uns im Jahr 1951. Nicht etwa der Terminplan, sondern die Meteorologie bestimmt in dieser Zeit die Flugverläufe, und so sitzt unser Weltenbummler, nach Anreise aus Hamburg mit Zwischenstopp in Berlin, zunächst einmal in einem Münchener Hotel fest, weil seine Maschine wegen des Wetters noch nicht ins Abenteuer aufbrechen kann. (Anhand solcher Schilderungen begreift man, wie tief der internationale Passagierflugverkehr hier in den Kinderschuhen steckt.)

Dort saß er mit gesenktem Kopf. Grün vor Ärger wegen des Nebels. Weiß vor Erschöpfung, denn er hatte zweieinhalb Monate lang mit verschiedenen Konsulaten verhandelt. Die Brust durchbohrt von vielen Injektionen, denn man hatte ihn gegen neunundneunzig Krankheiten geimpft, einschließlich der Pest, von der er eigentlich angenommen hatte, sie sei nur eine Erfindung französischer Schriftsteller. Kurz: Er saß im Bett und ließ den Kopf hängen. Aber dann raffte er sich auf (…) und notierte: „Noch immer in München. Der Start wurde auf morgen verschoben. (…) Aber ich habe das Flugzeug schon gesehen. Eine große viermotorige Constellation. Sie stand silbern im Schnee und Nebel, von allen Scheinwerfern des Flugplatzes angestrahlt, und ihre Flügel warfen große schwarze Schatten in die Nacht. Am Bug steht ihr Name: Clipper GOLDENES VLIES; darüber, den ganzen Rumpf entlang: PAN AMERICAN AIRWAYS. (…) Das ganze Ungeheuer ist dreimal so hoch wie ein Elefant und länger als ein Walfisch, es ist schwerer als fünfzig Autos und so stark wie ein Zehntausendtonnendampfer – und stand dennoch im schwebenden Nebel: graziös, makellos und geheimnisvoll wie ein Einhorn.“

Auch das zeichnet die Pionierzeit jenes Verkehrssektors aus: Man begegnet dem Flugzeug mit einer gehörigen Portion Romantik (die man sich in der Epoche der Billigflieger natürlich längst abgewöhnt hat).
Es ist nicht allein meine Schwäche für Antiquiertes, die mir das Hörspiel (wie auch das Buch) auf Anhieb sympathisch machte. Als Dokument seiner Zeit konserviert Schnabels Interview mit einem Stern, unserem Stern, eine Ansicht dieser Welt, die heute so vollkommen verschwunden ist – die ja schon verschwunden war, während ich noch auf dem falschen Orientteppich unterm Stubentisch lag und in Magazinen blätterte, in Zeitschriften voller Namen wie Kohl, Gorbatschow, Mitterrand, Honnecker, Reagan.

Von welcher Welt ist hier eigentlich immer die Rede? …Mittwoch, 17.05. Uhr – Anschluß nach Kairo, Mekka und Bagdad. An Kalkutta: Donnerstag, 20.15Uhr. – Anschluß nach Colombo und Mandalay. An Honkong: Freitag, 11.10Uhr. – Anschluß nach Manila, Sidney und Hawai. An Tokio: Sonntag, 5.00Uhr. – Anschluß nach… Das ist die Welt… Nein, es ist nur der Fahrplan in der linken Rocktasche unseres Reisenden.

Von welcher Welt reden wir also?
Es ist – ja, genau: 1951. Der Zweite Weltkrieg steckt dieser Welt noch spürbar in den Knochen. Das Berlin, welches von Schnabel überflogen wird, sieht mit seinen noch immer zahllosen Ruinen von oben aus wie Gestrüpp aus Stein und Schrott, und es ist voll und ganz Militärzone. An so vielen Orten sichtet der Reisende Zeichen von Krieg: Zwei Tage später zieht unter dem Clipper der PAN AM ein Gebiet dahin, das Indochina heißt, und dort kämpfen französische Truppen und Fremdenlegionäre gegen Viet Minh, seit fünf Jahren schon, und es wird noch ein paar Jahre so weitergehen, und danach wird der Indochinakrieg Vietnamkrieg heißen und erst in etwa 24 Jahren nach diesem Flug des Clippers allmählich enden, und was sich daran anschließen wird, ist die Zeit der Roten Khmer… Am sechsten Tag: Tokio. Noch so eine Hauptstadt, die Schnabel als Nachkriegsschauplatz erlebt:

In den Parks wurde der Schutt zusammengefahren. Die Löcher in den Straßen sind nur notdürftig wieder aufgefüllt.

Im Nachbarland Korea hat erst im vorigen Jahr ein internationaler Krieg begonnen.

Ich hatte eine Blutplasma-Spende deutscher Angestellter der PAN AMERICAN AIRWAYS für die Truppen der Vereinten Nationen mitgebracht und rief das Hauptquartier an. General MacArthur war nicht in der Stadt, und ich übergab die beiden Behälter am Abend einem amerikanischen Piloten. Ich habe vom Koreakrieg in Tokio nichts gespürt. (…) Aber wie ich den Telefonhörer in der Hand hatte und zuhörte, wie ich von einer Stelle zur anderen verbunden wurde im Hauptquartier und das Gesumm hörte, halb Elektrizität, halb Stimmen im Hintergrund, da war es, als horchte ich in einem großen, präzisen, schnurrenden Roboter hinein.

Auch das ist Krieg: eine schnurrende Maschinerie…
Es ist 1951. San Franzisko schreibt der Reisende noch selbstverständlich mit k.
Oft verschränkt Schnabel den Blick aus dem Flugzeugfenster mit den Schlagzeilen der (jeweils beim letzten Stopp eingeholten) regionalen Zeitungen, die von der Stewardess gereicht werden – soweit er diese lesen kann. Er erzählt von Gesprächen mit Reisebegleitern und Einheimischen.
Mal stellt er Unterschiede zwischen Flug- und Schiffsreise heraus. Andermals findet er die eigentümliche Atmosphäre, die an Bord eines Schiffes herrscht, an Bord des Flugzeugs sehr genau wieder:

Ich bin im Morgengrauen im Cockpit gewesen. Es war, wie alle meine Morgenwachen auf See gewesen sind: Ein halbes Licht in der Kanzel. Vor dem großen, halbrunden Bugfenster der bleigraue Himmel, darin die Silhouetten der beiden Piloten, die Köpfe, die Schultern, die Hände auf den Rädern der Steuerknüppel. An der Wand eine Mütze, die sich sacht hin und her bewegt. Alles andere dunkel. Ein blauer Lichtkegel über dem Tisch des Funkers. Eine zweite Lichtinsel auf dem Tisch des Ingenieurs. Und überall im Finstern das vibrierende Phosphorlicht der Kontrollröhren und Skalen ohne Zahl. Und die selbe überwache Vor-dem-Morgen-Stille wie auf den Schiffen. Jeder hat einen eigenen Punkt, auf den er starrt, und alle fürchten in sich, daß einer etwas sagen könnte. Natürlich sagt dann einer etwas.

Die Zeiten von vibrierendem Phosphorlicht im Cockpit sind heutzutage ebenso lange vergangen, wie es viele der Landesnamen und die meisten der Zahlen sind, mit denen Schnabel hantiert, beispielsweise zur Größenordnung von Städten. Oder zum Stand der Weltbevölkerung:

(…) wenn man uns alle auf einem Feld versammelte, alle zwei Milliarden, die es gibt – ein Feld von fünfundzwanzig Kilometern im Quadrat wäre groß genug für uns, und das Flugzeug hätte uns in vier Minuten überquert!

1951. Diese Welt verbindet noch unmittelbar etwas mit dem Wort Weltkrieg, aber noch lange, lange nichts mit dem Begriff Globalisierung. Die erste Weltumrundung per Flugzeug liegt gar nicht so undenkbar weit zurück; sie wurde 1924 von amerikanischen Piloten durchgeführt, die dafür 157 Tage benötigten. Der erste weltumrundende Nonstopflug wurde 1949 – vor zwei Jahren erst – von einem US-Piloten absolviert und dauerte knapp vier Tage.
Die verschiedenen Clipper der PAN AMERICAN AIRWAYS, mit denen Schnabel unterwegs ist, führen ihn in neun Tagen um die Welt, inklusive Zwischenaufenthalten. Nicht einfach, die diversen notwendigen behördlichen Papiere für eine Weltumrundung als Flugpassagier zu beschaffen. Zumal als Bürger der Bundesrepublik Deutschland: Der Weltkrieg ist kaum sechs Jahre her, die diplomatischen Verhältnisse gestalten sich im Allgemeinen kompliziert, und noch komplizierter steht es um den Status der jungen Bundesrepublik – erst im Juli werden die Westalliierten die formelle Beendigung des Kriegszustandes mit Deutschland beschließen, und das Besatzungsstatut wird noch solange bestehen bleiben, bis die Pariser Verträge 1955 die Westintegration der BRD fixieren und ihre Teilsouveränität herstellen werden, was 1951 alles noch einigermaßen in den Sternen steht.
An den Sputnik ist noch nicht zu denken. Und die ersten Fotoaufnahmen, die unseren Stern aus dem All zeigen und ihn uns als ein Ganzes erkennen und begreifen lassen – blau und wolkenmarmoriert, inmitten von überwältigendem Schwarz –  wird erst die Raumfahrtmission Apollo 8 liefern. In siebzehn Jahren.

Die Sonne strahlt flüssig und lackiert den Himmel.

Über den Wolken ist es still. Hier herrscht eine Ruhe, die vor den Fliegern nur die Gestirne kannten. Stürme, Kriege, Fabriklärm, große Feste – die Welt von 1951 trägt ihren Lärm nicht heran an die Clipper, die entlang der Tropopause, in 5000, 6000 Metern Höhe fliegen. Aber ihr Licht schon. Und diese winzigen Punkte auf der Oberfläche, die Menschen sind, verraten durch all die Lichter, die sie nachts entzünden, wieviel Unruhe unterhalb jener stillen Zone herrscht, bei den Menschen, in den Menschen.

Ich sah die Lichter aufflammen und ausgehen, in Athen, wie’s Abend wurde, in Damaskus, am Euphrat, in den verlorenen Dörfern von Bengalen und die unheimliche Glut von New York um Mitternacht. Ich weiß keinen guten Rat für uns. Wir verbreiten viel Unruhe. Aber manchmal ist es, als mache sie den kleinen, ausgeglühten Stern, auf dem wir wohnen, wieder leuchten.

Schnabel macht später selbst den Pilotenschein. Wird Hobby-Flieger und betätigt sich bei Gelegenheit auch fürs Fernsehen als Pilot. 1955 veröffentlicht er Die Erde hat viele Namen (ein Titel, mit dem Schnabel einen recht direkten Anschluss zum Interview mit einem Stern herstellt, das mit ebendiesem Satz endet), eine Sammlung von Texten übers Fliegen.
Vermisst man aber, so hoch droben, nicht vielleicht doch früher oder später einmal die Berührung mit der Unruhezone? Als Seemann war Schnabel freilich näher dran am Brausen der Hafenstädte, am Brausen der Stürme…

Schnabel3 (2)

Über lange Zeit war Schnabel von der Idee bewegt, einen Roman zu schreiben, worin es um einen Tropensturm von September 1861 gehen sollte – einen richtigen, einen ambitionierten Roman; womöglich einen von der Sorte, die man so im Sinn hat, wenn man sich ausgiebig mit Joseph Conrad beschäftigt. Nebenher, im Privaten, verfasste er allerhand Material, das einmal Roman werden sollte. Sieben Opfer jenes Hurrikans, die an Land gespült und dort nebeneinander liegend aufgefunden werden, sollen zur Geschichte ihres Ertrinkens „befragt“ werden, ihr „Erzählen“ soll zugleich den Verlauf des Unwetters rekonstruieren; Schnabel schrieb da gewissermaßen an seinem „Interview mit einem Sturm“.
Sie wird wohl ungebrochen gewesen sein, die Sehnsucht nach dem Rauschen, ach was: dem Rausch des Meeres. Und vielleicht war sie vor allem dies: eine Sehnsucht nach dem großen Sturm.
Was von diesem Romanprojekt blieb, ist ein Textkörper, der unter dem Titel Hurricane, oder Die Nachrichten aus der Gesellschaft irgendwo, irgendwann in den 70ern gedruckt wurde. (Mir liegt er in einer kleinen dtv-Ausgabe von 1984 vor, die mit Auf der Höhe der Messingstadt noch einen weiteren Prosa-Anlauf Schnabels beinhaltet.)

Es ist schnell gesagt, was in dieser Stunde mit dem Meer geschah: es wurde aufgerollt. Die blendend wellende Seidenbahn, die seine Oberfläche überspannt, wurde zerfetzt und von fauchenden Böen nach Norden getrieben, und drunter kam das bloße Meer zum Vorschein, wie es ist, wenn keiner es sieht.  (…) man konnte kaum atmen. Es gab jetzt keine Luft mehr, nur Gischt, der zog. Ich hatte das noch nie gesehen. Der Gischt zog, wie Schnee, wenn Sturm ist, ziehen kann, oder wie ein weißes Feld. Wir lagen alle acht im Boot. Ich weiß nicht, wer noch lebte. Ich habe doch gesagt, dass es vollgeschlagen war. Der Harpunier lag neben mir. Ich hielt mich an ihm und an der Ducht fest. Da hat er noch gelebt. Wir brauchten jetzt kein Wunder. Es war eins, daß das Boot nicht umgeschlagen war.

Hurricane, diese Sturmgeschichte, löst sich zum Ende hin in sich selbst auf – nicht anders also, als auch Stürme zu enden pflegen. Vielleicht reichte bloß Schnabels Zeit nicht aus, um neben Rundfunk und Familie auch noch dieses Projekt zu pflegen. Vielleicht war das mit der Prosa aber auch einfach nicht sein Ding, könnte man meinen, und dieser Gedanke liegt umso näher, als es Schnabel für geboten hielt, seine Prosabeschreibung eines Sturms zur See um den ausführlichen Erlebnisbericht eines Sturmfluges zu erweitern, den er 1965 unternommen hatte: Im Auftrag des NDR war Schnabel „nach Karibien gereist, um an Aufklärungsflügen der Hurricane Hunters der 53rd US Weather Reconnaissance Squadron teilzunehmen, die an der Nordwestküste von Puerto Rico stationiert“ waren. Sein Bericht erfolgte in Form von Briefen, die Schnabel im August und September ’65 alle paar Tage verfasste. Er nimmt darin zu Anfang Bezug auf seinen begonnenen und doch verworfenen Roman, auf den Tropensturm von 1861, auch auf einen Jungen namens Hamilton, der 1772 in Briefen an seinen Vater beschrieb, wie er einen Hurricane auf der Insel St.Croix erlebt hatte. Und dann ist es soweit, und es kommt ein Wirbelsturm heran, den die Aufklärungsflieger durchmessen wollen.

Als ich ins Hotel zurückkam, lag da eine Nachricht für mich beim Portier: Die Hurricane-Jäger hatten angerufen, ich solle um drei in der Nacht auf dem Flugplatz sein. Um drei also. Jetzt.

Das wird ein anderer Flug, als das neun Tage währende, besinnlich-stille Gleiten überm Planeten, was Schnabel im Interview mit einem Stern beschrieb.

Der Colonel sitzt im linken Pilotensitz. Ich stehe halb hinter ihm, an der seitlichen Verglasung der Kanzel. Wir haben ausgemacht, daß ich mich nicht anzuschnallen brauche – ich würde sonst nichts sehen können -, aber wenn mir der Colonel ein Zeichen gibt, werde ich mich auf den Boden des Cockpits setzen, den Rücken gegen den Batterien-Kasten stemmen, die Füße gegen die Verstrebung des Armaturenbretts und gegen den Pilotensitz.

Man nähert sich dem Gebiet des Hurrikans:

Zwischen dem Schleier in der Höhe und den Passatwolken unter uns steht jetzt eine blau-rosa Wolkenbank über der Kimm. Ein Blick auf die Sonne: sie sieht aus wie überfroren von ganz dünnem Eis, das man mit der Fingerspitze eindrücken könnte, und sie hat zwei riesenhafte Höfe.

Gegen 7.30 Uhr erreicht die Maschine die Sturmspirale und begegnet augenblicklich der Sintflut. Massen von Wasser umfließen das Flugzeug, dessen Rotoren nun zu Schiffsschrauben werden; die Sichtweite liegt bei Null. Gegen jeden der geschwungenen Arme des Wirbelsturms wütet die Maschine an wie gegen massive Wände.

Trotz des Gedonners von 20.000 PS ist das Krachen zu hören.

Als der Colonel das vereinbarte Zeichen gibt, hat sich Schnabel schon selbst in der Schutzposition verkeilt. Das Tosen wird allumfassend, das Flugzeug „rennt sich den Kopf ein“, bis es gegen 7.45 Uhr in das Auge des Sturms eintritt.

Ein zitronengelbes Licht fetzt durchs Cockpit. Die Verglasungen färben sich rosa – gelb – silbern – reiner Glanz. Der letzte Schlag trifft uns, und ich taumle gegen die Wand. Dann liegen wir still und wie ein Brett in der Luft. Über uns Sonne. Vor uns eine Halle, ein ungeheurer Dom aus schwellenden Marmorwänden. (…) Es ist nicht ausdenkbar, dass sie uns mit dreihundert Stundenkilometern Geschwindigkeit umkreisen, guter Gott…

Am Folgetag ordnet Schnabel seine während des Fluges gekritzelten Notizen. Und stellt fest, was das grundlegende Problem ist, welches verhindert, dass sich das Erlebte und dessen dokumentarische Beschreibung in genauen Einklang bringen ließen: Je intensiver es wird, desto weniger lässt sich das Geschehen, worin man selbst bis über beide Ohren steckt, überhaupt noch erfassen.

Wir merkten zu wenig von alldem. Wir merkten zuviel von uns selber.

Schnabel schließt seinen letzten Hurrikan-Brief und im selben Augenblick auch seinen alten Romanversuch mit einer Momentaufnahme vom Rückflug aus dem Wirbelsturm. Und die enthält einen Satz, den Schlusssatz, der alles Hadern erklärt und verteidigt, das nur je ein Mensch kannte, der etwas viel zu Großes erlebte und davon hätte erzählen sollen.

Um diese Zeit saßen wir schweißüberströmt und mit vagen, übernächtigen Gesichtern in der Kanzel des Flugzeugs und tranken Kaffee aus dem Thermostank. Wir hatten alle dasselbe halbe Grinsen im Gesicht, der Colonel vielleicht ausgenommen, der nicht mehr weiß, in wie vielen Hurricanes er schon gewesen ist, und seine Maschine die ganze Zeit über geflogen hatte, als säße er im Führersitz einer Straßenbahn. Wir anderen aber hatten dieses genierte Lächeln. Es war eine verlegene Miene, die wir aufgesetzt hatten, und ein Fremder hätte uns vielleicht die Erschöpfung angesehen, das Staunen und das Nichtglaubenkönnen, das nicht vorüber war, im Gegenteil: jetzt fing es an. Vielleicht hätte er auch unsere Hilflosigkeit durchschaut, diese Unfähigkeit, jemals ganz genau sagen zu können, was wir mitangesehen hatten. Wir fühlten sie kommen. Es war die Niederlage. Wir wußten, daß man uns fragen würde und daß wir es nie ganz würden sagen können.


Das Beitragsbild zeigt S.24/25 aus dem Interview mit einem Stern in der Ausgabe des Claassen Verlags, Hamburg von 1951

FLUGWESEN > Die Ruhe über dem Sturm

Der Kleine Prinz. Der Große Kitsch. Das denke ich unausweichlich, sobald ich den Namen Antoine de Saint-Exupéry höre. Dabei kann der Autor selbst ja nichts für prinz- und mondförmige Plätzchenausstecher, für diese Geschenkbüchlein und Wandtattoos, für all die pastelligen Jutebeutel, Bademäntel, Windlichter mit geschnörkeltem „Man sieht nur mit dem Herzen gut“-Aufdruck. Na, meine Empörung ob dieser Verramschung hält sich einigermaßen in Grenzen, ich mochte den Kleinen Prinzen nie so herzlich (aber auch dafür kann der Autor selbst freilich nichts).

Neben dem Kleinen Prinzen treten Saint-Exupérys übrige Texte weit, sehr weit in den Hintergrund. In der Schulbibliothek damals, da lagen auch seine Fliegerromane aus (als da wären Der Flieger, der Südkurier, der Flug nach Arras, außerdem Wind, Sand und Sterne). Ich musste neulich daran denken, als mir zufällig der Nachtflug in die Finger geriet, denn auch den hatte ich so mit 13, 14 mal mit nach Hause genommen, aber wohl bloß angelesen. Sonst hätte ich mich an eine Szene, diese bestimmte Szene sicher erinnert.

Woran ich mich zunächst zu erinnern meinte, ist dass es in Nachtflug um Transportflüge gehe, und um Südamerika, und dass die Schreibe eher neutral, berichtend sei. Und weil ich noch dazu den Umschlag so bestechend schlicht und schön fand, nahm ich dieses stark nach altmodischer Duftseife riechende Büchlein also doch mit nach Haus.

Tatsächlich beschäftigt sich Nachtflug mit den ersten argentinischen Luftpost-Fliegern, deren heroische Pionierleistung darin bestand, ihre Routen auch während der Nachtzeit zu bedienen, um zeitlich optimierte Transportverläufe zu gestalten und somit den Vorsprung des Schienenverkehrs und der Schifffahrt gegenüber dem Luftfrachtwesen aufzuholen. Kurz: Es geht um wahre Helden am Steuerknüppel.

Wieso dieser mitunter arg pathosgeladene Ton des Romans in meiner Erinnerung einfach nicht vorkam, kann ich mir nur so erklären, dass ich während der Pubertät ziemlich pathosblind gewesen sein muss, weil ich ja leider selbst eine solche Pathosschleuder gewesen war (Überbleibsel meiner alten Tagebücher bezeugen das aufs Blumigste). Nun: Nachtflug erschien 1931 und war wohl nicht zuletzt ein Kind seiner Zeit, der es kräftig nach Technik, Fortschritt und unerschrockenen Helden gelüstete.

Dabei sind die Flugbeschreibungen im Roman zumeist sehr schön zu lesen. Sie vermitteln etwas von der Stille über den Dingen, und sie zeigen viel von der damals noch so spartanischen, behelfsmäßigen Einrichtung jener Flugzeuge, mit denen die Flieger nach festem Zeitplan den Himmel zu erobern hatten; auch die gelegentliche Langeweile auf Routineflügen verschweigen sie nicht.

Die Nacht, die Lichter: am Boden die nächtliche, den Sternbildern gleiche Beleuchtung der Farmen, Kleinstädte, Metropolen, welche vor den Fliegern noch kein Mensch von oben sah, und an Bord nur der schwache rote Schimmer der Instrumente. Wie mag es in einem Menschen ausgesehen haben, der ein solches Flugzeug (nichts als ein dröhnender Motor, umhüllt von bloßem Stahlblech) durch diesen hohen, schwarzen und ihm so fremden Raum steuerte, worin er, der Natur nach, rein gar nichts zu suchen hatte, nicht anders als in der Tiefsee oder im Weltall?

Pilot Fabien steuert den Patagonienkurier zurück nach Buenos Aires. Mit an Bord: sein Funker. Der hat unterwegs Meldungen über entfernte Gewitter erhalten und fragt Fabien, ob er in San Julian zwischenzulanden gedenke, man könne dort übernachten. Was freilich Verspätung bedeuten würde.

Fabien lächelte: Der Himmel war still wie ein Aquarium, und alle Stationen vor ihnen meldeten: „Klare Luft, kein Wind.“ Er antwortete: „Fliegen weiter.“ Aber der Funker dachte an die Gewitter, die sich sicher da irgendwo eingenistet hatten, wie Würmer in einer Frucht; mochte die Nacht noch so schön sein, sie war doch schon angefressen; etwas in ihm sträubte sich dagegen, sich in dieses verwesungsreife Dunkel hineinzubegeben.

Buenos Aires, Comodoro Rivadavia, Bahia Blanca, Trelew – die Funksprüche dieser Stationen vermelden im Verlauf der Nacht tatsächlich das Aufziehen einer viel größeren Gewitterfront, als es zu Reisebeginn absehbar gewesen wäre. Fabien und sein Funker bekommen es im Folgenden nicht allein mit den gewohnten Unwägbarkeiten eines Nachtflugs zu tun, sondern mit einem Zyklon.

Die Kapitel berichten wechselnd aus der Sicht des Pilotens Fabien und des Direktors Rivière, der den Luftfracht-Stützpunkt Buenos Aires leitet und für das Flugnetz verantwortlich ist. Kein Sympath, dieser Rivière. Ein Unnahbarer, der mit der Etablierung der Nachtflüge nicht allein eine berufliche, sondern vielmehr eine idealistische Aufgabe verfolgt: Dienst am Fortschritt des Flugwesens ist Dienst an der Menschheit. Der Direktor lässt keine Fehler, keine Lässigkeit durchgehen und führt seinen Stützpunkt mit harter Hand. Mitunter verunglücken seine Piloten, sie sterben. Rivière trägt schwer an dieser Verantwortung, doch er trägt sie – jawohl: wie ein Mann.

Das Herz preßte sich ihm zusammen, wenn er an die beiden Männer da oben dachte. […] Er sah Gesichter, in die goldene Geborgenheit des Lampenscheins gesenkt. Im Namen wessen habe ich sie herausgerissen? Im Namen wessen sie ihrem privaten Glück entzogen? Ist es nicht erstes Gesetz, solches Glück zu behüten ? – Und dennoch: eines Tages, unvermeidlich, schwinden diese goldenen Glücksbereiche ohnedies dahin wie Luftspiegelungen. […] Vielleicht gibt es etwas anderes, Dauerhafteres, das es zu bewahren gilt? Vielleicht ist es dieses Teil des Menschen, um dessentwillen ich arbeite?

Die Sorge um seine Piloten wie ein Mann zu tragen, heißt für Rivière, die Veredelung des Menschen an sich über den einzelnen Mann zu stellen – sowohl über seine Piloten in der Luft als auch über sich selbst, der ebenso einsam und ungeachtet seiner Gefühle seine Pflicht erfüllt. Rivière, der eiserne, stille Held im Dienste des Menschheitsfortschritts.

Und was hieße, die Sorge um einen Piloten zu tragen wie eine Frau? Das zeigt sich, als Fabiens schöne Angetraute („Herr Direktor…sie waren erst seit sechs Wochen verheiratet…“) voll Angst um ihren geliebten Mann, der sich inzwischen so sehr verspätet hat, den Direktor des Stützpunktes aufsucht. Das Weib ist eben ein weiches Wesen und hat nur Liebe, Glück und Traulichkeit im Sinn. Ehre und Unsterblichkeit dagegen sind Begriffe, die sich freilich bloß dem echten Manne erschließen, n’est-ce pas? Sie erinnern sich, es ist 1931.

Rivière, die gesamte Flugleitung und die Bodencrew in Buenos Aires warten also auf die ungewisse Ankunft des Patagonienkuriers – seinetwegen droht die weitere Flugplanung aus dem Takt zu geraten. Als endlich das fatale Ausmaß des Unwetters von der Leitstelle erkannt wird, befinden sich Pilot und Funker längst in höchster Not, wirbeln orientierungslos im Sturm umher. Kein Verlass mehr auf die Instrumente. Kein Landen, nirgends. Und während Fabien seine gesammelten Kräfte aufbringt, um seine von der Übermacht des Sturms angegriffene Maschine zu halten, geht der Treibstoff allmählich, unweigerlich zur Neige.

Man begreift: Dieser Sturm ist ein Gefecht. Hier kämpft ein Soldat. Und am Boden? Steht mit Rivière ein General auf Gefechtsstation, der erhobenen Hauptes die Erkenntnis hinnimmt, seine Männer in den Tod geführt zu haben, via Flugplan. (Ach, diese kernigen Männer, und dieser Sterbestolz! Diese Hingabe an die höheren Dinge! Meine hübsche Buchausgabe: die Farben der französischen Trikolore auf schwarzem Grund, wie Nacht, oder wie Trauerflor.)

Denn es kommt ja, wie es kommen muss: Dass der Patagonienkurier es nicht durch den Sturm schaffen wird, ist kein Spoiler, sondern eine Gewissheit, auf die der Text bereits früh zusteuert. Zwar ließe der Plot stets Spielraum für ein gutes Ende, doch der von Beginn an so weihevolle Ton nimmt allzu spürbar den Gesang auf den toten Helden vorweg.

Um 1930 herum war Saint-Exupéry selbst als Betriebsdirektor der Argentinischen Luftpost-Gesellschaft daran beteiligt, landesweite und landesübergreifende Luftfrachtlinien einzurichten und die damals noch hochriskanten Nachtflüge als logistische Praxis durchzusetzen. Er war jenerzeit vielleicht selbst mal ein Fabien und mal ein Rivière. Oder vielleicht wäre er bloß gern so unerschütterlich, so eisern gewesen. Wer weiß.

Ich lese dieses Büchlein zum Einschlafen, was soviel heißt wie: Ich erwarte von ihm keine großen Überraschungen. Aber es gibt eben doch diese eine, diese bestimmte Szene.

Bevor ich nun wirklich spoilere, erkläre ich den Beitrag an dieser Stelle für diejenigen, die geneigt wären, das Büchlein selbst zu lesen, für beendet.

Für die übrigen jedoch:

Es gibt diese Szene, da weiß sich der rettungslose Fabien nicht mehr anders zu helfen. Er reißt die Maschine nach oben, hinauf, nur hinauf, denn er will die beiden Leben, für die er verantwortlich ist, seines und das seines Funkers, nicht einfach dem Sturm überlassen. Die gesamte Südhälfte des Kontinents ist bedeckt von brüllenden Böen und Wolkengebirgen, der Zyklon zerrt mit aller Macht an der Maschine, und weil der Pilot hier keinen Ausweg mehr erkennen kann, sucht er ihn hoch droben, über dem Sturm. Findet er ihn dort nicht, gibt es ihn nirgends. „In dreitausendachthundert über dem Gewitter abgeschnitten“, lautet die letzte Funknachricht des Patagonienkuriers, und: man habe noch Betriebsstoff für „eine halbe Stunde.“ Nirgends also. Aber diese Endstation, welche Fabien und sein Gefährte hier erreicht haben, ist ein wahres Wunderwerk aus Sternenlicht und Stille.

Fabien tauchte empor. Staunen überwältigte ihn: die Helligkeit war so, dass sie blendete. Er musste sekundenlang die Augen schließen. Er hätte nie zuvor geglaubt, dass Wolken bei Nacht blenden könnten. […] Das Wettergewölk unter ihm war wie eine andere Welt, dreitausend Meter dick, von Böen, Wasserwirbeln, Blitzen durchrast; aber die Oberfläche, die es den Gestirnen zukehrte, war von Kristall und Schnee. Es war Fabien zumute, als sei er in Zaubersphären geraten, denn alles wurde leuchtend, seine Hände, seine Kleider, seine Tragdecks, und das Licht kam nicht von den Gestirnen herab, sondern löste sich, unter ihm und rings um ihn her, aus dieser weißen Fülle. […] Fabien sah sich um und sah, dass der Funker lächelte. „Besser hier!“, schrie er. Aber die Stimme verlor sich im Dröhnen des Flugs, Lächeln war die einzige Verständigung. Ich bin vollkommen wahnsinnig, dachte Fabien, dass ich hier lächle: wir sind verloren. Gleichviel: tausend schwarze Arme hatten ihn freigegeben. Zu schön, dachte Fabien. Sie irrten unter Sternen umher, dichtgehäuft ringsum wie ein Schatz, in einer Welt, wo nichts, absolut nichts Lebendiges war außer ihm, Fabien, und seinem Gefährten. Gleich jenen Dieben im Märchen, die in die Schatzkammer eingemauert sind, aus der sie nicht wieder herauskommen werden. Unter eisfunkelndem Geschmeide irren sie umher, unermeßlich reich, doch zum Tode verurteilt.

Eine Geisterzone, zwischen Erde und All, zwischen Leben und Tod. Ein Bild von Erlösung und zugleich von Abschiednahme. Und natürlich steckt in dieser Szene, in diesem In-den-Himmel-kommen wieder eine gute Portion Helden-Überhöhung. Meinetwegen.

Wie muss das sein, so ein Flug? Ich bleibe ganz und gar hängen an dieser Stelle und schlafe schließlich über ihr ein, weil sie mich so davonzieht. Ein halber Kontinent voll von schwarzem, wütendem Sturm, drei Kilometer dick und horizontweit, darüber ein Flugzeug (vielleicht das einzige, was in diesem Moment so allein und so hoch über der Welt fliegt; allzu viele Fliegerkollegen gibt es eben zu jener Zeit nicht), und darin zwei Menschen und Flugbenzin für weniger als eine halbe Stunde – im Paradies. Das ganze heroisierende Beiwerk dieses Romans ist mir ganz egal, aber dieses Bild nicht.


> Antoine de Saint-Exupéry, Nachtflug (als Taschenbuch bei Fischer für 8€ lieferbar; auch antiquarisch in diversen schönen Ausgaben zu kriegen)

VERGISSMEINICH > Albert Camus, Der Wind in Djemila

Es gibt Orte, wo der Geist stirbt um einer Wahrheit willen, die ihn verneint.

Das ist allemal ein mustergültiger Camus-Satz. Allerdings befinden wir uns in keinem seiner Romane oder philosophischen Artikel, sondern in einem autobiografischen, noch dazu ziemlich emotionalisierenden Prosatext, und der Camus, den man kennt, ist nicht unbedingt der Camus, den man hier antrifft.

Als ich nach Djemila kam, wehte es, und die Sonne schien […]. Einige Vogelschreie, der gedämpfte Ton der dreigelochten Flöte, das Getrippel von Ziegen – all diese Geräusche brachten mir die Stille und Trostlosigkeit des Ortes erst zu Bewusstsein. Hin und wieder flog flügelklatschend und schreiend ein Vogel aus den Trümmern. Jeder Weg, jeder Pfad zwischen den Häuserresten, die großen gepflasterten Straßen zwischen den leuchtenden Säulen, das riesige, auf einer Anhöhe zwischen Triumphbogen und Tempel gelegene Forum – alle enden in jenen Schluchten, die von allen Seiten Djemila umgeben, das wie ein ausgebreitetes Kartenspiel unter dem endlosen Himmel liegt. Und dort ist man nun, einsam und umringt von Stille und Steinen; und der Tag geht hin, und die Berge wachsen und werden violett. Aber der Wind bläst über die Hochebene von Djemila.

Das schreibt ein junger Camus – etwa 23 Jahre alt.

Djemila ist eine Ruinenstadt, gelegen in der kargen, bergigen Kabylei, einer küstennahen Region Algeriens. Ursprünglich eine Berbersiedlung, wurde der in antiker Zeit als Cuicul bekannte Ort zu einer römischen Veteranenkolonie, fiel später unter die Kontrolle der Vandalen, dann ans byzantinische Reich, erlebte die arabische Eroberung und wurde vermutlich verlassen, als das ehedem fruchtbare Klima sich zu trockener Hitze wandelte.

Unermüdlich blies und jagte [der Wind] durch die Ruinen, drehte sich in einer Kies- und Staubwolke im Kreise, hagelte auf die durcheinandergeworfenen Steinquader nieder […]. Ich flatterte wie ein Segel im Wind. Mein Magen zog sich zusammen; meine Augen brannten, meine Lippen sprangen auf, und meine Haut trocknete aus, bis ich sie kaum noch als meine empfand. […] Der Wind verwandelte mich in ein Zubehör meiner kahlen und verdorrten Umgebung; seine flüchtige Umarmung versteinte mich, bis ich, Stein unter Steinen, einsam wie eine Säule oder ein Ölbaum unter dem Sommerhimmel stand.

Schon der Weg nach Djemila ist nicht unbeschwerlich – er führt spürbar ins Abseits und scheint, solange er währt, kein Ende nehmen zu wollen. Hat man die Ruinenstadt mitten im himmelweiten Nirgendwo schließlich erreicht, findet man dort: nichts. Und zugleich findet man so das „klopfende Herz der Welt“ . Die Einsamkeit, die Unwirtlichkeit, auch die schiere Gestorbenheit dieses Ortes zehren an seinem Besucher, verschlingen ihn. Doch verschlingen sie ihn in Freundschaft.

Schließlich bin ich, in alle Winde verstreut, alles vergessend, sogar mich selbst, nur noch dieser wehende Wind und im Wind diese Säule und dieser Bogen, dieses glühende Pflaster und dieses bleiche Gebirge rings um die verlassene Stadt. Nie habe ich in einem solchen Maße beides zugleich, meine eigne Auflösung und mein Vorhandensein in der Welt, empfunden.

Angesichts eines solchen Anschauungsorts für Vanitas – Camus nennt die ausgeblichenen Ruinen einen „Knochenwald“ – driftet das Denken wohl zwingend in Richtung Leben, Sterben, Sinn. Doch erst im Zurückschauen. Solange man dort ist, geht es nicht um barocke Überlegungen zur Hinfälligkeit alles Irdischen; es geht nicht um letzte Fragen, auch nicht um reine Historienkunde und erst recht nicht um touristische Romantik.

Dort, zwischen ein paar Bäumen, liegt die gestorbene Stadt und verteidigt sich mit all ihren Bergen und all ihren Trümmern gegen billige Bewunderung, malerisches Missverstehen und törichte Träume.

Inmitten unbewegter Ruinen und wildbewegter, harscher Winde, unter dörrender Sonne lässt sich nichts suchen, fragen, denken, geschweige denn schreiben. Solange man dort ist, IST man, und zugleich ist man nicht. Solange man dort ist, geht es nur darum, selbst Gebein unter Gebeinen zu sein. Bevor sich der Abend senkt und man Djemila, dem Wind und seinem Zug schließlich nachgebend, verlässt.


In der Zeit um 1936/37, bevor er seine Arbeiten an Der Fremde aufnahm, schrieb Camus einige Essays von persönlicher, aber nicht rein privater Natur, die in Frankreich 1938 unter dem Titel Noces erschienen – darunter Der Wind in Djemila. Sie zeigen den algerischen (und Algerien vermissenden) Camus, und sie zeigen sich nicht nur als philosophische, sondern zugleich poetische, mitunter ins Schwärmische gehende Prosastücke, weswegen oft Bezug auf sie genommen wird als Camus‘ „lyrische Essays“. Zwischen 1939 und 1953 schrieb Camus weitere Essays dieser Art, die 1954 unter dem Titel L’été publiziert wurden. Hochzeit des Lichts versammelt diese Texte. (Aktuell als Hardcover-Ausgabe im Arche Verlag lieferbar. Antiquarisch sind unter dem Titel  Hochzeit des Lichts oder Hochzeit des Lichts/Heimkehr nach Tipasa ebenfalls hübsche Ausgaben zu finden.)

HÖHENUNTERSCHIEDE > Von der Ohnmacht der ersten Person (1)

> Édouard Louis, Wer hat meinen Vater umgebracht (Fischer)


Ich muss Édouard Louis gar nicht lesen. Wozu? Ich brauche mir nicht von einem Schriftsteller erklären, schildern, begreiflich machen zu lassen, was ich aus eigenem Erleben kenne oder aus engeren Kreise erfahren kann.
Hab ich’s nötig, dass überhaupt irgendwer mir behilflich sein will, etwas zu verstehen, MICH zu verstehen? Hilfe jeglicher Art ist eh bloß Einmischung. Überflüssig. Verdächtig, scheinheilig.
Und sowieso: Was sollen denn immer diese Privatschauen, diese literarische Wühlerei in den eigenen Kinderwindeln – seinen eigenen Quatsch behält man gefälligst für sich!

Dahinter steht, ganz klar, eine dieser Maximen, die schon immer Gültigkeit besaßen für die EINFACHEN LEUTE: dieses ICH KOMME ALLEIN KLAR.
Wer unter einem ICH-KOMME-ALLEIN-KLAR-Himmel, in einem ICH-KOMME-ALLEIN-KLAR-Haus aufgewachsen ist, entwickelt seltener den Gedanken, wie wichtig für sich selbst – vielleicht sogar übergeordnet wichtig – es sein könnte, von den Dingen zu berichten, mit denen man allein klarzukommen hat. Sie erklären, schildern, begreiflich machen zu wollen.

Natürlich habe ich Édouard Louis rauf und runter gelesen und bin, wenn ich auch nicht immer auf seiner Linie liege, heilfroh, dass es ihn gibt. So geht es mir wirklich – ich sehe einen frisch erschienenen Louis irgendwo ausliegen, nehme ihn mit und denke: Ich bin froh, dass du da bist, Édouard.

Diese Art von Solidarität ist freilich abhängig vom Kontostand. Das nicht einmal 80seitige Wer hat meinen Vater umgebracht gibt es hierzulande gebunden für schlappe 16€; in Frankreich kostet das Original natürlich auch Geld.
Louis schreibt von den EINFACHEN LEUTEN bzw. der UNTERSCHICHT, und er schreibt durchaus für sie, also: in ihrem Sinne. Als Produkt richtet sich das Ganze aber gezielt an Haushalte, wo Stimmen der EINFACHEN LEUTE, der UNTERSCHICHT eher selten und vielleicht auch nur mittels eines teuren, hübschen, viel besprochenen Bändchens Prosa Eingang finden.

Es ist eine Streitschrift über herrschende Ungerechtigkeit innerhalb der französischen Gesellschaft, die, Louis zufolge, lange gewachsen und politisch legitimiert ist. Über die Arroganz der Politik gegenüber der Mittel- und Unterschicht. Über die pauschale Verächtlichmachung bestimmter Milieus durch die Eliten. Und nicht zuletzt über die Menschen jener Milieus, die unter dem Eindruck permanenter Herabwürdigungen vonseiten der Politik, Wirtschaft, Medien ihre Fähigkeit verloren haben, für sich selbst in der ersten Person zu sprechen.

Eigentlich geht es in dieser Schrift über den Vater, den man bereits aus >Das Ende von Eddy kennt, um zutiefst Privates. Wie immer, bei Louis. Aber wie immer, und nicht nur bei Louis, geht es zugleich um die klassische Frage: Wie politisch ist das Private?

Édouard Louis antwortet, indem er die Verzahnung von Politik und Privatem am Beispiel seines Vater schildert, und zwar nachdrücklich: „Die Geschichte deines Körpers ist eine Anklage der politischen Geschichte.“ Seit einem Arbeitsunfall lebt Louis‘ Vater im wahrsten Sinne mit gebrochenem Rückgrat. Nun als kraft- und nutzlos dazustehen, das ICH KOMME ALLEIN KLAR also nicht mehr erfüllen zu können, empfindet er als Schande. Die ohnehin prekäre Lage der Familie rutscht mit dem Unfall ins Elende ab. Gesundheitlich erholt sich der Vater nie, im Gegenteil arbeitet er seinen Körper, um nicht seinen schmalen Unterstützungsanspruch zu verlieren, in immer wechselnden, ungesunden Jobs zugrunde – so verlangen es die Ämter. Und die folgen den Vorgaben der Politik. „Du gehörst zu jener Kategorie von Menschen, für die die Politik einen verfrühten Tod vorgesehen hat,“ schreibt sein Sohn über ihn. Gemeint seien die Menschen, die Macron „Faulpelze“ nenne.

(Louis könnte hinzufügen, der Zustand der Vater-Sohn-Beziehung, die er beschreibe, sei eine Anklage des gesellschaftlichen Zustands. Man wird so sehr fremdbestimmt, dass man sich unweigerlich selbst fremd wird – wie soll man da Anderen nahekommen?)

Das alles haben Sie sicher schon zigmal über den neuen Louis gelesen und gehört, so oder so ähnlich.
Im Feuilleton spielen alle wieder mit. Die einen tätscheln ihren Liebling, die anderen freuen sich über neuerliche Gelegenheit, ihn als überschätzt zu deklarieren. Man zeigt sich entweder ergriffen und empfindet den Ton als berührend, als feinfühlig, poetisch. Man ist bewegt. Oder man rümpft die Nase. Man fragt, ob Louis hier nicht etwas zu übermütig den Boden der Literatur verlassen habe, ob er zu nah am Populismus operiere – Iris Radisch druckst wenigstens nicht so herum, sondern betitelt Wer hat meinen Vater umgebracht in ihrer Rezension vom 24.01. (DIE ZEIT 05/2019) direkt als „vulgärsoziologisches Pamphlet“ .

Selbstverständlich kann man der Meinung sein, Wer hat meinen Vater umgebracht sei keine Literatur mehr. Aber dann hat Louis nie welche geschrieben. Was Louis schreibt, vom Debüt an, sind stets autobiografische Schilderungen des Privaten, das sich zugleich politisch verstanden wissen will. War das je Literatur? Es war immer Politik der ersten Person.

Generell wirken sich politische Entscheidungen auf das gesellschaftliche Klima aus, und dieses Klima bestimmt, was darin gedeiht und was nicht. Für die EINFACHEN LEUTE und insbesondere für die UNTERSCHICHT gilt indessen, so Louis, dass sich politische Entscheidungen viel direkter, konkreter auf das Leben der Einzelnen auswirken.
Louis erzählt von dem Herbst, als der Zuschuss für Schulbedarf der Kinder um hundert Euro erhöht wurde – es wurde gejubelt, man fuhr gemeinsam ans Meer. „Der ganze Tag war das reinste Fest für uns.“ Ein anderer Herbst, 2017: „Emmanuel Macron nimmt den ärmsten Franzosen fünf Euro pro Monat weg […]. Seine Regierung erläutert, fünf Euro seien doch unerheblich. Sie haben keine Ahnung […]. Emmanuel Macron stiehlt dir das Essen direkt vom Teller.“
Ob man Politik so unmittelbar zu spüren bekommt oder nicht, das definiert für Louis den Unterschied zwischen Oben und Unten: „Die Herrschenden mögen sich über eine Linksregierung beklagen, sie mögen sich über eine Rechtsregierung beklagen, aber keine Regierung bereitet ihnen jemals Verdauungsprobleme, keine Regierung ruiniert ihnen jemals den Rücken, keine Regierung treibt sie jemals dazu, ans Meer zu fahren. […] Sie bestimmen die Politik, obgleich die Politik kaum Auswirkungen auf ihr Leben hat.“

„Literatur muss kämpfen, für all jene, die selbst nicht kämpfen können, die zum Stillschweigen verdammt sind“, sagt Louis. Was heißt „zum Stillschweigen verdammt“? Es heißt zum Einen, das ICH KOMME ALLEIN KLAR nicht überwinden zu können, um wirklich von sich selbst zu sprechen. Es heißt zum Anderen, dass ein Gegenüber fehlt, das sich angesprochen fühlen und zuhören würde.

Und nun? Das Feuilleton liest Louis, ist gerührt, legt ihn wieder weg. Das Feuilleton liest Louis, ist degoutiert, legt ihn wieder weg. In keinem Fall fragt das Feuilleton: Was will Louis – von uns?

Das Feuilleton deutet Louis‘ Schreiben erstaunlich einseitig aus – regelmäßig. Mit seinem Debüt räche er sich an seiner Familie für seine unglückliche Kindheit; in seinem Debüt zeige er seinen Hass auf den Vater und fände nun jedoch, in Wer hat meinen Vater umgebracht, zu einer Versöhnung mit ihm; mit Wer hat meinen Vater umgebracht schlage sich Louis, wohlgemerkt ein Bildungsemporkömmling aus dem Prekariat, medienwirksam (Gelbwestenalarm!) auf die Seite des Pöbels.
Was Louis‘ Prosa für mich ausmacht, ist dagegen gerade die Ambiguität der privaten Betrachtungen. Als Kind liebt UND hasst Louis seinen Vater (innerhalb der Familie beruht das jeweils auf Gegenseitigkeit); er wünscht, er könne mehr Zeit mit seinem Vater verbringen, UND er wünscht, der Alte würde einfach verschwinden; inzwischen, als Erwachsener, kommt er seinem Vater nah UND bleibt ihm dabei doch fremd. Louis schreibt über die Verhältnisse seiner Herkunft, ohne sie zu schonen, aber doch in aller Vielschichtigkeit.
Das Feuilleton sieht diese Vielschichtigkeit nicht oder lässt sie nicht gelten, sondern es setzt einseitige Sichtweisen einfach voraus. Es denkt: Ein unglückliches Leben ist automatisch eines, in dem man nie AUCH glücklich war. Wer einen Vater hat, der nichts taugt, muss automatisch froh sein, nicht mehr mit ihm reden zu müssen, anstatt traurig, weil er gern mehr mit ihm geredet hätte. Wer den Bildungsaufstieg geschafft hat, ist automatisch erleichtert, nicht mehr zu den Deppen zu gehören, genießt sein neues Leben und schreibt bloß noch aus Rache über früher.
Das Feuilleton denkt hier in Pauschalurteilen.

Von einer Anklage spricht Louis nie im Zusammenhang mit seiner Familie. Die einzigen Anklagen, die Louis wörtlich ausspricht, richten sich konkret an einzelne, namentlich genannte Politiker, und pauschal an die Eliten.

Natürlich darf man Wer hat meinen Vater umgebracht ein Pamphlet nennen, denn es ist ja eins – es formuliert scharf und polemisch. Zwiespalte darzulegen, relative Sichtweisen auszuarbeiten, das sind bloß schöne Hobbys, solange sie nicht bewirken, dass andernorts endlich ein Erkennen, ein Verstehen, eine Reaktion stattfinden. Und es ist genau diese Trägheit andernorts, die Louis diesmal so angriffslustig werden lässt: „Auch das habe ich bereits erzählt – aber ich muss mich doch wiederholen, wenn ich von deinem Leben erzähle, denn von einem solchen Leben will niemand hören! Man muss sich doch wiederholen, bis sie uns zuhören! Um sie zum Zuhören zu zwingen! Wir müssten doch eigentlich schreien!“
Da ist er, der Zorn.

Das Feuilleton fragt nie: Was will Louis von uns? Es fühlt sich selbst – als Organ der Bildungseliten, denen Louis eine vereinfachende und herablassende Sichtweise auf die EINFACHEN LEUTE vorwirft – nicht von Louis angesprochen.
Es fragt sich gar nicht erst, ob es in dessen Wutschrift wohl mitgemeint sein könnte.

Louis stellt dieser Wutschrift eine Art Regieanweisung voran: Wäre dies ein Theaterstück, müsse es mit einer Szene beginnen, die Vater und Sohn nebeneinander aufgestellt zeige, „in einigen Metern Abstand zueinander in einem großen, weitläufigen und leeren Raum“ . Der Sohn versuche zu seinem Vater zu sprechen, dieser könne ihn aber nicht hören; der Vater selbst spreche wiederum kein Wort.
In seinem Herkunftsroman Das Ende von Eddy beschreibt Édouard Louis, wie die von Mangel geprägten Familienverhältnisse und der trostlos-ruppige Charakter seiner Heimatgegend alles erdrückten, was nicht selbst betonhart war. Wie er mit seiner eigenen Homosexualität haderte, weil er ihretwegen aus der Norm fiel, die hier für die Leute, für ihn galt. Wie sein Vater ebenso mit ihm haderte – nicht allein deswegen, weil sein Sohn sich als schwul entpuppte, sondern zudem als begabt, interessiert, sportlich schwach, gut in der Schule.
Louis erklärt, dass er ohne sein Schwulsein, das ihn von der Norm entfernte, diese Norm gar nicht erst bewusst erkannt, geschweige denn sie je in Frage gestellt hätte. Und dass es sein Schwulsein und seine Flucht in die Bildung waren, die ihn von seinen Verwandten, besonders seinem Vater entfernten, da diese stets eins mit der Norm waren: Sie hatten die Norm nie bewusst erkannt, geschweige denn sie je in Frage gestellt. Aber den Sohn, Bruder, Cousin stellte man in Frage – und fühlte sich zugleich durch ihn arrogant in Frage gestellt.

Vom Prekariat in die Bildungsschicht aufgestiegen, behält Louis seinen Fokus bei: der einzelne Mensch vs. die Verhältnisse. Nur die Blickrichtung ist hier eine umgekehrte: Während er in Das Ende von Eddy aus eigener Perspektive erzählt, wie die Unterschicht ihm das Leben schwer machte und die Elite ihn aufnahm, berichtet er in Wer hat meinen Vater umgebracht stellvertretend für seinen Vater, wie die Unterschicht diesen prägte und die Oberschicht dessen Leben sabotierte.

Nehmen wir einmal an, Louis und sein Vater, die nebeneinander im Raum stehen und keinen Zugang zueinander finden, funktionieren, über das private Bild hinaus, auch als Gesellschaftsbild. Nehmen wir einmal an, wir sehen hier zugleich eine akademisch geprägte Schicht und eine prekäre Schicht, die sich nicht miteinander verständigen können, und der Raum, den sie teilen ist, sagen wir, Frankreich.

Nur Frankreich?