SCHWARZ-WEISSE ZEITEN > William T. Vollmann, Europe Central

William T. Vollmann / Stasis Krasauskas

Verursacht ein monolithisches Buch seinen kraterhaften Einschlag im Feuilleton, stehe ich als Schaulustige parat. Mir ist jeglicher Hype völlig egal, ich liebe aber die Vorstellung vom schriftstellerischen Extrem, die sich in monströsem Seitenumfang und Arbeitsaufwand ausdrückt. Sicher, die eigentliche Kunst besteht eben nicht allein in der Produktion gedanklichen Volumens, sondern darin, jenes gedankliche Volumen literarisch zu komprimieren. Aber auch Vielhundertseiter können sich als Ergebnis sorgfältiger Verdichtung erweisen. Im seltenen Glücksfall also besitzt ein solches Werk dreidimensionale Größe: Enormer äußerlicher Umfang x inhaltliche Tiefe x sprachliche Dichte = literarische Nachhaltigkeit im Kubik. Im Falle von Europe Central jedoch hätten es auch ein paar Seiten weniger getan, zu Gunsten höherer Konzentration, die ich mir gewünscht hätte. Dennoch eröffnet sich beim Lesen von Europe Central die reinste Spielwiese für Literaturneugier.

Bereits 2005 im Original erschienen, liegt Europe Central seit 2013 in deutscher Übersetzung vor, seit Ende Mai diesen Jahres nun auch als bezahlbare kartonierte Ausgabe. Es dauerte seine Zeit, bis mit Suhrkamp ein Verlag das aufwändige Projekt verwirklichte Europe Central im Deutschen zu verlegen. Mit seiner Übersetzung des Kolosses, die nochmal anderthalb Jahre in Anspruch nahm, sicherte sich Robin Detje ein Plätzchen auf dem Übersetzer-Olymp gleich neben Ulrich Blumenbach (David Foster Wallace, Unendlicher Spaß) oder Hans Wollschläger (James Joyce, Ulysses) und wurde auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse konsequenterweise mit dem Preis für die beste Übersetzung bedacht.

William T. Vollmann bezeichnet mit dem Ausdruck Europe Central das deutsch-russische Spannungsfeld im geographischen wie politischen und kulturellen Sinne, bezogen auf einen Zeitraum des 20.Jahrhunderts, dessen Eckdaten der Biographie des Komponisten Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch entliehen sind: geboren 1906, gestorben 1975.

Ich halte alle Sinfonien Schostakowitschs für mehrfach eingebrochene Brücken, einen Archipel aus Stahl, der langsam im Fluss versinkt. 

Schostakowitschs Leben und Werk geben dem aus 37 Episoden bestehenden Erzählverlauf eine begleitende Struktur, eine Orientierungslinie. In jenen Episoden lässt Vollmann eine Geisterparade aufmarschieren: Die jeweiligen Protagonisten sind berühmte, berüchtigte oder anonyme Menschen (so Vollmann im Quellen-Anhang), die zentrale Positionen in Kunst und Politik, kriegsentscheidende Rollen oder ideologische Bedeutung inne haben. SS-Mann Kurt Gerstein, Lenin-Attentäterin Fanny Kaplaneine von der Sowjet-Ideologie zur Märtyrerin erhobene Partisanin namens Soja, General Wlassow, Generalfeldmarschall Paulus, Dichterin Anna Achmatowa, Generalfeldmarschall Erich von Manstein, Marschall Michail Nikolajewitsch Tuchatschewski, die Richterin und spätere DDR-Justizministerin Hilde Benjamindamit sind nur wenige Namen aus Vollmanns unendlich anmutender Personalliste genannt, die Hauptrollen besetzen oder eine der Nebenrollen in einzelnen oder mehreren Episoden ausfüllen.

Anhand paarweiser Gegenüberstellungen von Figuren versucht Vollmann sich an einer Wesenserkundung des in Dualismen zerrissenen Zentraleuropa von damals. So arbeitet er die Kontrastschärfe der konkurrierenden politischen und gesellschaftlichen Gewalten heraus, unter deren Einwirkung menschliches Leben zu grauer Masse vermahlen wurde. Die weißen Nächte von Leningrad blitzen hell hervor, der Schnee von Stalingrad zeigt sich schneidend weiß und tödlich. Auf bleischwarzer Erde, die der Krieg hinterlassen hat, wachsen silbergraue Grashaare. Das tiefste Schwarz ist jenes der Bakelit-Telefone, über deren Drähte die Mächte der Zeit überhaupt erst ihre kontinentale Reichweite etablieren konnten – diese Leitungen garantierten den Gewaltfluss von der politischen Kontrollinstanz bis in jede kleinste organische Einheit hinein. (Auf die prägende Bedeutung jener neuen Technologie verweist auch der im Original belassene Titel: Europe Central bedeutet sowohl Mitteleuropa als auch Telefonzentrale Europa.) Schwarz, Weiß und Grau sind die Signalfarben der Dinge und Vorgänge in Europe Central, und auch seine Figuren drücken diesen farblichen Dreiklang aus: Man begegnet Käthe Kollwitz, deren Kunst das Arbeiterleben in scharfkantigem Schwarzweiß zeigt, und deren eigenes Leben, seitdem einer der Söhne im Ersten Weltkrieg fiel, in Grau getaucht bleibt. Kollwitz trifft auf einer Russland-Reise, zu der man die im Arbeiterstaat populäre Künstlerin eingeladen hat, auf Schostakowitsch und hört dort dessen Musik, die grau und kalt alle rotbackige Propaganda, mit der sich das Gastgeberland präsentiert, überdeckt. Schostakowitsch wiederum begegnet in einer späteren Episode dem Genossen Stalin, der ihm auf einem von unerträglich grellen Kronleuchtern erhellten schwarz-weiß karierten Fliesenboden gegenübersteht. Offiziere tragen weiße Handschuhe zu Gardeuniformen. Ein junger Komponistenkollege Schostakowitschs heißt mit Namen Schwartz. So finden alle und alles in diesem Roman eine Einordnung in jenes Farbschema. Erst gegen Ende weicht es auf, und eine Abhandlung über den Fortschritt von Farbfilmtechniken deutet einen heraufziehenden Systemwechsel an.

Schostakowitschs Musik funktioniert als eine Vertonung der Farbsprache, die den ganzen Roman durchzieht. Sie wird allerdings nicht nur zur allgemeinen Untermalung der Stimmung verwendet: Vollmann hebt zwei Werke, Opus 40 (Cellosonate in d-Moll) und Opus 110 (Streichquartett Nr.8), besonders hervor und leitet ihre Entstehung von konkreten Lebenserfahrungen Schostakowitschs ab, die jedoch nicht belegt sind. An diesen Stellen verdeutlicht sich einerseits die Hingabe Vollmanns an die eigene überbordende schriftstellerische Imagination, andererseits seine enorme Akribie in Sachen Hintergrundrecherche und der gewaltige Umfang, den seine schreibbegleitende Materialsammlung wohl gehabt haben muss. Unter Anderem lässt Vollmann eine von der Geschichtsschreibung vergessene Frau literarisch sehr lebendig werden und macht sie zur Hausherrin des musikalischen Gebäudes, das Schostakowitsch mit dem Opus 40 errichtet hat: Elena Konstantinowskaja, mit der Schostakowitsch in einer Affäre verbunden war. Nicht einmal Schostakowitschs Biographen widmen sich Elena in erwähnenswertem Maße, da es schlicht kaum verwertbares Material über sie gibt. Vollmann dagegen investierte einen vierstelligen Dollarbetrag in eine Übersetzung des Briefwechsels zwischen Schostakowitsch und seiner Geliebten aus den Jahren 1934, 1935. Mühelos bestreitet die junge Frau, trotz ihrer Eigenschaft als undokumentiertes Phantom, eine mal aktive, mal leitmotivische Rolle über tausend Seiten hinweg, was sie der Überzeugungskraft der Vollmann’schen Mischung aus Geschichtsrekonstruktion und Fiktion verdankt. Diese zentrale Bedeutung Elenas für den Roman vermittelt einen wichtigen Gedanken zum Verständnis der Zeit, die von Vollmanns Roman umspannt wird: Getragen wird Geschichte in besonderem Maße von den Namenlosen, den Ausgelöschten, den Vergessenen. Was die Überlebenden und was die Dokumente berichten, daraus wird unsere lückenhafte Nacherzählung der Geschehnisse, nie aber eine Wiedergabe der Geschichte in ihrer Gesamtheit. Vollmann zumindest bemüht sich, da die Möglichkeiten des Erfassens an ihre Grenzen stoßen, um eine Erweiterung der Möglichkeiten des Verstehens.


William T. Vollmann, Europe Central (Suhrkamp)

Auch zu finden auf: satt.org


Für das Beitragsbild habe ich Europe Central neben eine aufgeschlagene Seite eines alten Ausstellungskataloges gelegt: Schrecken und Hoffnung – Künstler sehen Frieden und Krieg war der Titel einer gemeinschaftlich kuratierten deutsch-sowjetischen Ausstellungsreihe mit Stationen in Hamburg, München, Moskau und Leningrad, die 1987/1988 deutsche und sowjetische Kunstwerke zum Thema Krieg und Frieden vergleichend zeigte. Die vier Linolschnitte links sind Teil eines Zyklus von Graphiken des litauischen Künstlers Stasys Krasauskas aus dem Jahr 1961, die den Gedichtband Der Mensch des litauischen Dichters Meschelajtis illustrieren. Die Ausstellung umfasste neben Bildern und Skulpturen solch bekannter Größen wie Anselm Kiefer und Gerhard Richter eine reiche Vielzahl wenig bekannter zeitgenössischer Kunstwerke, sowie eine breitgefächerte Zusammenstellung historischer Kunst vom 15. bis 20.Jahrhundert. (Kaufen kann man diesen Katalog, der in seinen Objektbeschreibungen unbeabsichtigt viel über die Machtverhältnisse seiner Zeit vermittelt, immer noch – antiquarisch, für ein paar Euro.)

OBERFLÄCHENKULTUR > Antonia Baum, Vollkommen leblos, bestenfalls tot

Wie man in den Wald ruft, so schallt´s hinaus – Antonia Baum hat folgerichtig viel Geschrei geerntet für ihren Roman, als der vor drei Jahren erschien. Aber auch der Odenwald echote schon mal mit Empörung und Geplärr, das war Anfang dieses Jahres, als Baum einen stinksauren Schimpfbericht über ihre Heimat Odenwaldhölle in der FAZ veröffentlichte, für die Baum seit 2012 als Redakteurin arbeitet. Die Wut in Baums Schreiben ist echt: So zynisch und laut und streckenweise kopflos wie sie wird man nicht einfach so aus stilistischen Beweggründen. Echtheit allein aber schützt nicht vor Eigentoren.

Handlung und Geisteshaltung des knapp 240 Seiten kurzen Romans sind schnell umrissen: Alles Dreck, überall Heuchelei, alle Egoisten – man ahnt, das wird anstrengend. Die erste unerträgliche Lüge, die in dieser Hass-Tirade auf die kaputte hochkulturelle Gesellschaftsschicht ausführlich bejault wird, ist die bloße Existenz der Ich-Erzählerin selbst: Die gutbürgerlichen Eltern hatten sich kein Kind gewünscht, die Schwangerschaft war ein Unfall, das Kind war und ist ein ungebetener Gast auf dieser Welt. Von Geburt an ging es also schon bergab für die junge Protagonistin. Wir lernen sie pünktlich zum Zeitpunkt ihres Aufbruchs aus der verlogenen Heimatidylle inmitten der Provinz kennen. Die Eltern heißen Carmen und Götz, ihre Wohlstandssymptome lauten Selbstbetrug, Egoismus, krankhafte Fassadenpflege, Empathieunfähigkeit. Die Flucht vor Karrierevater, Heuchelmutter und deren Post-Scheidungs-Neupartnerschaften führt die Ich-Erzählerin allerdings nur noch tiefer hinein ins Herz der Finsternis: in die Großstadt, ins Zentrum einer verdorbenen Kulturschickeria. Dort lauern sie auch schon, die hochkultivierten Raubtiere: der Karrierist und somit die Vater-Kopie Patrick, danach der Lügner Johannes, nebenher stutenbissige Kolleginnen, machtgierige und geldverblödete Chefs und Auftraggeber. All jenen hängt sich die Protagonistin jedoch an den Hals.

Sie hängt eben an dem, was sie hasst. Weil sie nichts anderes kennengelernt hat. So haben das die Eltern vorgelebt, so pflanzt sich das in ihrem Wesen fort. Immer wieder liegt die Schuld bei den Anderen, doch die Ich-Erzählerin seziert auch sich selbst: Sie hegt einen ausgiebig kultivierten Selbsthass, der ihrer klaren Erkenntnis entspringt, die Haut der Eltern zu teilen und nicht aus ihr heraus zu können. Der gnadenlose Detailblick, den die Autorin übrigens perfekt beherrscht, und der ekelerfüllte Widerwille gelten im selben Maße der Protagonistin selbst wie ihrem Umfeld. Auf diese Weise entzieht sie ihrer himmelschreienden Wut jegliche Wirkungskraft und macht sie zu ihrer eigenen Ohnmacht. Zwar mangelt es Vollkommen leblos, bestenfalls tot nicht an Szenen, in denen die Wut sich auslebt – es wird brutal, es gibt Backpfeifen, Biss- und andere Blutwunden -, doch was auch immer die Protagonistin austeilt, fällt in der einen oder anderen Form wieder auf sie zurück. All ihre Wut bewirkt nichts, denn sie schlägt keine Ausbruchsschneise, sondern rotiert, sich endlos fortpflanzend, in ihrem hermetisch geschlossenen Lebensraum, dem höheren Gesellschaftskreis. Ihr Job für ein Kulturmagazin endet, nachdem sie, aus Abscheu vor der sich selbst beweihräuchernden Elite, das Magazin kurzerhand sabotiert. Einen anderen Weg um Geld zu verdienen als indem man für Kulturmagazine arbeitet kann sie sich jedoch schwer vorstellen. Sie verlässt ihren Freund, den Art Director, der sie einsperrt und ausnutzt, um sich kurz darauf auf einen Schauspieler einzulassen, der sie betrügt und ausnutzt. Doch sind auch ihre eigenen Gründe um eine Beziehung einzugehen von anderen Kriterien bestimmt als Liebe. Um die Figuren nicht allzu reißbretthaft zu zeichnen, bemüht sich die Autorin bei jeder einzelnen um eine kurze psychologische Grundlagenuntersuchung: Patrick ist kontrollsüchtig, das liegt an seiner Angst davor allein zu sein. Johannes ist bindungsscheu, das liegt an seiner Angst davor allein zu sein. Zu welchen Ergebnissen die weiteren psychologischen Rückverfolgungen führen – und wovor die Protagonistin selbst eigentlich Angst hat -, darf man nun kreativ raten. Ein wenig Leben in die funktionell dargestellten Charaktere bringt Antonia Baum nur an seltenen Stellen, die inmitten aller Aufgesetztheit echte Gefühlsdilemmata vermitteln: Wie sagt man als empathieunfähige Tochter dem empathieunfähigen Vater, dass man ihn lieb hat? Und warum überlegt man überhaupt, bevor man es sagt? Weil es gar nicht stimmt? Oder vielleicht aus Angst vor einer Antwort, im schlimmsten Falle: Ich dich auch?

Hysterische Pauschal-Wut, Überreiztheit und gleichzeitiges Unvermögen sich zu emanzipieren: Kennt man – wir waren alle mal 15. Angesichts jener Symptome, die sich im hyper-emotionalen Sprachgebrauch (Kraftausdrücke inklusive) und dem schonungslosen Erzähltempo widerspiegeln, muss sich der Roman natürlich den Vorwurf gefallen lassen, über das Niveau des Pubertären nicht hinaus zu gelangen. Thema und Ton bedingen sich jedoch gegenseitig, und welchen Zweck erfüllte es, einen höflichen Roman über gesellschaftliche Katastrophen zu schreiben? Die Frage ist eher, welchem Zweck dieser Roman im Ganzen eigentlich folgt: Sind die Katastrophen darin nicht allesamt selbst gemacht, steht am Ende nicht gutbürgerliches Selbstmitleid als Selbstzweck? Auf die gleiche Art gehadert hatte ich auch mit Christian Krachts Faserland: Eine sprachlich und inhaltlich eindrückliche Schilderung der Verkommenheit der Bildungselite, ja, aber von einem Autoren, der die Präzision seines Blicks nur dem Umstand verdankt, Teil ebendieser Elite zu sein. Kritik an einer Welt, die nur sich selbst betrachtet – mittels literarischer Selbstbetrachtung? Einsicht ist der beste Weg zur Besserung, und so arbeitet sich der Antrieb beider Romane engagiert durch verschiedene Ebenen von Einsicht hindurch, versagt aber jeweils auf dem Weg zu einem konstruktiven Fazit.

Man kann mit Recht genervt sein von dieser sich um sich selbst drehenden Suada Antonia Baums. Sie nach ein paar Jahren wieder hervor zu holen lohnt dennoch: Mir ist in letzter Zeit kein Buch untergekommen, in dem sich eine Autorin oder ein Autor unter vollem Einsatz ihrer Wutkräfte so weit und mit so großer Klappe aus dem Fenster lehnen würden, wie es Antonia Baum in diesem Buch getan hat. Mit der Wut an sich bin ich einverstanden, die lässt sich gebrauchen. Aber ich suche nach Autoren und Autorinnen, die dieser Wut auch ein Angebot zur Kraftentfaltung machen, ihr ein Ziel geben, einen Sinn abseits des Selbsthasses verleihen.


> Antonia Baum, Vollkommen leblos, bestenfalls tot (Suhrkamp)

NACHTEINSAMKEIT > Julio Cortázar, Rückkehr aus der Nacht

2014 jährt sich der Geburtstag des argentinischen Schriftstellers Julio Cortázar zum hundertsten, sein Todestag zum dreißigsten mal. Grund genug ihm (mehr als) eine surreale Lesenacht zu widmen. Auf deren Risiken und Nebenwirkungen darf man sich freuen.

Es ist unerklärlich, wie sehr das Wachsein und das Träumen in den ersten Augenblicken der Erwachens vermischt bleiben und sich weigern, ihre Wasser zu scheiden. 

So beschreibt Gabriel, Protagonist der Erzählung Rückkehr aus der Nacht, eingangs seinen Verstörungszustand. Aber er scheint damit über den Rand der Erzählung hinaus zu sprechen, denn gleichzeitig artikuliert er in diesem Satz das Grundgefühl des Lesers, der sich in der Cortazár-Dimension verfangen hat: Hier stehen die Grundgerüste von Traum, Realität, Zeit und Raum auf frei beweglichen Füßen. Julio Cortázars Prosa ist in der surrenden, zirpenden, nebelsprühenden Schublade der Phantastischen Literatur zu Hause, wo sie in artverwandtschaftlicher Eintracht neben den Werken von Franz Kafka, Edgar Allan Poe, E.T.A. Hoffmann oder seines Landsmanns Jorge Luis Borges liegt – für Bescheidenheit im literarischen Vergleich besteht dabei für den großen JC kein Grund.

Aber zurück zu Gabriel, der mitten in der Nacht erwacht – noch unschlüssig, ob in einem Albtraum oder aus einem solchen -, aufsteht, sich im Spiegel betrachtet und dabei im Spiegelbild seiner eigenen Leiche gewahr wird, die auf dem Bett liegt, ohne ihn. Mit traumwandlerischer Gelassenheit betrachtet Gabriel die Situation zunächst als kniffelig. Eine hochgradige Akzeptanz gegenüber dem Absurden und Erschütternden ist ein weiteres Cortázar-Merkmal, das dem Leser jedoch nach wenigen Seiten keinerlei Verwunderung mehr abringt: An diesem Punkt hat Cortázars Spracheleganz längst den sanften Übergang in die Welt der aufgelösten Maximen bereitet – nahezu unbemerkt, einzig ein seltsam wohliges Unbehagen stellt sich ein. Man wittert gärende Verhängnisse, die in Zeitlupe ihrer Explosion zustreben. Cortázars Kernmotiv ist der Einbruch des Unheimlichen ins Vertraute. Das eigentliche Opfer dieses Einbruchs findet sich allerdings nicht im Geschriebenen, sondern ist das Ziel des Geschriebenen: Der Leser selbst findet sich unversehens in den vermischten Wassern von Wach- und Traumwahrnehmung treibend. Die phantastischen Elemente stehen nicht unterhaltend im Vordergrund, sondern sind das technische Mittel, um dem Leser Argwohn und Neugier gegenüber der alltäglichen Realität beizubringen, um Gewissheiten zu zersetzen und gewohnte Denkabläufe zu stören. So also auch in Rückkehr aus der Nacht: Da träumt jemand, er sei gestorben, denkt man, und fixiert damit bereits seine Vorstellung, es handele sich bei dieser Erzählung um eine Traumschilderung. Gabriel, so heißt der Erzähler mit Namen. Das erfährt man so nebenbei, aber es führt eine gedankliche Vollbremsung herbei: Erzengel Gabriel, denkt man jetzt – zuständig für Deutungen von Visionen, Engel der Verkündigung und der Auferstehung. Stopp. Nochmal von vorn lesen, um festzustellen, dass man im ersten Anlauf nur gedacht hat, man lese genau, denn nun liest man ganz anders. Aber das war erst der Anfang, und Cortázar ist längst noch nicht fertig. Mit uns.

Sein sicherer Sinn für das Verunsichernde mag wohl zurückgehen auf Cortázars Biographie, die eine Reihe von Weltenwechseln und privaten Brüchen beinhaltet. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges in Brüssel als Sohn eines argentinischen Handelsattachés geboren, wird Cortázar als Kleinkind im erschütterten Europa hin und her verpflanzt, bis die Familie schließlich nach Buenos Aires zurückkehrt. Dort verlässt der Vater die Familie und verschwindet spurlos. Julio wächst als kränkelnder Junge unter Frauen auf, die Mutter versucht die Familie mit einem Bürojob zu ernähren, der Gemüsegarten und das Hausvieh der Großmutter verhindern das Verhungern. Überliefert ist eine Geschichte, nach der Julio daran verzweifelt, dass die von ihm angepflanzten Nudeln einfach nicht wachsen wollen. Angesichts des sich weiter verschlimmernden Elends flieht der Junge sich in eine eigene Welt, das Lesen, die Bücher – alle Bücher, zu denen sich ihm in seiner Armut irgendein Zugang bietet. Der literaturhungrige Junge wird später Lehrer, in den 1940ern sogar Professor für französische Literatur. Unter dem Peron-Regime jedoch emigriert er nach Europa, wo er als Schriftsteller und Übersetzer arbeitet. Dreimal ist Cortázar verheiratet, seine letzte Ehefrau, rund dreißig Jahre jünger als er, stirbt nur drei Jahre nach der Heirat. Cortázar bleibt auf dem Kontinent seiner frühen Kindheit und stirbt in Paris.

Die Erzählungen Cortázars in der oben abgebildeten Sammlung Rückkehr aus der Nacht (zusammengestellt und mit einem Nachwort von Clemens Meyer) sind ein einladender Einstieg in sein umfangreiches literarisches Werk, das von einem ungezügelten literarischen Spieltrieb und hochkonzentrierter Sprache geprägt ist. Sein Meisterwerk Rayuela, dt. Himmel-und-Hölle, war eines meiner wichtigsten Lese-Erlebnisse.

Cortázar nachts lesen? Unbedingt! Wer nicht aufpasst, liest sich durch die Nachtstunden, hat damit aber den Schlaf gegen etwas Wertvolleres getauscht. Das manipulative Erzähltalent Cortázars ist besonders wirksam, wenn man – ebenso nachteinsam wie Gabriel – den vermischten Wassern ungestört erlauben kann Zeit, Raum und Realität um sich herum zu unterspülen. Und weil für Cortázar selbst die eigene Jenseitigkeit kein schriftstellerisches Hindernis ist um die Fließbewegungen unserer Gedanken zu steuern, nimmt er, während wir ihn lesen, an einer Stelle schon vorweg, wie sich unsere eigene Rückkehr aus der Nacht anfühlt:

Und das Orchester des Tagesanbruchs stimmte leise seine kupferfarbenen Instrumente. 


> Julio Cortázar, Rückkehr aus der Nacht (Suhrkamp)

FABULIERIOSITÄTEN > Was macht eigentlich Fred Vargas?

Wie gern würde ich aus der Gerüchteküche hören, Fred Vargas stecke mitten in den Abschlussarbeiten zu ihrem neuesten Roman. Man soll nicht drängeln, doch im Schnitt veröffentlicht der Aufbau-Verlag im Intervall von zwei Jahren eine neue Vargas-Übersetzung – zuletzt Die Nacht des Zorns. Allerdings ist bisher auch in Frankreich noch nichts Konkretes verlautet worden, was Fortschritte oder Veröffentlichungstermine betrifft.

Es ist zwei Jahre her, dass ich Kommissar Jean-Baptiste Adamsberg zuletzt begegnet bin. Da stapfte er durch die Normandie, kümmerte sich im Auftrag einer Greisin um ein Heer blutrünstiger Waldgespenster – denn mit verfluchten Seelen kennt sich der Mann aus -, machte sich tiefgehende Gedanken um Zuckertütchen und ließ eine Taube in seinem Schuh wohnen.

Adamsberg ist ein Sohn der Pyrenäen, ein schrulliger Bergler, dessen ungewöhnliche, labyrinthische Denkweise ihm im Wege zu stehen scheint, sich jedoch seit acht Kriminalromanen mit ihm in der Hauptrolle immer wieder von Neuem als eine besondere Gabe erweist. Im Rahmen dieser Romane steht Adamsberg keineswegs allein mit seiner Seltsamkeit da. Er ist kein lediglich aufrüschendes, würzendes Stilmittel in einer ansonsten handelsüblichen Krimiproduktion, sondern Teil eines doppelbödigen Parallelfrankreichs, das Fred Vargas aus schrägen Charakteren, verwunschenen Orten und skurrillen Gegebenheiten erschaffen hat. In der mit einem eigenwilligen Erzählstil abgedichteten Vargas-Welt sind sämtliche Personen überzeichnet und doch überzeugend, jede Handlung objektiv gesehen abstrus, aber in sich schlüssig, und man selbst fegt schnell seine übliche Lese-Erwartungshaltung bei Seite und schließt sich lieber Adamsbergs verquerer Logik an. Begleitet wird Adamsberg, der in Paris tätig, jedoch oft auf Abwegen ins ländliche Frankreich unterwegs ist, von seiner Brigade criminelle, deren Mitglieder ihm an Wunderlichkeit das Wasser reichen können, denn wie gesagt: Bei Vargas ist das Seltsame der Regelfall. Den Gegenpol zu Adamsbergs traumwandlerischer Arbeitsweise bildet der sachlich-trockene Adrien Danglard, Genie der Brigade, wandelndes Lexikon, Alkoholiker. Vervollständigt wird das Team durch die ewig essende Froissy, den explosiv-unberechenbaren Mordent, den naiven Estalère und die walkürenhafte Retancourt. Wie auch den unwichtigsten Randfiguren, wohnt dem zentralen Personal eine mythische Dimension inne – was oberflächlich kurios oder grotesk wirkt, stellt bei genauerer Betrachtung eine intelligent gezeichnete Allegorie menschlicher Wesenszüge dar. So fürchten zum Beispiel alle heimlich die unerschöpfliche Stärke und den gewaltigen Zorn, zu welchen Violette Retancourt fähig ist, rufen aber in Notsituationen vertrauensvoll nach Rettung durch die alle und alles überragende Frau, die sich dann auch mit grenzenloser Güte und bedingungsloser Treue ein ums andere Mal ihrer Kollegen annimmt. Was Retancourt also verkörpert ist der Mythos mütterlicher Allmacht. Dennoch ist Retancourt eine traurige Figur, denn ihre beeindruckende Größe und Kraft machen sie gelegentlich sehr einsam. Ähnlich wie in Märchen finden sich auch in Vargas´ Welt unterhalb der erzählerischen Oberfläche gesellschaftliche und psychologische Beobachtungen.

>> Der chronologische Adamsberg:

  •  Es geht noch ein Zug von der Gare du Nord: Des Nachts entstehen Kreidekreise auf Pariser Bürgersteigen, in denen jemand scheinbar willkürlich gewählte Alltagsgegenstände platziert. Niemand sieht voraus, dass sich eines Morgens auch eine Leiche in einem Kreidekreis finden würde – außer Adamsberg natürlich.
  • Bei Anbruch der Nacht: Adamsbergs Begegnung mit der privaten Vergangenheit: Seine frühere Geliebte Camille ruft ihn aufs Land, als Unterstützung bei ihrer Suche nach dem Mörder einer Bäuerin. Unter Verdacht: ein Wolfsmensch.
  • Fliehe weit und schnell: Auf Pariser Haustüren erscheint eine verdrehte Zahl, am Morgen darauf jeweils eine schwärzliche Leiche auf dem Trottoir. Die Pest ist zurück! Und mit ihr ist ein seltsamer Bretone in der Stadt aufgetaucht, dessen wachsende Anhängerschaft Adamsberg beschäftigt.
  • Der vierzehnte Stein: Ein ungelöster Mordfall holt den Kommissar nach dreißig Jahren ein. Es wiederholt sich ein Dreizack-Mord, wie damals ist der einzige Tatverdächtige orientierungs- und gedächtnislos. Gerade zwecks beruflicher Fortbildung in Kanada angekommen, erwacht Adamsberg plötzlich selbst nach einem Filmriss – mit blutigen Händen.
  • Die schwarzen Wasser der Seine: Drei einzelne Adamsberg-Geschichten werden hier zusammengefasst: Von Weihnachtsnächten, Wasserleichen und widerständigen Obdachlosen.
  • Die dritte Jungfrau: Während in der Vorstadt Männer mit durchschnittener Kehle aufgefunden werden, deren einzige Gemeinsamkeit der Dreck unter ihren Fingernägeln ist, plagt sich Adamsberg in seinem frisch erworbenen Pariser Eigenheim mit dem Geist einer männermordenden Nonne herum.
  • Der verbotene Ort: Eine Ansammlung von Schuhen versalzt Adamsberg und Danglard die Freude über ihren London-Aufenthalt, oder vielmehr: die herrenlosen Füße, die noch in jenen Schuhen stecken. Die Fuß-Spur führt nach Serbien, in eine Region, in der archaische Glaubensvorstellungen herrschen.
  • Die Nacht des Zorns: Adamsberg reist in die Normandie, durch deren Wälder der Mythos des Wütenden Heeres geistert, ein schauriger Totenzug, der der Sage nach Todesankündigungen äußert. Nachdem eine Frau am Ort neuerlich von Heeres-Visionen geplagt wird, lassen die Todesfälle nicht lang auf sich warten.

Fred Vargas spricht von ihren Figuren als einer netten Truppe. Mag sein, dass sich die inzwischen hoch dekorierte Autorin in ihrer Romanwelt im Allgemeinen eher von Gleichgesinnten umgeben fühlt als im echten Leben. Vielleicht verweist auch die Wahl eines Synonyms für ihre schriftstellerische Tätigkeit auf eine Abgewandtheit von der Normalwelt. Zwischen den Buchdeckeln würde Vargas selbst wohl nicht als Unikat auffallen, diesseits des Geschriebenen jedoch staunt man ein wenig über manche Schlagworte in ihrer Biographie: Frédérique Audoin-Rouzeau, gebürtige Pariserin, Tochter eines Kulturjournalisten, der Mitglied der Surrealisten war, ist Schriftstellerin, Historikerin, Mittelalterarchäologin und Archäozoologin. Ihre Romane schreibt sie während ihrer Ferienzeit. Hauptberuflich forscht sie am CNRS, dem Nationalen Zentrum für wissenschaftliche Forschung, ihr Spezialgebiet ist die Tierwelt des Mittelalters.


 

LEBEN AM FLUSS > Gertrud Leutenegger und Esther Kinsky in London

Zwei besondere Romane haben mich zuletzt gedanklich in die britische Hauptstadt geführt: Gertrud Leutenegger erzählt in Panischer Frühling von Stillstand und Bewegung. Und Am Fluß von Esther Kinsky beschreibt Werden und Vergehen von Mensch und Landschaft.

Ein Fluss ist Bewegung. Fließbewegungen kennzeichnen auch innere, höhere, übergeordnete Vorgänge: In uns fließt Blut, man misst Gehirnströme, man spricht vom Stream of Conciousness, ebenso von Finanzströmen oder kulturellen Strömungen, stellt die Geschichte im Ganzen wie auch das Leben des Einzelnen als Fluss dar – all dies Verborgene oder Abstrakte wird im Betrachten eines Flusses greifbar.

Die Themse ist es, die das Hintergrundrauschen zu Panischer Frühling beisteuert. Die wenig sesshafte Erzählerin des Romans hat sich in einem bewegten Leben eingerichtet, das sie inzwischen nach London geführt hat. Dort jedoch tritt jedem Bewegungsdrang ein unwirklich anmutendes Ereignis in den Weg: Die vom isländischen Vulkan Eyjafjallajökull verursachte Aschewolke sorgt für eine tagelange Flugsperre und konfrontiert die global-mobile Welt mit dem ausgestorben geglaubten Phänomen Stillstand. Leuteneggers Roman entfaltet eine reiche Symbolwelt im Spannungsfeld zwischen zwei Lebenspolen: Die Erzählerin steht zwischen Fluss und Verwurzelung – von fortgerissenen Wäldern, die den Fluss hinabtreiben, ist die Rede, ein Haus aus Kindheitserinnerungen besaß sowohl ein Waldzimmer als auch einen Seezimmer. Und die Symbolik weitet sich aus ins Gebiet der Großbegriffe: Leben und Tod, Werden und Vergehen. Das Leben ist ein Spiel der Wechsel. So besteht beispielsweise auch die Besonderheit der Themse darin, dass sie dem Tidenhub unterliegt. Analog dazu sind die Kapitel mit dem jeweiligen Wasserstand überschrieben, das Geschehen bewegt sich zwischen Low Water und High Water, die Ausschläge sind unterschiedlich hoch oder niedrig. Die Asche des Vulkans findet eine Parallele in jener Asche, an die sich die Erzählerin aus Kindertagen erinnert: Im kirchlichen Zeremoniell wird Asche auf das Haupt des jungen Mädchens gestreut um an die Sterblichkeit allen Irdischens zu gemahnen. Erblühen und Niedergang drängen sich bis in jeden nebensatzkleinen Raum hinein dicht aneinander, wo zum Beispiel in einer knappen Schilderung der prächtigen Frühlingsblüte im Park das Elend der Obdachlosen, die sich dort inmitten all der Blumen schlafend zusammenkrümmen, im selben Satz miterzählt wird. Ein bestimmter Obdachlose nimmt für die Erzählerin bald eine besondere Rolle ein: Jonathan, dem sie die Obdachlosenzeitung abkauft. Jonathan, dessen Gesicht zur Hälfte renessaincehaft zart, zur Hälfte entstellt ist. Es besteht eine Verbindung zwischen ihr und diesem Fremden. Wie tief und von welcher Art jene Verbindung wohl sein mag – dieser Frage geht die Erzählerin nach.

Auch in Am Fluß wird der Fluss zum lebensbeschreibenden Element, hier ist es der River Lea im Osten Londons. Die von ihm geprägte Marschlandschaft ist eine Welt, in der Aufschwünge und Niedergänge überall deutlich werden. Man mag sich darüber streiten, ob die Bezeichnung Roman für dieses Buch treffend ist – ich bin, anstatt mitzustreiten, lieber mitgeschwommen: Der Assoziationsstrom, den Esther Kinsky ausschüttet, ist ein wundervolles Leseerlebnis. Autobiographisch gefärbt, fügt die Autorin Beobachtungen aneinander, schildert Werdegänge und Hintergründe, die mit dem Fluss verknüpft sind, ihre tiefere Bedeutung dabei aber auf mehreren Ebenen entfalten. Ihr Erzähl-Ich arbeitet als Übersetzerin, ist tätig in verschiedenen Funktionen, in der Übertragungen von einer Sprache in eine andere vorgenommen und Bedeutungen umgewälzt werden, lebt selbst in Übergangszuständen, kommt nirgendwo an, kommt nicht zur Ruhe. Die eigene Vergangenheit vermischt sich mit Vergänglichkeitseindrücken, die sie entlang des Flusses sammelt: Im geographischen Randgebiet der Großstadt zerfasert die urbane Pracht der Metropole, soziale Randgebiete liefern menschliche Betrachtungen, Naturbeobachtungen und Industrieszenen verbinden sich. Begleitet werden die Beobachtungen von sich atmosphärisch perfekt einfügenden Abbildungen, die das Erzählte in schwarz-weißer Stimmung untermalen. Esther Kinskys Einfühlung in das von ihr so detailbewusst beschriebene Umfeld, die feine Wahrnehmung von Bedeutungsebenen, die sie elegant, intelligent, unaufgeregt in schlichtweg schöne Sprache fasst, machen dieses Buch für mich zu einer meiner liebsten Entdeckungen in diesem Jahr. Darüber hinaus zeigt sich durch Am Fluß mal wieder, dass es sich lohnt, immer ein Auge auf den Verlag Matthes & Seitz zu haben, in dessen Programm sich reichlich Schätze verstecken.


Gertrud Leutenegger, Panischer Frühling (Suhrkamp) Gebunden €19,95

Esther Kinsky, Am Fluß (Matthes & Seitz) Gebunden €22,90

SAND > Christoph Poschenrieder, Das Sandkorn

Hochgeehrter Herr Geheimrat, ich brauche einen Zeppelin. 

Eine unverfrorene Bestellung, sein sparsamer Dienstherr wird diesen Brief von ihm mit Schaum vorm Mund lesen – das ist Jacob Tolmeyn bewusst. Doch alles im Leben hängt davon ab, mit welcher anhängigen Geschichte es serviert wird – das ist Tolmeyn ebenfalls bewusst, ungemein sogar: Diese Richtlinie regiert über sein Leben.

So einer musste ja folgerichtig Geschichtsforscher werden, Kunsthistoriker um genau zu sein, und in dieser Funktion hatte es Jacob Tolmeyn aus dem wilden Berlin nach Rom verschlagen, ans Könglich Preußische Historische Institut, wo er zunächst ein staubiges Dasein zwischen Dokumentbergen und Archivkellern fristete. Erst ein überraschender Forschungsauftrag hat ihn ans Tageslicht zurück geholt. Zu Beginn des Jahres 1914 befindet man sich noch in Friedenszeiten, doch der Zeitgeist im renommiersüchtigen Kaiserreich verlangt bereits nach Heldenfiguren, vorzugsweise aus der glorifizierten Historie, und so soll auch die Strahlkraft des großen Stauferkaisers Friedrich des II. wieder aufpoliert werden. Wo es um Identitätspflege und Außendarstellung geht, darf kein Aufwand gescheut werden – für das Kaiserreich gilt dies im Großen wie für Tolmeyn im Privaten.

Von höchster Stelle ist Tolmeyn also nach Süditalien entsandt worden. Zwar wenig reiseerfahren, doch herzlich erfreut über die sonnige Abwechsung zum Archivdunkel, folgt er hier den Spuren Friedrichs des II., des großen Freigeistes, Gelehrten, Genießers. Kein Zufall, dass es den nicht im harschen Norden hielt, und kaum größer könnten die Differenzen zwischen diesem Universalgenie und dem gegenwärtigen Träger der Kaiserwürde sein. Welchem von beiden die Sympathien Tolmeyns eher gelten mögen, ist kein Rätsel, denn dem Preußen Tolmeyn liegt das Preußische nicht. Warum eigentlich nicht?

Sein Dienstherr Professor Stammschröer beordert ihn zwischenzeitlich nach Berlin zurück, nur für die Dauer eines Photographie-Kurses, den er bei einer Koryphäe des Fachs absolvieren soll. Allein der Gedanke Berlin bringt Tolmeyn ins Schwitzen, den Aufenthalt verlebt er begleitet von Magenweh und Beklemmung, und man versteht: Keine Temperamentsgründe, sondern Angst hatten ihn nach Rom getrieben, fort von Preußen. Zwar liebt der urbane Schöngeist Tolmeyn seine Heimatstadt, doch die Männer liebt er eben auch – und macht sich nach Wilhelminischem Recht dadurch strafbar. Die eigene, die eigentliche Identität: illegal. Und auch die Nebenwirkungen, die jede Form von Rechtswidrigkeit entfaltet, quälen Tolmeyn: Erpressbarkeit, dunkle Geheimnisse, Vertuschungsnöte.

Wie befreit darf er sich also fühlen während seiner apulischen Mission! Zudem erfreut er sich der Begleitung durch einen sehr brauchbaren Assistenten: Beat Imboden, bisher weitgehend unbeachteter Archivkeller-Nachbar Tolmeyns aus dem Institut, ein aus undeutlichen Beweggründen in Rom gelandeter Schweizer, der sich in Apulien jedoch zusehends prächtig entwickelt. Die südliche Sonne und der Geist des Stupor Mundi vertragen sich hervorragend mit dem Fortschrittsgedanken, in dessen Diensten Tolmeyn und Imboden zu stehen glauben. Sie entstauben Legenden, legen Grundrisse frei, erweitern ihr Sehvermögen mittels Photographie und Mikroskopie. Die Zeiten sind schließlich von Aufbruchswillen geprägt, das junge Jahrhundert nimmt gerade erst Fahrt auf und zeigt sich verheißungsvoll. Neue Horizonte, neue Wissenschaften! Gar eine neue Gesellschaft?

Die Geschichte, mit der Tolmeyn dem Institutsleiter also seine budgetsprengende Zeppelin-Bestellung serviert, ist keine geringere als die vom Fortschritt der Menschheit. Hoch hinaus in den freien Luftraum will er, der Mensch, und das auf komfortable Weise, uneingegrenzt und unbeschwert will er sein. Aber bekommt Tolmeyn auch seinen Zeppelin? Was Tolmeyn und Imboden auf ihrer ausgedehnten Reise fernab des Preußentums gern vergessen, ist dass sie schließlich in dessen Interesse stattfindet. Und ein Preuße hat bodenständig zu sein. Außerdem herrscht plötzlich Luftschiff-Mangel, man requiriert Mittel und Material, denn es beginnt ein Wort seine Kreise zu ziehen, das einen ganz anderen Fortschritt verkörpert als jenen, in den Tolmeyn so gern hinein leben würde: Mobilmachung.

Christoph Poschenrieder hat für seinen aktuellen Roman einen effektvollen Einstieg gefunden: Eingangs beobachtet man einen rätselhaften Mann, der Sand aus Süditalien auf den Straßen Berlins ausstreut – bis ihm bald der halbe Stadtteil hinterherläuft, und die kaiserliche Polizei ihn schließlich dem Verhör zuführt. Die skurrile Handlung des Mannes und das karikierte preußische Beamtenwesen bieten sich dankbar an als perfekte Aufhänger für eine Buchbesprechung. Oft erlebt man leider, dass sich der Ideenvorrat eines Romans in einem solchen Aufhänger bereits erschöpft, in der Folge erlahmt die Geschichte. Ein Buch, das von einer einzigen Idee getragen werden muss, hätte vielleicht besser als Kurzgeschichte auf die Welt kommen sollen. In Das Sandkorn wird dieser Aufhänger jedoch so genutzt, dass er seinem Wortsinn gerecht wird: Er trägt eine große Geschichte. Ausgehend von der Initialszene spannt Poschenrieder Erzählfäden in diverse Vergangenheiten, dennoch wirkt der Erzählfluss nie allzu verzweigt oder gar gebrochen. So begegnet man beispielsweise dem Sandstreuer auf offener Straße und später im Verhörraum in der Gegenwartsform, während man parallel dazu die Perspektive des ihn vernehmenden Kriminalers Treptow durch Auszüge aus dessen Memoiren geliefert bekommt. Treptow übrigens bleibt der Geschichte weit über das Verhör hinaus erhalten, von seinem Gegenüber hat er noch viel zu berichten – der Mann mochte ihm wenig zu gestehen haben, dafür umso mehr zu erzählen. Und wo wir gerade beim Kriminaler sind: Was hat es eigentlich mit Fritzi und Niki auf sich, und welcher Zusammenhang besteht vielleicht zwischen Jacob Tolmeyn und dem toten Mann aus der Spree?

Die handwerkliche Kunst des Autors offenbart sich bei Christoph Poschenrieders Romanen immer gerade darin, dass man sie als Leser kaum bewusst wahrnimmt. Selten sind perfekter Stil so unterhaltsam und Unterhaltsamkeit so anspruchsvoll. Wer sich zum Schluss dieses Romans klar macht, dass er gerade eine Geschichte gelesen hat, in der sich eine Kriminalermittlung, der Ausbruch des Ersten Weltkrieges, zwei Kaiser, verschiedene Schauplätze, der § 175 und – wir wollen die funkelnde Laetizia nicht vergessen – die Frauenrechtsbewegung verbinden, ist erstaunt, dass dieser enorme Aufeinanderprall nicht den geringsten Krach verursacht hat.

Warum Sand? Tolmeyn nimmt Proben von Sand, untersucht seine Zusammensetzungen, leuchtet ihn mikroskopisch aus, paniert sich beim Sonnenbaden, trägt ihn bei sich, entzaubert ihn mit wissenschaftlichen Mitteln, lässt die Magie einer Hexe auf ihn wirken, und mehr. Wer, wie Christoph Poschenrieder es in diesem Roman getan hat, den Sand als Leitmetapher für eine Geschichte über Identitätskämpfe wählt, eröffnet sich damit ein breites Spektrum an Sinnbildern. Um eine besondere Variante des Sandes kommt man dabei wohl nicht herum: Treibsand. In zwei Szenen hat der Treibsand hier seinen Auftritt – die zweite spiegelt dabei die erste. In beiden zeigt sich je eine ganze Welt, zusammengefaltet auf wenige Zeilen Umfang, und die Frage „Welche der beiden Welten hättest Du Dir gewünscht?“ zu beantworten, tut ein bisschen weh. Nein, sehr.


Christoph Poschenrieder, Das Sandkorn (Diogenes)  

DAS LEBEN VON GESTERN > Ulrike Draesner, Sieben Sprünge vom Rand der Welt

Gestern ist mehr als nur ein Zeitbegriff, es beschreibt auch einen Zustand: Vergangensein. Dass aber das Vergangene uns im Jetzt fest umschließt und uns bestimmt, während wir es nicht mehr bestimmen können, macht diesen Zustand allzu oft schwer erträglich. Zumal die Gestern-Kraft, wie in Ulrike Draesners aktuellem Roman wuchtig zum Ausdruck kommt, über unser eigenes Leben hinaus auch in jene hineingreift, die mit diesem verbunden sind.

In Sieben Sprünge vom Rand der Welt besteht das Gestern, dessen Bannkraft vier Generationen einer Familie entscheidend in deren Lebensgängen beeinflusst, aus dem alten Weltkriegs-Dreiklang Verlust, Tod, Trauma. Beginnend mit schlesischen Kindheitserinnerungen des Verhaltensforschers Eustachius Grolmann, verwebt die Autorin, deren eigene Familie teils schlesische Wurzeln und Fluchterfahrungen besitzt, Erzählstränge aus sieben unterschiedlichen Perspektiven ineinander – von der in der vorkriegszeitlichen Welt verhafteten Generation der Urgroßeltern bis zur zukunftsgerichteten Urenkelin.

Wer die 555 Seiten starke Lektüre beginnt, gerät weniger in den klassischen Lesesog als eher in einen Recherche-Modus: Man folgt Hinweisen, sucht nach Erklärungen, versucht hinter dem Erzählten zu lesen. So entwickelt man eine Lese-Haltung, die durch Wachsamkeit und Suchbereitschaft gekennzeichnet ist und dadurch das Verständnis für die Charaktere unterstützt, die ihrerseits in ihrer Familiengeschichte, in ihrer eigenen Psyche auf Verstehensgrenzen stoßen. Wie zum Beispiel der zunächst skurril wirkende Kontrast zwischen Fluchtschilderungen und Szenen aus dem Alltag einer Affenforscherfamilie den Leser vor die Frage nach den inneren Zusammenhängen dieser Geschichte stellt, stehen auch die Figuren Draesners vor der Frage nach den tieferen Beweggründen ihrer jeweiligen Entwicklungen.

Damit sind auch schon die zwei Hauptlinien beschrieben, die sich im Verlauf des Buches aus den vermischten Erzählabschnitten herausarbeiten: Die Geschichte von Vertreibung und Flucht auf der Vergangenheitsebene, auf der Gegenwartsebene ein schräger Familienroman im Forschermilieu. Im Zentrum all dessen steht mit Eustachius Grolmann eine Figur, die ihrer romantragenden Rolle gewachsen ist. Der große Grolmann, körperlich ein Riese, als Wissenschaftler eine Institution, als Mensch ein Rätsel (ein Charmeur bis ins hohe Alter, und doch ein Kauz – beim Lesen erscheint er einem als Mischgestalt aus Thor Heyerdahl und Karl Valentin vor Augen). Die Gegenwartsebene zeigt ihn als Familienoberhaupt einer mit den üblichen Konflikten geschlagenen Sippe, das aber keine Leitrolle einnimmt, sondern als unberechenbarer und zielverblendeter alter Sturkopf im Zentrum der Sorge seiner Tochter und Enkeltochter steht, die Grolmann in seiner hoffnungslos eigensinnigen Art jedoch ungewürdigt lässt. Enkelin Esther besitzt zwar das Privileg, einen so offenen Umgang mit dem Großvater pflegen zu können wie sonst niemand, was an Grolmanns ehrlicher Vernarrtheit in sie liegt – doch nicht einmal ihr zuliebe richtet Grolmann sein Handeln vorausschauend auf familienverträgliche Wirkung aus. Auf der Vergangenheitsebene erklärt sich anhand Eustachius´ Überlebensgeschichte, wie der Krieg nur demjenigen, der lernt sich nicht zu kümmern, das Weiterkommen gewährt. Immer wieder treten Momente auf, an denen die verschiedenen Ebenen miteinander verklebt zu sein scheinen: So verläuft die Flucht des kleinen Eustachius durch lebensfeindlichen Schnee, und seine Tochter Simone wird, wiederum in der Gegenwart, geplagt von einer ungewöhnlichen Schnee-Phobie. Auch das Rätsel um das Verschwinden seines behinderten Bruders während der Flucht, das Eustachius bis ins Alter nicht loslässt, sorgt für Verbindungsstellen zwischen den Erzählebenen, die den linearen Verlauf der Zeit zumindest empfundenermaßen aufheben.

Dass übrigens manch Rätselhaftes, dessen Klärung der Leser zum Ende des Buches hin nach langer Puzzlearbeit erwartet, nun doch ungelöst im Raum hängen bleibt, ist ein gnadenloser, aber genialer Dreh der Autorin. Sie reicht schlicht die Verwirrungen und Verzweiflungen der Charaktere an den Leser weiter, indem sie das Buch in mancher Hinsicht unbeendet lässt und seinen Fragen somit die Tür vor der Nase zuschlägt.

Mittels ihrer eindrucksvollen Sprachstärke und ihrer perfekten Beherrschung atmosphärischer Mittel gelingt es Susanne Draesner, ein mächtiges Zeitpanorama zu entfalten und den Leser zum Nachfühlen des Ungeheuren zu zwingen. Gebrochen durch Kapitel voll absurden Humors und warmherzigen Erzählens, erhält ihre Vermittlung der Kriegsschrecken eine besonders schmerzliche Wirkung. Und das Gestern und seinen Zugriff auf die Folgegenerationen betrachtet man nach dieser Lektüre plötzlich als einen ganz logisch auf unsere Gegenwart einwirkenden Faktor.

Besonders berührt hat mich dieses Buch, da ich in meiner eigenen Familie den Nachhall des Gestern – des Kriegstraumas, des Vertriebenenschicksals, der Erfahrungen von Verlust, Hunger, Leid – als Kraft kennengelernt habe, die sich über Generationen hinweg prägend auswirkt, und in diesem Buch nun eine besonders ausdrucksstarke Auseinandersetzung mit diesem Thema gefunden habe. Die mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnete Ulrike Draesner hat einen großen Anspruch mit diesem Roman verfolgt, und es ist ein großes Buch daraus geworden.


Ulrike Draesner, Sieben Sprünge vom Rand der Welt (Luchterhand Literaturverlag), Gebunden €21,99