ANS EINGEMACHTE > Diane Cook, Man V. Nature

Kein bisschen Lust zu lesen. Dabei ist Herbst, alles ist hygge, Sie kennen das, überall im Internet überschlagen sich die Leute mit ihrer penibel inszenierten Herbstgemütlichkeit: Kürbis, Teetasse, #fallfashion, Stricksocken und Bücherstapel. Ich raffe mich sogar auf, in eine Buchhandlung zu gehen, finde aber, auf der Suche nach Büchern, die ich vielleicht doch lesen wollen würde, nur blöde Haufen Papier.

Liegt es am Markt? Liegt es an der Leserin?

In solchen Phasen bekomme ich gleichzeitig auch nichts Gescheites hingetippt. Eventuell muss das Hirnareal für Textangelegenheiten auch einfach mal den Leerlauf einlegen, lüften, ja?

Es bieten schließlich auch andere Dinge geistige Beschäftigung. Gespräche: „Regnet’s heute wohl?“, „Na, ich denke, es könnte.“, „Es müsste ja mal.“, „Nur dann nicht so dolle, für die Rosen wär’s ja nicht gut.“, „So ohne wär’s aber auch nicht gut.“, „Nee, das wär nicht gut.“, „Bisschen könnt schon.“ Täglich acht Uhr kommt ein Trupp Kohlmeisen durch den Garten, da kann man gut zuschauen, wie der angefressene Buchs munter von Geziefer befreit wird. Bundestagswahl – auch ein Thema.

Selten lese ich Bücher mehrmalig, aber bestimmte Bücher nehme ich eben doch häufiger zur Hand, um mich kapitelweise nochmals in Sprache oder Stimmung zu vertiefen, wenn ich bedürftig danach bin. Ich mag das gar nicht sagen, ich habe im Arbeitsleben viele, zu viele Postkarten und Lesezeichen mit „Bücher sind Medizin“-Aufdruck verkauft, um nicht privat eine ausgesprochene Allergie gegen solche Mottos entwickelt zu haben, aber nun denn – meine, Entschuldigung, „literarische Hausapotheke“: Harold Brodkey und Georg Klein, wenn ich nicht schlafen kann. Henning Ahrens, wenn ich Heimweh nach meiner Urgroßmutter und nach längst bebauten Brachwiesen, längst abgerissenen Hühnerhöfen bekomme. Tristan Egolf, wenn ich Lust hätte, mich mit meiner verstorbenen Familie zu zoffen. Agatha Christie, statt Wärmflasche. Herta Müller, wenn zu viel Christian Lindner im Radio war.

Ein anderer Grund, um ein Buch stetig wieder zur Hand zu nehmen, kommt seltener vor: Weil man daran arbeiten muss. Als hätte man sich daran überfressen und kriegte diesen Brocken nun partout nicht verdaut. Diane Cooks Kurzgeschichten zum Beispiel, die wurmen mich, wie sonst eigentlich nur noch Julio Cortazárs Bestiarium. Wenn ich die nicht im Auge behalte, sickert etwas Giftiges daraus hervor, bildet gefährliche Dämpfe, Strahlungen… Eine solche esoterische Dimension liegt natürlich nicht vor, es hat bloß mit bestimmten sensiblen Punkten zu tun, die da gepiesackt werden. Was ja anstrengend ist. Und was ja erst aufhören kann, wenn die Frage geklärt ist, woher genau eigentlich die Piesackigkeit bestimmter Geschichten rührt.

Kurz gesagt gibt es also Bücher, die einem zu denken zu geben. Die einen hartnäckig, unangenehm beschäftigen. Und dass ich das offenbar nicht mehr gewohnt bin, ist eventuell kein Kompliment für mein eigenes Leseverhalten und mit Sicherheit keins für den breiten Buchmarkt.

Nun, Diane Cook. Seit ich letztes Jahr die englischsprachige Ausgabe von Man V. Nature gelesen habe, hätte ich erwartet (befürchtet?), dass am ehesten Heyne oder Ullstein eine deutsche Ausgabe auf den Weg bringen würden, deren Vermarktungsrichtung auf Simon-Beckett-LeserInnen zielen würde. Tatsächlich rührt sich aber niemand. Wahrscheinlicher wäre wohl, dass Netflix schneller eine Erfolgsserie bastelt, die auf einer von Cooks Kurzgeschichten basiert, als man „weiblicher Autor über 40, aber nicht Donna Leon“ sagen kann.

Ein glattes Dutzend Storys auf rund 250 Seiten. An Netflix‘ Stelle würde ich sie allesamt adaptieren, und zwar flott. Höchstens dem Aufmacher mit seiner Weltuntergang-durch-Klimawandel-Thematik könnte man einen leichten Mangel an Originalität vorwerfen, aber sonst.

Nur drei Geschichten transportieren das Motiv Mensch-versus-Natur im Survival-Sinne, sodass man sich, angesichts häufiger groß- und kleinstädtischer Settings,  zunächst über die Titelgebung wundern mag. Nachdem man zur Titelstory vorgedrungen ist, erklärt sich jedoch einiges: In Man V. Nature setzt Cook drei Männer in ein Boot und lässt aus dem Angelausflug, den die alten Jugendfreunde geplant haben, einen Überlebens-Trip werden, wobei sich schnell abzeichnet, dass es eher nicht die Elemente an sich sind, die den Akteuren den Rest geben – die Triebe und Psychologie des Menschen, seine eigene Natur also, sind die lebensfeindliche Gewalt in dieser Geschichte. Und in allen anderen gleichfalls.

Man V. Nature zeigt die Deutungs-, aber auch die Stil-Linie für die übrigen Geschichten an. Cook spielt hier mit an Film und Fernsehen geschulten Erwartungen an den Plot – Sie wissen schon: drei Jungs, ein Boot, es sollte ein harmloser, fröhlicher Ausflug werden, doch… – , erfüllt sie aber nie, und ich finde große Kunst, wie Cook der Vorhersehbarkeit ein Schnippchen schlägt. Insgesamt kriege ich in diesem Buch nirgendwo festen Boden unter den Füßen zu spüren, scheinbaren Gewissheiten ist nie zu trauen. Die nüchterne Akzeptanz wiederum, die hier gegenüber dem Unerwarteten, auch dem Absurden und Entsetzlichen an den Tag gelegt wird, kennt man aus Träumen, und so lesen sich diese Geschichten denn auch wie Aufzeichnungen geträumter Episoden; wer weiß, vielleicht sind sie’s ja.

Den Rang als Titelgeschichte hat sich dieser unglückliche Bootsausflug schon allein wegen seiner durchdringenden Boshaftigkeit verdient – für mich eine der schlimmst-wurmenden Episoden im ganzen Buch. Und das will was heißen.
In A Wanted Man zum Beispiel hetzt man lesend durch eine Metropole, eigentlich Sinnbild für Zivilisation, und versucht mit dem Protagonisten Schritt zu halten, der pausenlos Weibchen begattet und von anderen Männchen zu Revierkämpfen herausgefordert wird – hier darf der Mensch vollends Tier sein, nur seinen Trieben verpflichtet, und es ist vollends grausam. Ähnlich zügellos geht es in It’s Coming zu: Ein Hochhaus wird angegriffen, unzählige Angestellte, die dort für internationale Büros arbeiten, werden direkt vom Schreibtisch in den Tod befördert (man denkt dabei zwangsläufig an die Twin Towers, nur ist dies hier eine Abstraktion, weltpolitisch neutral, in der Realität so nicht auffindbar, wie alle Orte in diesem Buch), und die von Angst und Kontrollverlust befeuerte psychologische Dynamik treibt unter den noch Lebenden, die quer durch die Etagen gejagt werden, schaurige, mitunter überraschende Blüten. Die Abschlussgeschichte, The Not-Needed Forest, wo ein Haufen aussortierter Kinder allein in der Wildnis zu überleben versucht und dabei haarsträubende Rituale entwickelt, geht maximal ans Eingemachte – das ist Goldings Der Herr der Fliegen, bloß übersetzt in die nahe Zukunft und verdichtet auf 20 Seiten, und mehr würde ich auch gar nicht ertragen. 

Ja, ich weiß. Ein Buch, das mir so empfohlen würde, würde ich an Ihrer Stelle auch nicht lesen.

Gelesen habe ich, die ich mein Leben lang noch keine Stephen-King-Verfilmung zu Ende anschauen konnte, ich, die kategorische Horror-Verweigerin, die Angsthäsin, das Weichei, dieses Buch bis jetzt zweieinhalb Mal.

Das Zutagetreten einer rohen, archaischen, unkalkulierbaren Natur, die, vom zivilisierten Alltagsleben in den Schlaf gewogen, unterhalb unserer Haut schlummert, ist Cooks roter Faden. Und trotzdem dreht es sich um mehr als bloß Gewalt und Panik, ist Cook eine Frau fürs Subtile – die stillen Ängste zu portraitieren, ist ihr größtes Talent. Statt bloße Horrorgeschichten zu erzählen, die auf Schock-Effekte aus sind, entwirft Cook psychologische Bilderwelten, die verbreitete Ängste und Leiden ernst nehmen, indem sie deren Wucht geschickt sichtbar machen. Jede dieser Geschichten ist ein Alptraum, und fast jeden davon habe ich schon mal geträumt.

Dieser Bootsausflug. Natürlich geht’s da nicht um das Wasser. Es geht um kleine Demütigungen und Verletzungen. Scham, Enttäuschung, Entfremdung, Verunsicherung, Konfrontation, Ablehnung, Unfreundlichkeit. Um diese vermeintlich harmlosen Dinge im Zwischenmenschlichen – die einen nachts wach halten können. Die einen krank machen können. Oder schlimmeres.

Die Geschichte jedoch, woran ich am langwierigsten zu knabbern habe, ist unangefochten Somebody’s Baby. Lesen Sie’s nicht, wenn Sie gerade Jungeltern geworden sind, wirklich, lassen Sie’s sein (Sie haben in dem Fall sowieso keine Zeit, irgendwas zu lesen, aber seien sie ausnahmsweise froh drum). Es hat mich sofort zurückversetzt in den Moment, als ich damals mit Baby aus dem Krankenhaus nach Hause kam, diese ganze, über neun Monate hinweg ausgestaltete Kulisse mit Wickeltisch, Babybett usw. plötzlich mit Leben gefüllt wurde und alles, auch ich, endlich in der Realität ankam. Und kapierte, was Angst haben heißt. Verantwortung haben, Glück haben, ein Kind haben heißt Angst haben. Eine Scheißangst, immer. Bei aller Fröhlichkeit, auch aller Genervtheit und Müdigkeit, die einen vorrangig beschäftigen, lauert im Hintergrund doch permanent diese Angst, und in Cooks Geschichte findet sich dafür folgendes Bild: Im Vorgarten, hinterm Gebüsch, lauert ein Mann, der niemals schläft und den niemand je in die Finger kriegen wird, und sobald du einmal nicht aufpasst, klaut er dein Kind. Es ist weg, du siehst es nie wieder. Alle Eltern kennen diesen Mann, er klaut alle Neugeborenen, wenn man nicht aufpasst, er gehört eben dazu – normal. Du hast eine quälende Angst vor dem Mann-im-Gebüsch, aber niemand nimmt dich in deiner Angst ernst, nun, die Normalität mag ja grausam sein, aber sie eben ist die Normalität, weswegen stellst du dich dermaßen an?

Wie geht man mit solchen Ängsten um? Wann kann ich aufhören, dieses Buch immer wieder in die Hand zu nehmen?


>Diane Cook, Man V. Nature

VERGANGENWELT > Steinbeck zu, Steinbeck auf

Früher gab es Amerika. Das ist eine Weile her, ich war noch in der Schule. Für meine Eltern, meine fast-pensionierten Lehrer und das Fernsehen – allesamt Zöglinge des Kalten Kriegs – war dieses Amerika der Fixstern in dunkler Nacht. Klingt blumig, war aber poesiebefreiter Polit-Kurs. Amerika bedeutete Freiheit, alles übrige bedeutete anrollende Panzer. Dabei hatte ich diese Panzer-Angst, anders als vorige Generationen, gar nicht im Leib, und doch war auch meine unbewusste Amerika-Bindung absolut, quasi naturgegeben, quasi als wäre ich selbst irgendwie ein kleines bisschen Amerikanerin – das nennt man Prägung, und wenn man kritisch ist, nennt man es Gehirnwäsche, männerklärten mir die Jungs vom Politik-LK. Den Begriff Amerika verwendete man synonym für USA, (Wilder) Westen, Beverly Hills 90210, Demokratie, freiheitliche Gesellschaft, Weltspitze, Utopia, Bill Clinton, militärische Dominanz, Fast Food und Fast-Kultur. Jenes Amerika war seine eigene Showbühne und kam in den unterschiedlichsten, jedoch stets selbsterklärenden Kostümen daher. Es bewegte sich trittsicher im Semiotischen Dreieck. Alle glaubten mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit zu wissen, was ein „echter amerikanischer Patriot“, ein „typischer amerikanischer Arbeiter“, ein „All American Girl“, die „amerikanische Jugend“ oder der „American Way of Life“ sein sollten, und diese Konstrukte sind so mächtig, dass sie nie von der vielschichtigen Realität zerstört wurden, sondern über ihr stehen. Vielmehr orientiert und misst sich die Realität sogar an ihnen, was eine Art Rückkopplungsschleife erzeugt: Der Glaube, alle AmerikanerInnen besäßen eigene Waffen, bewirkt, dass sich viele AmerikanerInnen eigene Waffen zulegen. Der Glaube, alle AmerikanerInnen könnten sich selbstverständlich kein Leben ohne eigenes Auto vorstellen, bewirkt, dass sich viele AmerikanerInnen kein Leben ohne eigenes Auto vorstellen können. Etc. Auch bewirkt der Glaube, alle AmerikanerInnen seien locker und unternehmungslustig, dass man als AusländerIn in Amerika überall diese Lockerheit und Unternehmungslust beobachtet, und der Glaube, alle AmerikanerInnen seien sportbegeistert, bewirkt, dass man die Sportbegeisterten in besonderem Maße wahrnimmt, etc. Jedenfalls – man hätte sich denken können, dass eine Gesellschaft, die mit einer solchen Vehemenz jene vereinfachenden, glorifizierenden Konstrukte wiederkäut, in der Realität eine umso diversere Gesellschaft sein muss, wo der breiten Masse kein einheitlich-einfacher Lebensalltag, geschweige denn Glanz und Gloria beschieden sind, und sicher tat man das auch, doch um in der Englisch-Klausur seine 15 Punkte zu kassieren, leierte man natürlich bloß das Amerikanische Gebet herunter, „Life, Liberty and the Pursuit of Happiness“, und fertig.
Früher also gab es einmal Amerika. Es war gemacht aus Öl und Film, Rock’n Roll und Raumfahrt, Touchdowns, Canyons, Valleys, Airlines und Autos, Tellerwäschern und Millionären, Coke, Doughnuts, Santa Claus, Bankern, Hippies, Kennedys, Backstreet Boys, Gershwin, Army, Navy, FBI, CIA, NY, LA, Rot, Weiß und Blau und unaussprechlich vielen Dingen, die mir augenblicklich vor Augen stehen; auch, und nicht zuletzt, stapelweise Steinbeck-Romane.
Wenn ich nun „Amerika“ denke, bleibt die gesammelte US-Klassik zwar mitgedacht. Nur denke ich heute kaum noch ganzheitlich: „Amerika“. Ich denke viel häufiger „Teile der USA“, „Phasen der USA“, und meine damit ein jeweils spezifisch anmutendes Amerika, das 9/11-Amerika, das Obama-Amerika, das Wirtschaftskrise-Amerika, das Trump-Amerika, das Bibel-Amerika, das Metropol-Amerika, das südliche…
Oder das Literarische-Folklore-Amerika.

Stichwort Bücher: Kennen Sie – entschuldigen Sie diese umständlichen Einschübe immer, aber kennen Sie das, wenn ein Buch Ihnen die Tür öffnet? Oft tun Bücher das ja nicht, so geht’s mir dabei jedenfalls, meist bleibt ein Buch ein nicht begehbarer Raum für mich, ich gucke von draußen zu, was darin passiert, welche Leute, Dinge, Stimmungen in dieser durchsichtigen, aber geschlossenen Kapsel einander umwirbeln, und ich denke mir meinen Teil dabei, so als Beobachterin. Ich trete nicht ein. Mit Malerei verhält es sich ähnlich: Da sind viele Bilder, die ich gerne betrachte, sehr viele, aber nur die wenigsten betrete ich.
Es ist mühsam zu erklären, was genau dieses Betreten meint. Am ehesten lässt es sich vielleicht so schildern: Aus einem Buch oder Bild heraus ruft es nach Ihnen, und Sie gehen dem ohne zu zögern nach, denn es ruft wie etwas Vertrautes, und überall darin empfinden Sie, dass sich Ihre seelischen Verhältnisse glatt einfügen in das, was Sie da betreten haben, Sie können sogar alles anfassen, alles riechen, und Sie staunen nicht einmal darüber, es ist wie selbstverständlich.
Interessant ist, wie vollkommen unabhängig vom jeweiligen Inhalt das geschieht: Ich war nie am Mississippi, erst recht nicht um 1840 herum, das macht gar nichts, Huckleberry Finn war der erste Romanmensch, die mich an der Hand packte und zu sich hin zog, durch eine plötzlich geöffnete Tür ins Andere hinein, ich meine, ich las nicht bloß von seiner Floßfahrt, sondern lag selbst tagelang da, auf dem rauen Holz, schwankend, haltlos, trotzdem selig.
Ich hatte nie solchen Zutritt zum TKKG-Internat, zu Hogwarts und Mittelerde, nicht zum Zauberberg, nicht zum Dublin von Leopold Bloom und Stephen Dedalus, nicht zu Ulrichs und Agathes Wohnung in Kakanien. Aber ich wohnte in Krabats Mühle, auf John Kaltenbrunners Farm, in Rock Oldekops Heimatort; ich saß in Murphys Schaukelstuhl und neben Ernst Schnabel im Flugzeug; Julio Cortázars Rayuela-Paris war mir echter als das echte Paris; nach jedem Betreten von Cormac McCarthys neo-alttestamentlicher Westernwelt war ich halb verdurstet; auch Herta Müllers Häuser, Wohnungen, Arbeitsräume im zutiefst lebensfeindlichen Ceaușescu-Rumänien, wo ich kaum Luft bekam, öffneten mir stets sämtliche Türen, warum auch immer.
Solche Türen bleiben indessen nicht zwingend geöffnet. Es gibt Bücher, die ich, weil ich sie betreten habe, fortan wie Talismane mit mir herumschleppe, auf ewig, die überstehen jeden Umzug, und doch schließt sich mitunter einmal einer ihrer Zugänge. Ehe man sich’s versieht, passt man plötzlich nicht mehr durch. Warum auch immer.

In meiner Schulbibliothek damals stand meterweise John Steinbeck auf Englisch herum, in Klassensatzstärke, was andeutete, dass man im LK wohl nicht um den herumkäme. Ich deckte mich achselzuckend damit ein, Of Mice and Men, East of Eden, Cannery Row, The Grapes of Wrath, Tortilla Flat, verlor allerdings in Rekordzeit den Spaß an der Sache.
Einzig Cannery Row verfing bei mir, dafür umso gründlicher.
Ein Millieu-Roman, angesiedelt irgendwann in den 1920ern, im prekären Hafenviertel von Monterey: Doc, der zupackende, hilfsbereite Schöngeist und ewige Junggeselle, führt ein meeresbiologisches Institut im Ein-Mann-Betrieb und wohnt praktischerweise auch gleich im Labor. Macks Clique von abgerissenen Tagelöhnern plant, als Dank für allerlei Hilfe finanzieller und medizinischer Art, für den ehrbaren Doc eine Überraschungsparty zu schmeißen – was leider bös aus dem Ruder läuft. Ein zweiter Anlauf soll Wiedergutmachung leisten. Die Damen aus Doras Bordell helfen mit; Lee Chongs Lebensmittelladen liefert Deko und Getränke. Alle leben sie als Nachbarn auf der Küstenstraße und gleichen sich in ihrer Armut, Zähigkeit, sozialen Randlage.
Es war natürlich seine Warmherzigkeit, damit hatte Steinbeck mich, und dafür liebe ich ihn noch, all seinen Figuren ließ er sie angedeihen und ich fühlte mich wohlig inbegriffen. Ich wohnte also in Monterey, direkt am Hafen, in der Straße der Ölsardinen (so der deutschsprachige Titel), in diesem vergangenen, nostalgischen Bilderbuch-Amerika, ich wohnte in Docs Haus-und-Labor und jobbte bei Bedarf in einer der vielen Fabriken für Fischkonserven. Es war wundervoll. Kalifornien! Der Pazifik! Dieses lockere, gleichzeitig hartgesottene Leben, ach!
Was ein Kitsch!
Heute komme ich nicht mehr in die Cannery Row hinein. Die Grobheit der Dialoge und der Zustände sorgt zwar dafür, dass der Roman nicht ins Rührselige kippt, aber mit meinem jetzigen Gemüt sehe ich die ganze Ansammlung nostalgischen Plunders, die Romantisierung von Armut, Prostitution, Kleinkriminalität, die Verniedlichung von Suff. Was man Steinbeck gar nicht zum Vorwurf machen kann – er hat’s ehrlich gut gemeint. Außerdem war eine große Portion romantische Menschenfreundlichkeit mit Sicherheit etwas, was die Welt im Veröffentlichungsjahr 1945 dringend brauchen konnte.
Ich miste derzeit wieder einmal Bücher aus, aber von der Cannery Row trennen würde ich mich nie. Latentes Heimweh nach meiner abstrakten WG mit Doc. Und immer noch finde ich darin ja Tröstliches, Schlaues, Hübsches:

Als Doc auf der Universität Chikago [so steht’s in meiner deutschen Ausgabe von 1953] studierte, hatte er eine unglückliche Liebe, war außerdem überarbeitet und begab sich daher mit Stock und Rucksack auf Wanderung, lief endlose Wege durch Kentucky, North Carolina, Georgia bis Florida, traf Farmer, Fischer, Gebirgler und Sumpfbewohner, kurz: Menschen aller Art, und alle fragten ihn, warum er so durch die Gegend renne. Als wahrheitsliebender Jüngling erklärte er, er sei nervös und wolle gern das Land sehen, das Gras, die Bäume und Vögel, den Duft der Erde atmen und sich an der Landschaft ergötzen. Da ärgerten sich alle, weil er die Wahrheit sprach. Die einen schimpften, andere tappten sich mit dem Finger vor die Stirn, wieder andere kniffen ein Auge zu, als durchschauten sie ihn. Er wurde für einen Schwindler gehalten. Besorgt um seine Töchter, Schweine oder Hühner, wies ihm so mancher die Tür und riet ihm, sich nie wieder blicken zu lassen. Darauf gab der junge Doc der Wahrheit den Laufpaß und erzählte jedermann, der es wissen wollte, es handle sich um eine Wette: um hundert Dollar! Das glaubten ihm alle, und er war überall, wohin er noch kam, beliebt. Man lud ihn zum Abendbrot und zum Übernachten ein, setzte ihm morgens ein gutes Frühstück vor, wünschte ihm glückliche Reise und fand, er sei ein Prachtmensch. Noch immer liebte er die Wahrheit, aber sie war, das wußte er jetzt, als Geliebte gefährlich.

Während Steinbecks Ton in Die Straße der Ölsardinen erfolgreich die Waage hält zwischen pastoral und salopp, tönen die Früchte des Zorns vollends biblisch, was mich im ersten Lese-Anlauf, zu Englisch-LK-Zeiten, vollends abgeschreckt hatte. Zuletzt hatte ich den 500-Seiter vor gut drei Jahren in die Hand genommen, in der Erwartung kalten Kaffees, wollte ihn eigentlich nur aussortieren und blieb dann doch dran hängen: Da stand, warum auch immer, die Tür offen.
Oklahoma, 1930er Jahre: Während Farmersfamilien ohnehin nur kümmerlich von ihren Erträgen leben können, verwandelt eine Umweltkrise die Großen Ebenen zur Dust Bowl, Trockenheit und Bodenerosion verursachen vernichtende Staubstürme. Zudem verschärft die Weltwirtschaftskrise die finanzielle Not der Landbevölkerung. Pachtverträge zu erfüllen gestaltet sich für viele unmöglich, es folgt eine Enteignungswelle. Die Existenznot treibt Menschen aus Oklahoma und den angrenzenden Staaten, die der Großen Dürre ausgeliefert sind, in Scharen gen Westen, auf der Suche nach Unterkunft und Arbeit. Unter ihnen die Familie Joad, einfachste Bauern, anständige Leute – dass Sohn Tom gerade im Gefängnis war, ist eher den allgemeinen Umständen geschuldet, sicher nicht seinem Charakter, nein, oder höchstens ein bisschen. Nun, der Familie bleibt nichts als eine Handvoll Habseligkeiten – und (natürlich, der amerikanische Mythos schlechthin) ein Auto. Auf dem Treck, dem Sonnenuntergang entgegen, begleitet Steinbeck sie Woche um Woche, Monat um Monat. Tatsächlich war Steinbeck mit ganz ähnlichen Familien wie den Joads unterwegs auf dem Migrantentreck quer durch die USA, ein guter Teil des Romans hat lupenreinen Reportage-Charakter. Überall schimpft man über die „Okies“, auf offener Straße sind sie ungehemmter Feindlichkeit ausgesetzt, sie beziehen Dresche, sie leiden Hunger, es folgen schlimmere Dresche, schlimmerer Hunger, zunehmende Verzweiflung, Kranke, Tote, leidende Kinder. Als die Joads den Weg in ein Auffanglager finden, wo es Sanitäreinrichtungen und eine Gemeinschaftsküche gibt, schimmert kurzzeitig Hoffnung auf; Tochter Rose, gerade schwanger, bekäme medizinische Unterstützung. Aber auch dort ist kein Bleiben. Ein quälendes Jammertal, wirklich, es verkrampft einem die Seele beim Lesen.
Warum mir das vorher nicht sonderlich zugänglich gewesen war, liegt vielleicht am ehesten darin begründet, dass es hier keine Zentralfigur gibt, die mich Teenagerin hätte Huckepack nehmen können, sondern es ist ein Kollektiv, das da im Mittelpunkt des Erzählens steht: The Grapes of Wrath ist im wahrsten Sinne ein Familienroman. Die Nöte einer Schwangeren, die stumme Angst einer Mutter usw., mit 17 konnte ich mich nicht hineinfinden in dieses Zeug. Heutzutage möchte ich jeden einzelnen Joad umarmen, manchmal auch schütteln, je nachdem – wie das nun eben so ist mit Familienangehörigen.
Noch wichtiger ist die unerschöpfliche Thematik.
Nachdem die zweite Hälfte des 20.Jahrhunderts im Westen die Überwindung jener Zustände versprach, die seine erste Hälfte bestimmt hatten, hätte man sich beinahe einreden können, die Great Depression sei bloß noch eine Schauergeschichte aus der Historie, nichts weiter. Aber spätestens, als im Zuge der Wirtschaftskrise seit 2007 Bilder von amerikanischen Familien durch die Nachrichten kreisten, die ihre Häuser verloren hatten und nun in ihren Autos wohnten, aßen, schliefen, die keine Kranken-versicherung besaßen, von Ort zu Ort tingelten, sich an jeden Strohhalm klammerten, wurde deutlich, wie abrupt Systeme kippen und Notlagen ausbrechen können, auch im Westen.
Diese Bilder hatte ich ständig vor Augen, als ich den Roman dann doch las, und noch wuchtiger schoben sich die Bilder von den Trecks syrischer Familien in den Blick, die ohne Habe, ohne Schutz, ohne Hilfe nach Westen unterwegs waren und sind, immer nach Westen. Die Auffanglager. Der schäbige Umgang mit diesen Menschen.
Als die Jugoslawien-Kriege begannen, war ich klein, aber ich erinnere mich, dass wir auf einen Schlag viele Kinder in unsere Schulklasse bekamen, die „von da“ gekommen waren, in ähnlichen Trecks – wie sind wir damals mit ihnen umgegangen?
Die Joads wollen nach Kalifornien, hoffen, Arbeit in den Obstplantagen zu finden, wo viele der Vertriebenen unter ausbeuterischen Bedingungen schuften, weil sie eben keine Wahl haben – in Spaniens Obst- und Gemüseindustrie arbeiten heute MigrantInnen, vorwiegend aus Afrika und auf der Suche nach Europa, unter vollkommen unwürdigen Bedingungen.
Sobald sich die „Okies“ organisieren, bessere Arbeits- und Unterkunftsbedingungen erstreiten wollen, kommen die Schlägertrupps, die Polizei, sofort geht es an die Ausrottung „kommunistischer Umtriebe“ – auch dieses Kommunismus-Geraune ist zurückgekehrt, wo unsere bestehenden Systeme doch vermehrt kritisch überdacht, an der Zukunft gemessen, gescholten werden, und Demagogen träumen längst wieder von Hexenjagden auf „die Roten“.
Die nicht vorhandenen Sozialsysteme, die Mechanismen des Wirtschaftssystems werden hier von Steinbeck klar als Ausdruck von Menschenverachtung benannt. Familie Joad schaut zu, wie in den kalifornischen Fruchtplantagen vor der Nase hungerkranker Menschen die Über-Ernte (tadelloses, gesundes Obst) vernichtet wird, um die Obstpreise stabil zu halten – Überproduktion, Verteilungsungerechtigkeit, auch das kennen wir.
Und in Zeiten der Klimakrise versteht man die geschilderten Dust-Bowl-Stürme, die Wüstenbildung infolge von Überbewirtschaftung plötzlich nicht mehr als einen Rückblick auf die primitiven Anfänge der Agrarindustrie, sondern als einen Ausblick auf unsere nahe Agrarzukunft.
Binnen der letzten zwei, drei Jahre jedenfalls hatte ich angesichts unterschiedlichster Nachrichtenlagen kein Buch so häufig im Sinn wie The Grapes of Wrath. Der biblische Ton, die Anklänge an die Große Dürre und den Exodus wirken nun, da die plastikbunten und bewusstlos-spaßigen Loveparade-Jahre lange hinter uns liegen und sich heute vieles um Bewusstwerdung dreht, nicht mehr so sehr aus der Zeit gefallen. Und die zentrale Diskussion von Nächstenliebe als Notwendigkeit des Menschlichen ist neuerlich drängend.
Mal sehen, was dieses Buch im Brexit-Europa, im Biden-Amerika und vielleicht ja einmal im Harris-Amerika so zu sagen haben wird.


>John Steinbeck, Die Straße der Ölsardinen (engl.: Cannery Row)
>John Steinbeck, Früchte des Zorns (engl: The Grapes of Wrath)


>Foto: Grebe

VERGANGENWELT > Reisen, gestern und vorgestern

Dieses Jahr (und wenn Beiträge hiermit beginnen, folgt zunächst einmal Ermüdendes, Sie kennen das, ich auch, es tut mir leid) wurde in der weitgefächerten Berichterstattung über allerlei Pandemie-Begleiterscheinungen eine Personengruppe freilich nicht übergangen: mitteleuropäische Menschen, die unter Reise-Entzug litten. Keine Billigflieger und All-Inclusive-Angebote mehr, keine Übersee- und Städte-Trips, kein – na, usw.
Wie vielstimmig man insbesondere zur Sommerzeit über gestrichene Reisen jammerte, war für mich nur einer von vielen Augenöffnern, die mir 2020 beschert hat. Welche Vehemenz, mitunter auch Arroganz da den Ton bestimmte – man konnte glatt glauben, ein Leben ohne ein bis drei Urlaubsreisen pro Jahr sei kein menschenwürdiges.
Ich wäre zuvor nicht darauf gekommen, in welchem Ausmaß es offenbar ganz normal ist, regelmäßige Urlaubsflüge, Hotelaufenthalte, Wellness- oder Shopping-Wochenenden, Erlebnisreisen, na, usw., zu unternehmen; d.h. ich wäre zuvor nicht darauf gekommen, wie primitiv mein eigenes Urlaubsverhalten wohl zu nennen ist. Wenn man in Jahren, wo es zeitlich und finanziell mal möglich ist, die Familie für ein paar schöne Tage ins Mittelgebirge oder an die Nordsee karrt, z.B. um sich von einer OP zu erholen – auf welcher Stufe steht so etwas eigentlich in der Hierarchie unser aller Urlaube?

Was heutzutage so alles Urlaub ist, war bis ins vergangene Jahrhundert hinein freilich undenkbar. Es gab die Sommerfrische der Adligen. Kuraufenthalte. Die charakterförderliche Grand Tour für junge Herren von Welt. Die gutbürgerliche Bildungsreise. Massentourismus war kein Begriff; was ehedem Massen von Menschen dazu brachte, die weite Welt zu sehen, waren eher der Beruf oder die Not: kaufmännische Unternehmungen, Seefahrt, Wanderarbeit, Heer, Marine, Auswanderung.
Die Demokratisierung des Erholungs- oder Erlebnis-Urlaubs ist ja gar nicht so alt – und doch lässt sich bereits sagen, dass dieses Modell nicht eben in Würde altert: Auf die mitunter überdüngten Blüten, die unser Urlaub-für-alle getrieben hat, schaut man zunehmend kritisch. Nicht nur, dass der Ausstoß unserer Reise-Vehikel die Erderwärmung kräftig mitbefeuert. Es ist auch nicht falsch, sich angesichts offenbarer Übersättigungseffekte so einige Gedanken zu machen: Haben viele Gastgeber-Orte, obgleich sie davon leben, die Touristenschwemme samt deren lokalen Nebenwirkungen auf Natur, Immobilienmarkt etc. inzwischen nicht satt? Und gewinnt man nicht auch häufig den Eindruck, die Urlaubsgäste selbst hätten ihre überlaufenen Ferienorte bzw. den Wettbewerb ums avantgardistischste Urlaubsziel abseits uncool-überlaufener Ferienorte inzwischen ebenso satt?

Aus lauter Herbst-und-Wintermüdigkeit habe ich mich zwischendurch auf einen Reisebericht gestürzt, der nach Nordafrika führt. Lesend reisen, das funktioniert ja nach wie vor. Auf dem Papier stehen einem die unzugänglichsten oder unerschwinglichsten Reiseziele offen, noch dazu vermag man sich nicht bloß räumlich, sondern auch zeitlich in beliebige Richtungen zu bewegen.
Ich, Buchtouristin, wollte Ferne – im Sinne von Süden, und im Sinne von Abstand. Mal an was anderes denken. „Der Charme von Marokko“ lautet der ortsverliebte Titel der Reise-Eindrücke (der Verlag Kupido wählte hierfür den etwas deutlicher literarisch angehauchten Ausdruck „Travelogue“) der 22jährigen Sofia Yablonska: Die alleinreisende Ukrainerin zog es 1929 ins französische Protektorat Marokko, um dort für längere Zeit zu bleiben, ausgerüstet mit eigener Kamera, Schreibzeug und haufenweise Lebenslust. Nachdem sie im Paris der 20er eine Weile lang als Model selbst vor Kameras gestanden hatte, startete sie von Marseille aus ihre Überfahrt nach Nordafrika und erreichte schließlich Marrakesch, wo sie besondere Erlebnisse in episodischen Schilderungen niederschrieb und Menschen und Alltagsszenen fotografierte.
Diesen Fotografien gönnt der Verlag viel Platz, und sie schmücken das Buch ungemein, während die Textblöcke mit ihren dezent verzierten Kapitelüberschriften und ornamental gemusterte Trennblätter das ihrige zur hübschen Gesamtgestaltung beitragen. Dabei erscheint mir die elegante Optik fast zu gezügelt, denn inhaltlich und sprachlich sucht Yablonska stets das Euphorische, Überbordende, Romantische. Nein, um Sachlichkeit geht’s hier wenig. Das macht gleichermaßen den Reiz wie den Mangel dieser Texte aus. Einerseits sprüht aus ihnen die ansteckende Lebendigkeit ihrer Verfasserin, andererseits gerät der Schauplatz, dieses vergangene Marokko, das mir durch manche der Fotos näher kommt, insgesamt zu einer eher ins Märchenhafte entrückten Kulisse, deren historische Verlässlichkeit auf mich unklar wirkt. Zum Reise-Auftakt, in Marseille, beschreibt Yablonska bettelnde Kinder, nörgelnde Touristen und das eigene Reisefieber. Mit der Überfahrt kommt noch größerer Überschwang. Streunergänge durch die Altstadt, Marktszenen, Feuerschlucker, Schlangenfresser. Ein Kaid (ein maghrebinischer Würdenträger) lädt Yablonska zu Gesprächen in sein Haus ein, wodurch sie Einblicke ins privatere lokale Alltagsleben gewinnt. Anders als ihre männlichen Zeitgenossen darf sie sogar einen Harem betreten, der abgeschotteten Gruppe von Ehefrauen einen Besuch abstatten, um ein wenig zu plaudern. Mit Auto und Fahrer unternimmt sie eine Spritztour über die Protektoraktsgrenzen hinaus, wo die Araber und Berber ihre Gebiete verteidigen und das Auto schon bald durch einen Kugelhagel rast.
Menschen, Tiere, Sensationen. Nun mag sachliche Reportage das erklärte Nicht-Ziel Yablonskas gewesen sein und Abenteuerlichkeit eben der Kern ihrer 22jährigen Sehnsucht, warum auch nicht?
Und sonst so? Yablonska kritisiert offen die Arroganz ihrer französischen Kontakte gegenüber den Einheimischen, und sie lästert ausgiebig über die Herden von westlichen Bildungstouristen – sich selbst erhebt sie allzu großzügig über dieses Niveau und erliegt unterdessen einer Versuchung, wie es seither unter Generationen von Individualreisenden nach ihr vorgekommen ist: Aus lauter Liebe verklärt sie, die Auswärtige, ihren Reise-Ort, stellt das Erleben übers Hinterfragen, schmiegt sich unkritisch ans Fremdland an und tanzt ihm dabei doch manchmal mit ihren westlichen Marotten auf der Nase herum, sodass sie, unbedacht, ungewollt, die eine oder andere Unruhe stiftet.
Gemessen an den Maßstäben ihrer Zeit ist Yablonskas Reise natürlich etwas besonderes und mithin als geschichtlicher Splitter interessant. Eine junge Frau, deren Aktivitäten meinen sämtlichen Urgroßmüttern unfassbar fremdartig erschienen wären: Sie schaut, fotografiert, genießt, staunt, sie lebt und schreibt in den Tag hinein – ein sehr freies Dasein.

Der Maghreb liegt für niemanden mehr in einer verzaubert-fremden Welt. Er liegt vor unserer Haustür.
Was ist heute noch fern und unbekannt?
Wussten Sie, dass es auf Antarktika ca. 160 touristische Anlegeplätze gibt, wo jährlich mehrere 10.000 BesucherInnen an Land gehen, um diese, nun ja, diese unberührte Eiswelt zu bestaunen?

In der ARD-Mediathek bin ich letztens über eine Doku über Astronauten gestolpert, die an den Apollo-Missionen beteiligt gewesen sind. Zwölf Amerikaner haben im Rahmen dieser Missionen den Mond betreten. Den Mond. Wie war das dort, am fernsten Ort? Jenseits der Welt? Wie könnte das je einer beschreiben, und wie könnte das je einer verstehen?
Auf die eine oder andere Art hat sich jeder der Mondreisenden einen Bruch an dieser Erfahrung gehoben. An der Wucht ihrer Intensität. An dem Kraftaufwand, eine solche Grenzerfahrung verarbeiten und danach bitteschön in ein recht gewöhnliches Privatleben zurückfinden zu müssen. In den Folgejahren bekam der eine seinen Alkoholismus nicht in den Griff, der andere klammerte sich an die Bibel, dieser wurde zum Aliengläubigen, und jener malte mit manischer Energie nur noch Mondbilder, unzählige Mondbilder.

Ferne war immer ein dehnbarer Begriff – in der Moderne ist er ein schrumpfbarer geworden. In der Nach-Moderne gibt es bereits Weltraum-Touristen, irgendwann wird es touristische Anlegeplätze für Mondreisen geben, klar, aber könnten das je solche Mondreisen sein, wie Apollo-11 sie erlebte?


>Sofia Yablonska, Der Charme von Marokko (Kupido)
Mit herzlichem Dank an den Verlag für das Leseexemplar, um das ich gebeten hatte!

WILDHEIT > Jana Volkmann, Auwald

Routine lauert im Leben überall: eingespielter Arbeitsalltag, etablierte Beziehung, feste Einkaufsadressen und Spazierwege. Auch in Judiths Leben haben sich allmählich die Strukturen verfestigt: Die Möbeltischlerin lebt mit Freundin Lin in angenehmer Lage in Wien, sie fühlt sich wohl mit ihrem Handwerk, ihrem Chef, ihrer Werkstatt, und sie bewegt sich auf gewohnten Wegen durch die Stadt. Das klingt, wenn Sie mich fragen, alles ganz gesund.
Und wenn Sie Judith fragen?
Die Antwort ist tänzelnd. Hier und da drücken sich Zufriedenheit, Gelassenheit aus. Im Hintergrund aber wispert die Leere. Judith ist eine, die sich damit arrangiert hat, sich immer ein bisschen fehl am Platz zu fühlen, eine, die immer eher passiv durchs Leben schlurft. Keine Leidensfigur, da ist nicht genügend negative Energie. Aber auch nicht genügend positive, dass Judith mal als mutige Umgestalterin aktiv würde – kleinkrämerische Ausgestalterin, das ist eher ihre Kragenweite. Bei der Arbeit ist sie die Fachfrau für filigrane Detailarbeiten. Akribie ist ihr Lieblingswort.
Dementsprechend wird ihr vom Chef ein eher spezieller Kundenauftrag zugewiesen, eine Frickelarbeit: die Restaurierung eines Puppenhauses.

An einem gewöhnlichen Puppenhaus hätte Judith nie Gefallen gefunden, dieses hier zog sie dagegen sofort in seinen Bann. Ein kleines, leeres Universum, in dem sie sich zuhause fühlte, ohne Teil von ihm zu sein.

Es handelt sich dabei um das Modell eines Hauses, worin die Arbeitszimmer berühmter SchriftstellerInnen untergebracht sind. Judiths Aufgabe lautet, sowohl den Kasten im Ganzen als auch das kleinteilige Inventar, die Schreibtische, Telefontischchen, Sessel, Stühle, Regale von Susan Sontag, Adolfo Bioy Casares, Ingeborg Bachmann und vielen anderen, wieder in Schuss zu bringen. Macht sie auch, penibel, mit Herzblut. Wie besessen.

 […] sie blieb noch länger als sonst in der Werkstatt, sparte sich die Mittagspause und hing daheim ihren Gedanken an die kleinen Möbelstücke nach. […]  Jeden Winkel des Hauses nahm sie unter die Lupe, ölte, schliff und leimte, schnitzte und sägte und fluchte und freute sich. Die Arbeit schien kein Ende zu nehmen, immer fielen ihr neue Details auf, derer sie sich annehmen konnte. Dass die Wählscheibentelefone keine Kabel hatten, konnte sie nicht auf sich beruhen lassen. Und wo ein Kabel war, musste auch eine Steckdose sein.

Selig verschwindet Judith im Mini-Kosmos – bis ihr Chef sie abrupt an den Ohren herauszerrt: Nein, Nacht- und Wochenendarbeit dulde er nicht, und ihre Überstunden müsse sie gefälligst abbummeln, ab sofort.
Konfrontiert mit drohender mehrtägiger Langeweile, entscheidet Judith, einem Zufall folgend, mal einen Ausflug nach Bratislava zu unternehmen. Warum auch nicht? Sie kauft eine Fahrkahrte für ein Donauschiff und vertraut sich dem Fluss (des Lebens, versteht sich) an. Ihr puppenhaushaft starres Leben mit Lin, ihr puppenhaushaft ausstaffiertes Wien, ihr Puppenhaus in der Werkstatt lässt sie hinter sich – für die Dauer eines Kurztrips, glaubt sie.
Doch Judith hat dem Zufall die Tür geöffnet. Und nun macht er sich breit, erweist sich als ziemlich herrisch und wirft am Ende glatt seine Gastgeberin aus ihrem so akribisch durchstrukturierten Häuschen. Es geht was schief in Bratislava. Und es passiert etwas Unerklärliches mit dem Donauschiff, das Judith nach Wien hätte zurückbringen sollen. Und überhaupt ist nach nur einem, eigentlich gewöhnlichen Vormittag plötzlich nichts mehr wie zuvor.
Judith findet sich im Auwald wieder, im wilden, naturbelassenen Grün entlang der Donau, inmitten von Gesträuch, auf sumpfigem, halbfestem Boden. Die Ordnung der Dinge setzt aus.
Sogar der Roman bricht an dieser Stelle entzwei: Volkmann, die in der ersten Hälfte in der Vergangenheitsform über sie, Judith, schreibt, lässt diese in der zweiten Hälfte aus der Ich-Perspektive weitererzählen, im Präsens. Da hat eine Figur ihr Puppenhaus verlassen, will nicht mehr Objekt sein, beginnt eigenständig zu existieren, indem sie aus ihrem geordneten Mief heraustritt, sich den frischen und furchtbaren Wind der Katastrophe um die Ohren wehen lässt.
Sinnbild dieser Metamorphose ist eine Art Tunnel im Donau-Ufer, vielleicht ein trockengefallener Düker oder eine Hochwasserdrainage, was auch immer; hier erlangt dieses Tunnelrohr jedenfalls die Funktion eines, sozusagen, Wiedergeburtskanals.

Sie hörte es tropfen und trappeln, als wäre der Tunnel selbst zum Leben erwacht. Die eine Hand tastete sich am moosigen Boden entlang, die andere streckte Judith in mutiger Zuversicht immer wieder voraus und unterdrückte den Impuls, etwas in die Leere zu rufen, ihren Namen oder einfach irgendetwas, um ihr Echo zu hören oder ein paar Tiere aufzuschrecken, die hier unten schon auf sie warteten.  […]  Sie kroch und kroch. 

Bis zu einem Sperrgitter:

„Erle, Eibe, Douglastanne“, beschwor sie das Gitter. Das Echo ihrer Stimme trollte sich in die Höhle zurück. Mit einem fügsamen Knirschen ließ das Gitter sich öffnen und gewährte ihr den Weg nach draußen. Erstaunlich, wie schnell manche Gefängnisse einen gehen lassen. Sie kroch noch ein paar Meter, ehe ihr einfiel, dass sie sich jetzt wieder in die Länge strecken konnte. Sie lief in die offene Wiese hinein, dann ließ sie sich sinken, wärmte sich den Rücken am Boden und das Gesicht in der Sonne.

Wozu dieses Simsala-Baum, diese Zauberformel? Sind wir im Märchen gelandet? Oder ist es womöglich ganz normal, dass einem ein bisschen schamanisch zu Mute wird, sobald man der Zivilisation gründlich den Rücken gekehrt hat, so wie Judith?

Ich habe meinen Namen in eine feuchte Ritze geschoben, im Vorübergehen, und dort bleibt er nun. Ich würde ihn nicht einmal wiederfinden, wenn ich ihn suchen würde.

Die Möbeltischlerin, die abgelagertes Holz in allen Varianten bearbeitet, bekommt es jetzt mit Holz in wachsender, blühender, gedeihender Form zu tun. Dieses Holz gehorcht ihr nicht. Während sie sich durchs wilde Dickicht bis nach Hause, nach Wien durchschlagen will, erweist sich die Natur nicht als ihre Verbündete. Sie ist unbequem, die Natur.

Das Gras streift mir um die Knöchel. Ich gehe auf Samt.  […]  So lebt es sich halbwegs angenehm, denke ich noch, als ich auf einen dornigen Ast trete, der mir ein Loch in die weiche Haut zwischen dem kleinsten und dem zweitkleinsten Zeh reißt. Danke, Wald, danke, Natur. Ich ziehe meine Schuhe an und blute ein wenig auf die Innensohle.

Aus einem magischen Eingehen in die Wildnis, einer Abkehr vom Menschlichen wird für die Abenteurerin-aus-Zufall also eher nichts. Auch nach Tagen nicht. Oder sind es Wochen? Hunger und Durst machen Judith ständig zu schaffen; genauso das Gefühl, in diesem Umfeld eben doch ein Fremdkörper zu bleiben.
Und ich, die ich mitlese, fühle mich ebenso fremd in dieser Geschichte. Ich stolpere so durchs Erzählte, stupse den einen oder anderen Gedanken an wie einen Pilz, unsicher, ob der nun genießbar ist oder nicht, vertraue dem unterspülten Boden nicht so recht, frage mich, wo’s lang geht.
Am Ende bin ich unentschlossen, ob die Rätselhaftigkeit der weiteren Geschehnisse Programm ist und ich darin den Wegfall von Arbeit und Struktur, den Rückfall in sperrige Wildheit gespiegelt sehen möchte – oder ob diese Rätselhaftigkeit eher dem Umstand geschuldet ist, dass hier wieder einmal eine Idee, die prima Substanz für eine mittellange Erzählung hergegeben hätte, mit Ach und Krach auf rund 180 Seiten ausgedehnt wurde, um Roman draufschreiben zu können. Geschmackssache, vielleicht.


>Jana Volkmann, Auwald (Verbrecher Verlag)


Foto: Grebe, 2020

WILDHEIT > „Pisse und Verderbnis!“

Die Unschuldigen von Michael Crummey ist nicht unbedingt was für Leute, denen Schilderungen von allerlei Körperlichkeiten und allerlei Tiertod auf den Magen schlagen. Eher ein Roman für Leute, die Trost in der Schroffheit finden können.
Neufundlands Küste vor rund 200 Jahren, eine abgelegene Bucht, ein Fischer, seine Frau, die Kinder – daraus hätte man einen hübsch-naturkitschigen Roman machen können, aber der Autor hatte andere Pläne. Es ist kein Spoiler, wenn ich vorwegnehme, dass Vater, Mutter und das jüngste Schwesterchen kläglich sterben, denn das tun sie direkt auf der ersten und zweiten Seite; von hier an bestreiten der elfjährige Evered und seine jüngere Schwester Ada dieses Leben, diesen Roman im Alleingang. Schon den Eltern fiel es schwer, die Familie durchzubringen, und umso unmöglicher erscheint es da, dass die Waisenkinder, einsam wie Adam und Eva, sich gegen Hunger, Kälte, Krankheiten behaupten könnten. Die beiden wissen nichts von irgendwelchen Anverwandten oder Paten, sie lebten mit den Eltern stets auf isoliertem Posten, die nächste Küstenstadt liegt eine Tagesreise entfernt und ist ihnen nur vom Hörensagen bekannt. Sie wissen nicht, was Lesen ist; sie mutmaßen, es sei etwas, womit manche Menschen geboren werden und manche nicht. Das ideelle Erbe der Eltern beläuft sich auf einen bezeichnenden Ausruf der Mutter, den Ada für sich übernimmt: „Pisse und Verderbnis!“ Das übrige Erbe besteht aus der Fischerhütte, dem Hausacker, Vaters Fischerboot und einem Stück vom Meer. Indem die Familie verschwindet, verkleinert sich Adas und Evereds Welt zunächst drastisch, wird in der Folge jedoch größer, mit jedem Schritt, den die Geschwister aus Hunger oder Neugier ins bislang Unbekannte hinausgehen. Sie begegnen der Besatzung eines Handelsschiffs, einem Schreiber und Priester, toten Ureinwohnern, Tieren, sonderbaren Phänomenen, einem Lebemann und Abenteurer, einer gutherzigen Frau, einem kaputten Schiff und seiner wilden Mannschaft, einem toten Schiff.
Die Natur ist dabei ein humorloser Gastgeber. Und Ada und Evered sind keine idealisierten Naturkinder. Die zähen Survivalkids mögen Robben, weil man sie essen kann, interessieren sich für Pflanzen, wenn man sie essen kann, und sie schauen bloß aufs Meer hinaus, um abzuschätzen, wann endlich der Fisch kommt, den es zu fangen gilt – oder das Schiff mit dem bezeichnenden Namen Hope, denn es bringt Vorräte. Der Glanz des Wintereises schmerzt in den Augen, Stürme und Kälte sind lebensgefährlich. Das Jagen ist eine manchmal grausame Sache. Die Schönheit der Wildnis spendet an keiner Stelle Kraft oder innere Ruhe, das ist eher die Aufgabe von Alkohol. Jedenfalls: Jeder lauernden Verklärung des rustikalen, eremitischen Lebens inmitten unberührter Natur geht der Autor entschieden aus dem Wege. Crummey, selbst Neufundländer, romantisiert hier gar nichts, nicht die malerische Küstenlandschaft, nicht die majestätischen Wälder, er liefert keine schwärmerischen Naturschilderungen, würdigt die Natur keines Detailblicks und zeichnet nirgends Bilder eines innigen Einklangs zwischen Mensch und Natur.
Genauso wie der umliegenden Natur stehen die heranwachsenden Kinder auch ihrer inneren Natur, ihren Stimmungen, Gefühlen, Trieben, gegenüber: autodidaktisch und allzu oft am Rande der Überforderung. Den Roman-Titel (im englischsprachigen Original The Innocents) hat Crummey in vorauseilender Verteidigung seiner Hauptfiguren schlau gewählt, auf dass Sie, werte Leserschaft, diese Kinder (bzw. den Autor höchstselbst) bitte nicht vorschnell in die Hölle wünschen mögen. Bedenken Sie: Was darf ein Mensch, wenn da kein anderer Mensch ist, der ihm erklärt, was man nicht darf? Crummey macht kein voyeuristisches Spektakel daraus, wenn die Waisenkinder, bald im Teenageralter, bald als junge Erwachsene, sich körperlich ausagieren. Eine nüchterne, aber keinesfalls grobe Sachlichkeit bestimmt durchgehend den Erzählton und nivelliert alle Geschehnisse. Urteile werden nicht gefällt – die Moral wird, tja, ganz Ihnen überlassen, liebe Lesende.
Und es gibt so einige Moralfragen, die sich stellen. Das Verhältnis zwischen den Geschwistern – kippt das in den Missbrauch? Oder nicht? Die Hope macht jeden Herbst an der Waisenbucht Halt, weil der Vater alljährlich seinen getrockneten Fisch an Bord brachte, als Bezahlung für Vorräte und notwendige Gerätschaften; der Bordschreiber erklärt das dem frisch verwaisten Evered bei seinem ersten Besuch auf dem Schiff, er erklärt ihm auch, dass die Schulden seines Vaters für größere Vorräte auf ihn und Ada übergegangen seien, und er lässt sich von Evered überzeugen, dass die Kinder von jetzt an, wie zuvor die Eltern, das Vertragsverhältnis weiterführen und alljährlich ihren Trockenfisch abliefern wollen. Darf der Beamte das – die Kinder einfach sich selbst überlassen, nach dem Verlust ihrer Eltern, in diesem lebensfeindlichen Nirgendwo? Und sogar Schulden von ihnen einfordern? Wohlgemerkt, um 1800 herum galt ein Elfjähriger durchaus als erwerbsfähig. Dürfen die Seeleute dem Jungen ihren Alkohol andrehen? Der galt schlechterdings ja nicht als Suchtmittel, sondern Lebensmittel und Medizin, nicht wahr? Eines Tages erspähen die Geschwister in Küstennähe ein im Packeis havariertes Schiff, begeben sich auf Schatzjagd und finden an Bord wertvolle Kleidung – aber auch die Belege für einen furchtbaren Überlebenskampf. Was darf der Mensch in höchster Not? Ada und Evered leisten die schwere Versorgungsarbeit, um überleben zu können, Hand in Hand, und sie erbringen diese Leistung zu gleichen Teilen. Weswegen steht es nur Evered zu, über ihre gemeinsame Zukunft zu entscheiden, und Ada nicht? Für alle Frauen, die im Roman Erwähnung finden – allesamt Exemplare von zäher Natur, aber ungewissem Seelenfrieden -, gilt der Imperativ der Versorgung. Was heißt das für die Moral? „Pisse und Verderbnis!“ – warum wohl ist dieser Fluch hier das Erbe der Mütter an ihre Töchter? Wo liegen die Unterschiede, wo die Deckungsgleichheiten zwischen Christentum und Moral? Besitzt der Mensch eine Art Ur-Moral, gewissermaßen naturgegeben? Auch das Durchphilosophieren solcher Fragen überlässt der Autor Ihnen allein.
Erzählt ist das Ganze recht konventionell, und gäbe es da nicht diese mitunter etwas haarigen Moralfragen, sähe man beim Lesen schon direkt eine Netflix-Verfilmung vor sich. Ein Schmöker – der aber seine Dornen hat. Von der archaischen Härte eines, sagen wir, Cormac McCarthy ist Michael Crummey unterdessen ein ziemliches Stück entfernt: Vielerorts, wo die Geschichte leicht ins Bitterschwarze kippen könnte, rettet Crummey seine Kinder dann doch lieber in ein etwas glimpflicheres Schicksal hinüber. Mit Beschönigung hat das weniger zu tun, vielmehr ließe sich schlecht 350 Seiten lang über das Leben zweier Waisenkinder in der kanadischen Wildnis schreiben, wenn die nicht wenigstens ab und an auch mal Glück hätten.
Was genau „Glück haben“ bedeuten soll, das gehört übrigens auch zu diesem Katalog von Fragen, mit denen man hier kinderseelenallein bleibt.


>Michael Crummey, Die Unschuldigen (Eichborn)
Ich bedanke mich herzlich beim Verlag für das Leseexemplar, um das ich gebeten hatte.


Foto: Grebe, 2019

LEBEN AM FLUSS > Roland Schimmelpfennig, Die Sprache des Regens

„Petja hatte sich den Fluss hinuntertreiben lassen, allein, in der Dunkelheit. […] Er war ans Ufer geschwommen, unten bei der Mündung des Flusses. Diese Stelle nannte man den Blinden Mund. Es war eine warme Nacht. Petja kletterte hinaus ans Ufer und verschwand im Dickicht.“
Es gehört sich so in dieser kargen, deprimierenden Anderswelt, die Schimmelpfennig da entworfen hat, dass Jugendliche am Vorabend ihres 15. Geburtstages von der großen Eisenbrücke hinab in den Fluss springen. Ein bisschen so, als tauften sie sich selbst. Nach ihrem Sprung ins kalte Wasser, schwimmen sie, nun als Erwachsene, an Land zurück, um zu feiern. Auf Petja allerdings warten die Freunde nach dem Sprung vergebens.
„Sie hatten in die Tiefe gesehen, über Stunden, sie hatten nach ihm gerufen, aber er war nicht zurückgekommen.“
Ich verstehe das gut, Petja.
Die Gegend-am-Fluss ist eine abseitige, beschädigte, feindselige Lebenswelt. Law und Order liegen in den Händen einer Polizeieinheit, die zu Recht gefürchtet wird. Offenbar herrscht strenge Gesinnungspolitik. Die genaueren Umstände belässt Schimmelpfennig jedoch im Dunkeln, im Abstrakten, und so müssen, na, dürfen Sie sich Ihre eigene Deutung der Dinge zusammenstricken: Ist das hier eine Dystopie, eine Geschichte à la „Was wäre, wenn der Zweite Weltkrieg (…)“, eine Parallelwelt usw.? Auch die Figuren wollen es Ihnen nicht zu einfach machen und halten mit ihren Identitäten hinterm Berge. Obwohl immerhin ihr Bindungsgeflecht nach und nach klar wird, bleiben sie für sich genommen doch Gestalten, denen man nie so recht unter die Haut schauen kann, Spielfiguren, Symbolträger, Märchenmenschen. Jedenfalls: Sie befinden sich hier an einem Ort, wo Sie, da wette ich drauf, in irgendeinem Traum schon einmal gewesen sind.
„Die Stadt auf dem Meer war schwarz und turmhoch, ein Gebilde aus Eisen und Stahl, aus Schrauben und aus Nieten, ein Berg aus Rohren, Gängen und Treppen, und die Stadt hinterließ, nachdem sie an ihnen vorbeigezogen war, auf dem Wasser einen Film aus Öl. Die junge Frau und der Mann saßen auf den Felsen am Meer, nicht weit von der Flussmündung, und sahen der Stadt nach, bis sie in der Ferne verschwunden war. Hinter den beiden Gestrüpp, Grün, eine leichte Anhöhe und dann zugewachsenes, kaum zu durchdringendes, flaches Land. Dazwischen ein paar kleine Brachen. Die Hitze. Eine Straße. Der Fluss. Weit entfernt: einzelne Häuser, Wohnblöcke und dahinter die Felder, die Fabriken, die Raffinerie und das Stahlwerk in der Ebene.“
Adam und Eva sind es nicht, die da sitzen, sondern Isabel und ihr Freund Philipp. Sie sind auf dem langen Weg in Isabels Heimatstadt, zwecks Familienbesuch. Nicht, dass sie uns dabei an die Hand nehmen und in der Stadt-am-Fluss herumführen würden, aber sie bringen uns hin, setzen uns dort ab, und ab hier bewegen sich die städtischen Schauplätze und unterschiedlichen Zeitebenen munter hin und her. Toni, wie er eine Leiter baut, eine lange Leiter, eine sehr, sehr lange Leiter, nur wozu? Philipp, wie er sich in den Wohntürmen einer Hochhaussiedlung verirrt, einem senkrecht stehenden Labyrinth, auf der Suche nach einem bestimmten Zimmer. Julia, die Kanarienvögel hütet und außerdem eine Schildkröte, einen Schlittenhund und einen zugeflogenen Pelikan. Die Straßenschlacht nach der Schließung des Kinos. Die Vertriebene in ihrer Hütte am Fluss.
Fragen Sie nicht – projizieren Sie frei drauflos, das braucht dieser Roman. Der will Ihnen nichts Staatstragendes vermitteln, sondern ein bisschen herumtricksen in Ihrem Kopf, Sie ins Träumen versetzen; er produziert die nötigen Bilder, und die müssen Sie nur noch auf die Beine stellen und zum Laufen bringen. Oder zum Schwimmen. Eintauchen, treiben lassen, mehr müssen Sie gar nicht machen. Wissen Sie, Sie sind hier am Fluss.


>Roland Schimmelpfennig, Die Sprache des Regens (S.Fischer)


Foto: Grebe, 2020

PUBERTÄT REVISITED > Mittelmaß, Riesenspaß

Flattery

Nicole Flattery, Show Them a Good Time. Acht Stories zwischen Job, Partnerschaft, Kindheit, Einsamkeit, Erwachsenwerden und Dating, zwischen flapsig und schmerzlich, zwischen sprühender Vitalität und Depression. Ich lese das jetzt zum zweiten Mal und stelle mir allerhand Fragen. Auch: Warum gab es dieses Buch 1997 noch nicht? Das ist eine ungültige Frage – Nicole Flattery ist Jahrgang 1990. Aber das macht es ja nicht weniger bitter!
Ich hätte diesen Tonfall gebraucht, so mit 15. Ich hätte mich schlagartig ermutigt gefühlt. Ehe jetzt Missverständnisse auftreten: Show Them a Good Time ist keine Erbauungsliteratur. Und es fällt auch ganz und gar nicht unter Coming of Age; in dieser Kurzgeschichtensammlung trifft man auf Mädchen und Frauen unterschiedlicher Altersgruppen, die sich ihrerseits nicht sonderlich mit Altersfragen beschäftigen. Nebenbei bemerkt fand ich es, als ich 15 war, unfassbar langweilig, Coming of Age zu lesen, ausgenommen den Fänger im Roggen, klar. Was ich mit 15 an diesem Buch hätte gebrauchen können, das ist sein unbedingter Mut, das banale, alltägliche Unbehagen zu erforschen. Den hatte ich nicht. Den hätte ich nötig gehabt.
Losgelöst von ihren vollkommen verschiedenen Settings und Figuren, befassen sich die Stories im Kern allesamt mit Misstönen, die unseren Alltag zieren wie Wespen den Apfelkuchen. Dabei halten sich die Stories nicht mit Gejammer auf – nirgendwo Genöle oder Befindlichkeitsduselei. Es sind Alltagsgeschichten, mal aus dem Alltag glanzloser Gestalten, mal aus dem Alltag etablierter Erfolgsfrauen (und in Anklängen möglicherweise Flatterys Biographie entlehnt: Die gebürtige Irin hat Film und Theater studiert, wie auch Natasha in Abortion, A Love Story, hat selbst Erfahrung im prekären Jobben, wie viele der Protagonistinnen, hatte mal als Assistentin einer Top-Literaturagentur in New York den großen Senkrechtstart vor Augen, nur um sich nach ein paar Monaten, senkrecht gefeuert und restlos pleite, zurück in die Heimat zu verkrümeln, was sie vielleicht mit dem geschundenen New Yorker Bürofräulein in Track oder dem Ex-Showbiz-Girl in Show Them a Good Time verbindet). Und gleichzeitig sind es Traumgeschichten, denn diese Alltage sind stets durchzogen von einer Spur Irrealität.
Die Titel- und Eröffnungsgeschichte, Show Them a Good Time, konfrontiert Sie direkt mit dieser speziellen Art der Realität, die bei Flattery herrscht, und wenn Sie sich in dieser merkwürdigen Garage, dem Schauplatz der Geschichte, nicht zuhause fühlen können, brauchen Sie das Buch eigentlich auch gar nicht weiterzulesen. Diese Garage ist so etwas wie ein Tankstellenshop oder Minisupermarkt, ein kläglicher Raum jedenfalls, wo zwei Menschen im Rahmen eines diffus bleibenden Projekts arbeiten, das an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen erinnert – eine gescheiterte Schauspielerin, die hier als Ich-Erzählerin auftritt, und ein 19jähriger ohne Potenzial. Mag sein, dass das mit der Schauspielerei eine reichlich geschönte Geschichte ist, aber egal, die Erzählerin hat jedenfalls eine wilde Zeit in der großen Stadt hinter sich gebracht und ist, nachdem irgendwann die Träume und das Geld versiegt waren, zurückgekommen in die Heimat, in die Kleinstadt, zu den Eltern.
‚My parents had a fierce bond I admired. They had refined the habits of the long-married – saying nothing an then saying everything twice. […] There was a strange, daily pattern: amble down the street; go to the supermarket; wave at a slight acquaintance; glance at the same patch of sky; come back home. They had seen boredom, stared it straight down, and survived.‘
In den Regalen der Garage befindet sich nichts als drei Dosen ungewissen Inhalts und eine Zimmerpflanze.
‚ „Stop cuddling the plant,“ Kevin often suggested. „I’m just holding it,“ I lied.‘
Ein arbeitsloser Kühlschrank summt vor sich hin, die seltenen Kunden, die etwas kaufen möchten, werden freundlich begrüßt, nur um dann entschuldigend weggeschickt zu werden. Reine Kulisse. Die gewünschte soziale und berufliche Eingliederung: reines Theaterspiel. Die Erzählerin, schauspiel- und enttäuschungserfahren, durchschaut das natürlich instinktiv. Kollege Kevin dagegen legt sich leidenschaftlich für Kundenzufriedenheit und Umsatzsteigerung ins Zeug, aus echter Überzeugung. Privat widmet sich Kevin übrigens mit demselben Furor dem Fernsehen, den Filmen, Soaps, Sitcoms… Naive Jugend. Während das ominöse Job-Projekt ohne Aussicht auf gutes Ende vor sich hin läuft, plaudert die Erzählerin über ihr Leben in der Großstadt als Freundin eines mittelmäßigen Regisseurs, was sich bedenklich nach einem Leben als wandelnde Anzieh- und Gummipuppe anhört. Oder über die Projektmanagerin, sozusagen die Chefin der Garage, eine Figur irgendwo zwischen Personalwesen und Inquisition, wie sich bereits im Bewerbungsgespräch fürs Garagenprojekt zeigt:
‚Management interviewed me – bizarre questions through an inch of plexiglass: How long, in hours, have you been unemployed? Did you misspend your youth throwing stones at passing cars? […] The interview was an all-nighter, designed to break my spirit and ensure I pledged organisation and responsibility for the rest of my days.‘
Oder über ihre alten Freundinnen in der Kleinstadt:
‚My friends, what remained of them, were sweet girls – transparent, tame – but likeable. I assembled us together in a bar for one sorry night. Since we grew up with mothers who sat, dour, over their annual wine, we all drank like our fathers. It was our great generational decision.‘
Alles in dieser Story scheint banal, alles an dieser Story scheint vorhersehbar. Nichts da. Ich verbringe sehr viel mehr Zeit damit, mir den Kopf darüber zu zerbrechen als erwartet. Ich plumpse in Abgründe – fast unbemerkt, weil sie mit so unterhaltsamer Zuckerwatte gepolstert sind. Es geht um dumme Sehnsüchte, die nichtsdestotrotz herzzerfressend in uns kochen. Um den seelisch schmerzhaften Abgleich der Realität mit Idealbildern. Um körperlich schmerzhafte Langeweile. Den unbeholfenen Umgang mit Enttäuschungen. Um Figuren, die ihre Scham – so ein generalisiertes Schamgefühl, das emotionale Hintergrundsummen der Ewig-Mittelmäßigen – mit mir teilen.
Flatterys übrigen Figuren ergeht es anders, aber nicht rosiger. So bemüht sich etwa die tapfer lächelnde Hauptfigur in Parrot – frisch verheiratet, gut situiert, gerade auf Auslandsjahr in Paris – um ein harmonisches Auskommen mit dem Kind ihres Mannes aus erster Ehe und kriegt es doch nicht zustande. Genauso schief und kläglich verbiegt sich die Erzählerin in Hump. Ausgehend von der Beerdigung ihres Vaters, breitet sie das schmale Panorama ihres Alltags aus – Büro, Restaurant, Zuhause, Büro, Restaurant, Büro, Zuhause, Zuhause, Büro.
‚My career had taken a sinister turn and I had started to keep an eye out, like you do for a new lover, for other things I could try. There weren’t many. All jobs seemed to contain one small thing I just could not do. It was maddening.‘ (Dieses hirnzerfressende Auf-der-Stelle-rudern, oh, ich kenne das.)
Beziehungen oder Liebschaften bringen auch kein Licht ins Dunkel, nein. In dieser wie in allen übrigen Geschichten sparken die männlichen Figuren leider nie wirklichen Joy:
‚He looked like a small town I might live in and die.‘
Eine Beerdigung markiert einen Abschied, oft auch Abschied von einem vertrauten Gefüge, einer gewohnten Ordnung. Was sich im Leben der Erzählerin nun verändert, ist erst einmal sie selbst: Sie verformt sich, verkrümmt sich; ihr wächst unerklärlicherweise ein Buckel, was aber niemand zu registrieren scheint. (Dieses Gefühl von Deformation im Stillen, in Umbruchsphasen, die keinen im Umfeld interessieren oder beeindrucken, oh, ich kenne das.)
Alle acht Stories funktionieren auf dieselbe Art: Sie drücken zielsicher auf Schmerzpunkte und sind zugleich ungemein witzig. Rohes Fleisch, paniert mit Humor.
Anders als es mir die 90er, die Blüte des Ironie-Zeitalters, von Jugend an eingetrichtert hatten, ist der staubtrockene Witz hier nicht dazu da, um Emotionen zu entwerten, einfach jegliche Gefühlsregungen bloßzustellen und sich arschcool von ihnen zu distanzieren – sondern, im Gegenteil, um jede Gefühlsregung bloßzulegen, auf dass ihr Wert nicht länger unter den Ironie-Teppich gekehrt werde.
Witz kann dabei helfen, wichtige Dinge auszusprechen, die ansonsten im Halse steckenbleiben würden. Den Witz hingegen zu nutzen, um die Dinge lächerlich zu machen, pauschal und unterschiedslos, und sich somit ihre Wichtigkeit vom Hals zu halten, war und ist ein typischer Reflex meiner Loveparade-Generation. Wenn ich alles gleichermaßen auslachen kann, dann besitzt nichts mehr Bedeutung, und wenn es keinerlei Bedeutung mehr gibt, kann ich endlich ungestört das einzige pflegen, was überhaupt noch existiert: meinen Spaß. Meine Unterhaltungselektronik, meine Turnschuhe, Beauty und Wellness, Essen und Trinken, Stars und Sternchen, mein Haus, mein Auto, meine Frau; Sie wissen schon. Nach den 68ern, den Hippies, Theoretikern und Ideologen, dem Deutschen Herbst, der Neuen Subjektivität, den friedens- und umweltbewegten 80ern und schließlich dem Umbruch der allgemeinen Weltordnung war der spaßige Nihilismus der 90er wohl ganz einfach die logische Gegenbewegung. Ein großes Ausatmen nach so viel Kampf und Krampf. Ein Rückfall in infantilen Hedonismus nach so viel Selbstermächtigung, Mündigwerdung, politischer und gesellschaftlicher Teilhabe. Sisyphos, der den Stein einfach kullern lässt – keinen Bock mehr.
Ironischerweise war Spaß während meiner Gymnasialzeit, in der sich vordergründig alles ständig ums Spaßhaben drehte, echte Mangelware. Unter uns SchülerInnen herrschte ein trockener, ironischer bis sarkastischer Ton, der alles planierte, was echt an uns war. Lachen war verpönt, aber auslachen ging immer. Mitunter frage ich mich, ob ich den 90ern da eventuell unrecht tue: So lieblos, gehässig, gekünstelt kommt mir das rückblickend vielleicht vor, aber sicher gehe ich da bloß einer Art umgekehrter Nostalgie auf den Leim, anstatt zu einer positiven Verklärung der Vergangenheit neige ich einfach zu einer negativen, nicht wahr? Generell sind Jugendliche untereinander ja nicht unbedingt gnädig, egal in welchem Jahrzehnt, und auch mein Zuhause, das Hannoveraner Umland, war halt nie berühmt als Hort von Frohsinn und Herzlichkeit. Doch ab und an stolpere ich über, sagen wir, eine alte Folge TV-Total oder Filme wie Pulp Fiction, Mission Impossible 1 oder Matrix, über Zeitdokumente also, und ich empfinde jedes Mal, während ich mir das so anschaue, diese zwanghafte, manierierte Coolness, diese Steifheit, Plastikhaftigkeit, Schablonenhaftigkeit, Oberflächlichkeit, Überreiztheit, Pseudolustigkeit tatsächlich als Kerneigenschaften der 90er.
Entsprechend verkniffen gestaltete sich der allgemeine Habitus meiner Jahrgangsstufe, der Dress-Code wurde penibel kuratiert, Worte landeten grundsätzlich auf der Goldwaage, Empathie war was für Muttis, alles, was irgendwie lebendig war, war automatisch albern, lächerlich, peinlich. Moral: Steh lässig rum, Mädchen, zeige niemandem, was du gern hast oder fürchtest, spuck auf die Uncoolen, sei selbst keine von den Uncoolen, sei smart und schön, sei um jeden Preis unter den Smarten und Schönen, sie spucken sonst auf dich.
Wenn es für smart und schön aber nicht reichte, war ja immerhin noch intellektuell eine halbwegs rettende Option. Für diejenigen, die damals wie ich nachts MTV schauten: Ich war Daria Morgendorffer. Und Jane Lane. Ich malte, ich zeichnete, ich las, ich notierte, ich weltschmerzte mich durchs Gymnasium. Ich pilgerte in Kunstmuseen, ich las mich systematisch durch die Literaturnobelpreisliste, konnte aus der Orestie zitieren, schrieb meine Englisch-Facharbeit über Ulysses, und ich dachte, ich täte diesen ganzen Quatsch, weil es mir Spaß machte. Natürlich tat ich das, weil es mir eben lag und damit einen praktikablen Weg darstellte, um nicht blöd auszusehen, bloß nicht der Bauerntrampel zu sein, mich bloß auf einer Höhe halten zu können, von wo aus es sich gut auf Blödere spucken ließe. Und schließlich war es eine bildungsbürgerlich anerkannte, eine schulischerseits sogar begrüßte Realitätsflucht – ab in den Elfenbeinturm!
Ich hatte damit meine Rolle an der Schule gefunden und war in dieser Rolle ziemlich unangreifbar. Ich machte mich prima als klugscheißendes Unikum, das den Deutsch-LK im Alleingang gestaltete UND alle Jungs unter den Tisch trank. Zu Hause, in meinem Kämmerlein, schrieb ich Texte, die im Ton mal Hermann Hesse, mal Quentin Tarantino nachahmten.
Was ich eigentlich hätte schreiben müssen, das wären Texte über meine Mutter gewesen, Texte über das schale Gefühl, wenn man Menschen anlog, die man liebte, Texte über die Scham, wenn man wieder einmal Spucke abgekriegt hatte (wörtlich gemeint), Texte über die seltsame Angst, dass irgendwie gar nichts wirklich zählte, und über den Schock, wenn es dann wirklich einmal um etwas ging, was zählte, Texte über Kittelschürzen und Kaninchenbraten, über ABBA und Queen, über Katheter und Dekubitus, Texte über Freunde, die nichts taugten, und über die Erkenntnis, selber auch nicht besser zu sein, Texte über UNS und MICH.
Rainer Dorner, Dozent an meiner Berufsschule, sagte über die formal strengen und inhaltlich irgendwie toten, diese sterilen Gedichte Stefan Georges immer sehr schön: „Gefrorene Scheiße stinkt nicht.“ Wenn ich später in eine hübsch-ästhetische, hochtrabende Doku über Hermann Hesse oder in einen Tarantino-Film hinein zappte, oder wenn ich DJ Bobo im Radio mal wieder „There Is a Party“ singen hörte, oder wenn ich Party-Fotos aus meiner Oberstufenzeit in die Finger bekam, oder wenn ich schon wieder einen Stapel Christian Kracht für den nächsten Deutsch-LK ans Lager bestellte, dachte ich mir öfters: „Gefrorene Scheiße stinkt nicht.“ Meine 90er, diese zügellosen Spaß-Jahre, das waren für mich die gefrorenen Jahre (Sie dürfen bitte Kafkas Axt an dieser Stelle einmal im Schrank lassen).
Zeig ihnen, wie man Spaß hat lautet der deutschsprachige Titel von Flatterys Erzählband. Ein Imperativ, der wie die Faust aufs Auge auf meine Schulzeit in der Epoche von Marusha, Scooter und den Spice Girls passen würde. Ach, die Girlies und Boygroups, die Models und Formel-1-Fahrer! Die Fertiggerichte voller Lebensmittelfarbe, das ewige Dosen-Gelächter in den ewigen Sitcoms, die neonfarbenen Markenklamotten! Fernseh-Talk und Mini Playback Show! Was waren das bloß für Good Times! Hilfe!
Wozu Flatterys Texte eigentlich ermutigen, ist freilich das Gegenteil: Zeig ihnen, wo’s weh tut! Kafka in Ehren – aber ich hätte mit 15 eine Menge darum gegeben, so ein Buch wie das hier in die Finger zu kriegen. Von einer Autorin, die haarsträubend klug UND witzig ist. Stories aus einem weiblichen Kosmos, besiedelt von Mädchen, Frauen, besetzt von Mädchenthemen, Frauenthemen, erzählt aus Mädchen-, Frauenperspektive. Geschichten über das Nicht-gut-genug-sein, die Orientierungslosigkeit, das So-tun-als-ob, das Schlappmachen, übers Sich-ausnutzen-lassen, Sich-blöd-anstellen, Sich-unwohl-fühlen.
Der Humor und die surreale Ebene helfen der Autorin indessen aus einer Klemme, in der man unweigerlich landet, sobald man vorhat, dieses Unspektakuläre zu erzählen: Das seichte, aber zähe Alltagsunglück ist ja nicht wegzudenken aus der durchschnittlichen Lebensrealität – darüber aber realitätsgetreu zu schreiben, OHNE die Leserschaft dabei ins Koma zu langweilen (und wahrscheinlich auch sich selbst, als AutorIn), ist ein eigentlich hoffnungsloses Unterfangen.
Erst durch die humorige und surreale Überzeichnung wird das Unbehagliche, bedrückend Oberflächliche, bedrängend Langweilige erzählbar. Was David Foster Wallace mit Unendlicher Spaß und Der Bleiche König vorgemacht hat – Flattery holt es aus dem Literatur-Schaukasten heraus und wendet es auf das peinlich Private an.
In Sweet Talk schildert eine irische Farmerstochter das Jahr, in dem sie 14 wird. Unter den Farmhelfern dieser Saison ist ein eigentlich nicht besonders interessanter Australier, dem sie ein bisschen auf die Pelle rückt, die Zeitungen berichten von spurlos verschwundenen Mädchen, die Nonnen in der Provinzschule bemängeln nachlassende Leistungen, der Exorzist und Freddy Krueger spuken durchs nächtliche Fernsehprogramm. Himmel und Hölle, Realität und Fernsehen, brave Kindheit und Sexualität, Langeweile und Horror – Flattery verschränkt auf wenigen Seiten einen ganzen Haufen Gegenpole ineinander, und was dabei herauskommt, ist so eine Brühe, zugleich kalt und zu heiß, lasch und zu scharf, intensiv und ungenießbar, also genauso wie 14 sein.
Hätte ich das als Achtklässlerin gelesen, hätte ich mich kaputtgeschämt und kaputtgelacht. Und ich hätte von da an genauso schreiben wollen. Vielleicht hätte mir das geholfen.
Ganz sicher hätte es, verdammt.
Sehr mitgenommen hätte – und hat – mich auch Abortion, A Love Story, wo die engstirnige, passiv veranlagte College-Studentin Natasha auf ihre Spiegelfigur trifft, die abenteuerliche Lucy. Natasha packt das College nicht, fühlt sich fehl am Platz, zieht das aussichtslose Ding aber stur durch. Gerade hat sie eine erste vergurkte Beziehung hinter sich:
‚When Natasha first entered college, at eighteen, a boy called Patrick, stick-thin, raised Catholic, had attached himself to her. He was her first boyfriend. They were a good pairing because she was a strange person pretending to be a normal person, and he was a normal, well-raised person desperately pretending to be strange.‘
Danach schlittert sie in eine Verlegenheits-Liaison mit einem ihrer Professoren – auch nicht besser. Unterdessen erhält sie geradezu gespenstische Mails von jemandem, der sie offenbar kennt, gut kennt, dabei gibt es wirklich niemanden, der das täte, weder an der Uni noch sonstwo. Und dann tritt Lucy auf. Die hat gespenstisch viel mit Natasha gemeinsam und ist doch eine völlig andere Figur, eine, die bei Natasha im ersten Moment entschiedene Ablehnung hervorruft. Die Ablehnung entpuppt sich als Neid, der Neid outet sich als Bewunderung.
In den meisten ähnlichen Geschichten entwickelt sich das ganze dann wie folgt: Das wilde Mädchen nimmt die gehemmte Loserin an der Hand, verhilft ihr zu Abenteuern und lässt sie aufblühen, doch in einem Moment, wo es drauf ankommt, kehrt die Wilde sich achselzuckend ab und überlässt die Loserin ihrem Schicksal, wodurch diese sich erst ihrer eigenen, echten Werte bewusst wird. Moral: Erliege nie den falschen Verführungen eines allzu unabhängigen, selbstbestimmten Lebensstils, Mädchen!
Hier aber verlaufen die Dinge anders: Natasha und Lucy sind schon bald eng verschwistert, wie eine Einheit, die lange zerrissen war und nun endlich wieder zusammengefügt worden ist (Sie ahnen sicher, was hier gespielt wird). Als Duo überarbeiten und inszenieren sie schließlich ein Theaterstück von Natasha, das an Aussagewut wahrscheinlich alles in den Schatten stellt, was das verbiederte College je erlebt hat.
‚ „Lucy,“ Natasha said, holding up a page covered in red marks, „let’s make this a comedy.“ „Abortion, A Love Story?“ Natasha nodded. „But it’s about these two girls, sisters in misery.“ „I know.“ „They don’t have anything.“ „Of course.“ „It’s a bad time.“ „It’s a woeful time.“ „And it gets worse.“ […] Lucy took a sip of her drink. „Who could find all that funny?“ „Not me.“ „And the pain and suffering of the women,“ Lucy said, shaking her head. „The violence of what they have endured. That’s what the audience will want.“ „Yeah,“ Natasha said, „and let’s not give it to them.“ Lucy was silent. „Comedy is tragedy sped up.“ Lucy tapped two fingers on her can. „That’s Ionesco.“ „I thought it was my dad,“ Natasha said. „You know we’re risking our reputations.“ „We don’t have reputations to risk.“ ‚
Daria und Jane waren witzig, zeitgeistig – Natasha und Lucy aber machen Ernst: Friss Zuckerwatte, Publikum! Ein ernsthafter, abgründiger Spaß. Abortion, A Love Story ist die umfangreichste Geschichte in diesem Band, und es ist die einzige, in der sich eine Figur ein Stück weit aus ihrem kläglichen, unbehaglichen Alltag lösen kann. Moral: Suche Freundschaft, Mädchen, sogar mit dir selbst, VOR ALLEM mit dir selbst – und dann ran an die quälenden Dinge!


Foto: Grebe


>Nicole Flattery, Show Them a Good Time (Bloomsbury Circus)

SONDERZUSTÄNDE > „Niemand lebt gern in Angst“

„Die alten Leute und die Kinder haben den letzten Monat fast ausschließlich in Kellern zugebracht, entweder in den kleinen Kellern ihrer eigenen kaputten Häuser oder in den Gemeinschaftskellern unter den Krankenhäusern oder dem Rathaus. Niemand lebt gern in Angst,“

schrieb Martha Gellhorn 1944 in einer Reportage mit der Überschrift „Eine kleine Stadt in Holland“. Gemeint war das kriegszerstörte Nimwegen. Gültig sein dürfte das zugleich für alle Städte, alle „alten Leute und die Kinder“ in Kriegs- und Krisengebieten – damals, heute, immer.
In rund 50 Jahren als Kriegsreporterin hat Martha Gellhorn viele davon gesehen, unzählige Menschen getroffen, Soldaten und Generäle, einfache Zivilisten und Staatschefs.
Fakten zu vermitteln war das eine, das andere, dem Krieg ein Gesicht zu geben. Bei aller Professionalität fand emotionale Anteilnahme stets Platz in ihren Reportagen, war entscheidend für ihr Schreiben, ihr Markenzeichen. Sie brach die großen politischen und militärischen Entwicklungen herunter auf deren konkrete Auswirkungen auf Menschenleben. Dabei bediente sie sich keines Leidens-Voyeurismus, sie machte aus menschlichen Dramen keine schnellen, billigen Sensationen.
Ihr Detailblick zielte darauf ab, eine gewisse Erfahrbarkeit zu schaffen. Was andernorts als sachliche Meldung in etwa klingen würde wie „Achte Armee rückt an die Adriaküste vor“, wurde bei Gellhorn erfahrungsnah, plastisch geschildert.

Drei Tage und drei Nächte lang waren die verschlungenen Nebenstraßen über die Apenninen und die großen Schnellstraßen, die von Florenz aus nach Süden und wieder hinauf nach Ancona ein tiefes V bilden, derart von Verkehr überflutet, wie ihn die meisten von uns noch nie gesehen haben. Lastwagen und Panzerwagen, Panzer, Waffentransporter und Geschütze, Jeeps, Motorräder und Krankenwagen verstopften die Straßen, und es war durchaus nicht ungewöhnlich, für dreißig Kilometer vier Stunden zu brauchen. Die Straßen wurden von diesem Verkehr zu Pulver zermahlen, der Staub lag in knietiefen Wehen, und wenn man einmal ein bißchen beschleunigen konnte, wallte er wie Wasser unter den Rädern. [Aus: Die Gotenlinie. September 1944]

Zwar sparte sie Grausamkeiten, wie sie notwendigerweise jedes Kriegsgeschehen beschreiben, nie aus, doch besaß sie zugleich das Vermögen, das Wesen von Gewalt und Zerstörung indirekt zu beleuchten. So besuchte sie etwa eine versteckte Munitionsfabrik in Barcelona und schrieb über die Frauen in der Produktion:

Am entgegengesetzten Ende des Raums saßen Frauen an Nähmaschinen […]. Sie hatten Stoffe für Sommerkleider, einen wunderschönen rosa Leinenstoff, einen hübschen grauweiß gestreiften, der schicke Hemden abgegeben hätte, eine dicke weiße Seide für Brautkleider. Sie nähten kleine und größere Säckchen, wie für Duftkissen. Ein Mädchen machte die Runde, sammelte sie ein und trug sie nach vorn, wo sie mit dem wie Ziermünzen aussehenden Sprengstoff gefüllt wurden. Dann ließ man je eines der kleinen Säckchen in einen Granatenboden fallen. [Aus: Der Dritte Winter. November 1938]

1908 wurde Martha Gellhorn, Tochter der Frauenrechtlerin Edna Fischel Gellhorn, in St. Louis geboren. Mit Anfang 20 schmiss sie ihr Studium, landete in Paris und verfasste erste journalistische Arbeiten, schrieb anschließend ihre erste große Reportage, daheim in den USA, wo sie gemeinsam mit Dorothea Lange, Ikone der Dokumentarfotografie, die einschneidenden sozialen Umbrüche für weite Teile der amerikanischen Landbevölkerung infolge der Weltwirtschaftskrise aufzeigte. Für das Wochenmagazin Collier’s berichtete sie aus dem Spanischen Bürgerkrieg, da war Gellhorn noch keine 30, und profilierte sich damit als Kriegsberichterstatterin. Fortan schrieb sie aus aller Welt über bewaffnete Konflikte, deren Inhalte und Fortgänge, vielmehr jedoch über deren Beteiligte und Opfer. Gellhorn schrieb und lebte wie eine Getriebene, berichtete von Schlachtfeldern und eingekesselten Städten, von der deutschen Besetzung Tschechiens, vom finnisch-sowjetischen Winterkrieg, aus einem italienischen Heim für Kriegswaisen, aus dem befreiten Dachau, erlebte den D-Day auf einem Lazarettschiff, traf Chiang Kai-shek im chinesischen Bürgerkrieg und Sukarno im Krieg um Java, war zwischenzeitlich einmal verheiratet mit Ernest Hemingway, vorübergehend einmal mit einem Redakteur der Times und war langjährig eine enge Freundin Robert Capas, begleitete den traumatischen Vietnamkrieg, den geopolitisch bedeutsamen Sechstagekrieg im Nahen Osten, den brutalen Bürgerkrieg in El Salvador. Ein Angebot, als Reporterin über die Jugoslawienkriege zu schreiben, lehnte die bereits über 80jährige dann doch ab, aus Altersgründen. 1998 starb Gellhorn in London, fast 90jährig – weil sie es so entschieden hatte.
Für gewöhnlich stelle ich AutorInnen nicht allzu ausführlich vor, wissen Sie, aber wenn das kein Jahrhundertleben ist, weiß ich’s auch nicht.
Im Bewusstein ihres Gewichts erlaubte sich Gellhorn in ihren Reportagen auch deutliche, politische Urteile.

Sukarno war immer genau das, was er schon am Anfang gewesen war, ein gewiefter Demagoge, ein Opportunist, nur ein kleiner Diktator mehr. Die US-Obrigkeit wird niemals müde, diesen Typ Politiker zu unterstützen.
[Aus: Der Krieg auf Java]

Neutralität schien für Gellhorn insbesondere angesichts humanitärer Krisen nicht immer eine gebotene journalistische Pflicht, sondern mitunter eher eine Sache für Feiglinge zu sein. Beispielsweise zürnte sie, in einer Art Epilog auf ihre Vietnam-Berichterstattung:

Macht verdirbt, eine alte Binsenweisheit, aber warum macht sie die Mächtigen auch so dumm? Ihre Machtpläne zerrinnen mit der Zeit zu nichts, auf grausame Kosten anderer; dann stecken die Mächtigen ihre dummen wichtigen Köpfe zusammen und hecken die nächsten ähnlich gearteten Pläne aus. Ein Saigoner Arzt, ein armer Mann im Dienst der Armen, verstand mehr von der wirklichen Welt als die Machthaber im Weißen Haus. „Die Menschen sind überall gleich. Sie wissen, was Gerechtigkeit ist und was Ungerechtigkeit.“ Vergessen wir es nicht. [Aus: Letzte Worte über Vietnam. 1987]

Es ist schier unglaublich viel Material, viel Zeit, viel Erleben, was Gellhorn in ihrem Schreiben komprimierte. Zuviel, um das einfach nebenher zu verschlingen, an so ein paar Frühlingstagen im Garten oder auf der Couch. Genug, um es immer wieder, dann und wann, aufzuschlagen und allerlei menschliche Fragen und Wertvorstellungen daran zu prüfen.


> Martha Gellhorn, Das Gesicht des Krieges (Dörlemann)


Im Verlag Dörlemann liegen große Teile von Martha Gellhorns Kriegs- und Reisereportagen vor, auch private Briefwechsel und ihre Novellen, die sich eher dem Zwischenmenschlichen widmen.

SONDERZUSTÄNDE > Mit sich selbst allein

Aus den Sterntagebüchern des Weltraumfahrers Ijon Tichy:

Als ich am Montag, dem zweiten April, in der Nähe der Betelgeuze vorüberflog, durchschlug ein Meteor, kaum größer als eine Bohne, die Panzerung und zertrümmerte den Hubregulator und einen Teil der Steuerung, wodurch die Rakete ihre Manövrierfähigkeit einbüßte. Ich zog den Raumanzug an, stieg auf die Oberfläche der Rakete und versuchte, die Vorrichtung zu reparieren, aber ich erkannte bald, daß ich die Hilfe eines zweiten Menschen benötigte, um die Reservesteuerung festzuschrauben.

Was ungünstig ist, denn Tichy ist Alleinreisender. Schon lange. Was also tun? Erst einmal drüber schlafen.

Mitten in der Nacht hatte ich das Gefühl, daß mich jemand an den Schultern rüttelte. Ich schlug die Augen auf und erblickte einen über das Bett gebeugten Menschen, dessen Gesicht mir seltsam bekannt vorkam, ohne daß ich hätte sagen können, wer das war. „Steh auf“, sagte er, „und nimm die Schlüssel, wir gehen nach oben und drehen die Steuerschrauben fest.“ „Erstens kennen Sie mich nicht gut genug, um mich zu duzen, und zweitens weiß ich genau, daß es sie nicht gibt. Ich bin allein in der Rakete, und das schon das zweite Jahr, denn ich fliege von der Erde zum Sternbild des Kalbes. Somit sind Sie nur eine Traumvision.“

Das leuchtet ein. Bloß löst diese Feststellung freilich nicht Tichys Problem, und so muss er sich ernsthaft überlegen, wo sich Hilfe finden ließe.

Aber die Gegend war eine komplette Sternwüste, die wegen ihrer Gefährlichkeit von von allen Raumschiffen gemieden wurde, weil sich dort die geheimnisvollen Gravitationsstrudel befinden – hundertsiebenundvierzig an der Zahl -, deren Existenz durch sechs astrophysikalische Theorien erklärt wird, und von jeder anders. Der Kosmonautenkalender warnte vor ihnen wegen der unberechenbaren Folgen der relativistischen Effekte.

Was das bedeuten könnte, dämmert Tichy, als er sich am nächsten Abend nach harter Arbeit im ächzenden Motorenraum erschöpft ins Bett fallen lassen möchte, es aber von jemand anderem besetzt findet.

Ich begriff sofort, daß ich das war, und zwar vom Vortag, genauer: aus der Nacht zum Montag. Ohne mir über den philosophischen Aspekt dieser recht eigenartigen Erscheinung besondere Gedanken zu machen, begann ich sogleich, den Schlafenden an der Schulter zu zerren und zu rufen, er möge rasch aufstehen; ich wußte nämlich nicht, wie lange seine montägliche Existenz in meiner dienstäglichen fortdauern würde, weshalb es angezeigt war, möglichst schnell und gemeinsam die Steuerung auszubessern. Der Schlafende jedoch machte nur ein Auge auf und sagte, daß er nicht wünsche, von mir geduzt zu werden, dann meinte er, ich sei nur ein Traumgespinst.

Hier beginnt erst der Flug durchs tückische, sturmtosende Strudelfeld, in einer Maschine, die steuerlos den Gewalten ausgesetzt ist. Wie lange die Trudelei anhalten wird, lässt sich nicht abschätzen, und wie der alte Kasten am Laufen gehalten werden kann angesichts der außerordentlichen Belastung, die auf unbestimmte Zeit auf die Systeme einwirken wird, auch nicht. Der allein reisende Kosmonaut macht sich auf einiges gefasst, selbst seine eigene Verdopplung bringt ihn nicht recht aus der Ruhe – aber auch das war ja erst der Anfang.

Das Bad war verschlossen. Man hörte darin Laute, als ob jemand gurgelte. „Wer ist dort?“, rief ich überrascht. „Ich“, rief eine Stimme aus dem Inneren. „Was denn nun wieder für ein Ich?“ „Ijon Tichy.“ „Von welchem Tag?“ „Vom Freitag. Was willst du?“

Im Verlauf der nächsten Tage oder Wochen – ach, das mit den Zeitspannen wird schnell unübersichtlich – lernt Ijon Tichy sich selbst einmal von allen Seiten kennen: Laufend kommen neue Tichys dazu, stiften Chaos oder versuchen sich nützlich zu machen, erweisen sich je nach Lage als gute Kameraden, Sturköpfe, Nörgler oder kleine Helden, und die Rückkopplungen ihrer Interaktionen verschachteln sich immer heilloser. So gerät die Siebente Reise des Ijon Tichy zu einem der kompliziertesten Abenteuer, von denen seine Sterntagebücher ausführlich berichten, und nie fügte sich gerade diese Episode so gut in meine Stimmungslage wie aktuell.


>Stanisław Lem, Sterntagebücher (Suhrkamp)


Die polnische Originalausgabe der Sterntagebücher mit Ijon Tichys gesammelten Reiseberichten erschien 1971. Ich habe dieses Buch immer wieder und in unzähligen Ausgaben in der Hand gehabt, habe es ausgeliehen, selbst gekauft, verliehen, verleihverloren, an andere verkauft, wieder gekauft, und es bis heute nicht einmal am Stück gelesen. Muss man auch gar nicht. Bei Bedarf schlägt man es auf und liest z.B. von flottierendem Weltraummüll, der sich, von Strömungen zusammengetrieben, zu breiten Teppichen verdichtet (erinnert Sie das an etwas?), nach und nach eine Art Schwarmintelligenz entwickelt und bald seine Verursacher heimsucht. Oder von interstellaren Religionsstiftern. Oder Killerkartoffeln. Oder, oder, oder.

FORMWANDLUNGEN > Georg Klein, Miakro

Isolation, Büroflucht, Versorgungsängste. Wo bin ich hier?
Fragen Sie sich das nicht auch manchmal?
Wo bin ich – herrje, kann man das denn immer so sicher wissen? Ein leises Misstrauen gegenüber der eigenen Realitätssicherheit zählt ja nicht erst seit Matrix fest zum mentalen Register. Und erst recht im pandemieverwandelten Alltag. Ein Fremdeln schiebt sich vor die gewohnte Wahrnehmung der Dinge, die vertrautesten Orte wirken seltsam fremd, die vertrautesten Menschen verhalten sich seltsam befremdlich, die vertrautesten Tätigkeiten erscheinen befremdlich seltsam.
Sollte Ihnen das alles fremd sein, kann ich Sie nur beglückwünschen. Sie sind ein weltsicherer Mensch.
Die übrigen erkennen derlei Empfindungen vielleicht wieder, vielleicht sogar sehr gut, wenn sie Miakro in die Finger kriegen.
Wo sind wir hier? In einer äußerst verseltsamten Welt. Büroleiter Nettler wird des Nachts von einem sachten „Binnenwind“ geweckt, und mit ihm blinzeln wir in sein irgendwie spießiges, irgendwie bizarres Biotop hinein:

Nettler richtete sich auf. Seine Linke stach durch die weichen Stränge seines Schlafnetzes, die Rechte stemmte sich an die hornig festen Deckenrippen. Er fühlte sich mehr als bloß wach. 

Das „Mittlere Büro“ – da sind wir. Nettler und seine Mannen hausen hier wie die Mönche, verrichten ihren Dienst nach Leitlinien, die – ach, das erschließt sich nicht so genau. Jenseits der käsigen Bürowände beginnt die „wilde Welt“, über die wenig gesichertes Wissen verfügbar ist, denn sie verweigert sich einer Fixierung, sie ist ein Terrain, das organisch anmutenden Entwicklungen unterliegt, und ihre Flure, Schächte und Höhlungen verändern sich fortwährend. Nettler, der rotschopfige Blenker, der „schöne Schiller“, der starke Axler und Guler, der Dienstälteste, stehen täglich an ihren Arbeitstischen, die genauer gesagt Schautische sind. Das Glas, aus dem sie bestehen, ist allerdings keine klare Sache; es ist eine halbfeste, sich dem jeweiligen Mitarbeiter entgegenformende, nicht immer so recht durchschaubare Angelegenheit. Es gilt, aus dem schlierigen, zwiebelschichtigen Bilderstrom, der sich im „weichen Glas“ zeigt, einzelne Sichtschichten zu identifizieren und daraus Informationen zu filtern, die versorgungsrelevant sind. Sobald im „Bildstrom“ Hinweise darauf erkannt wurden, was für Gegenstände und Nährmittel sich in Kürze materialisieren werden und wo sich ein entsprechender „Materialschacht“ öffnen wird, ziehen die Männer los, um gewissermaßen zu ernten. Auf jenen Expeditionen begegnet man gelegentlich Volk aus der „wilden Welt“, soll heißen: Frauen. Besonders ihre graugelockte Wortführerin hat es in sich. Mitunter verlaufen die Märsche gefährlich, und es gibt sogar einen Vermissten zu beklagen: Der „kleine Wehler“ wurde von einer sich schließenden „Auswandung“ auf Nimmerwiedersehen verschlungen. Holen sich die Wände etwa zurück, was sie geben? Nach Zufallsprinzip spenden sie alles mögliche von Essbarem über Bekleidung bis hin zu Werkzeug und anderen Utensilien, doch weisen jene Dinge zunehmend Deformationen auf. Wandelt sich die isolierte Welt schneller, wird sie womöglich instabil? Die Qualität der „ausgewandeten“ Güter jedenfalls wird schlechter, und auch die Menge geht deutlich zurück.

Nettler hielt sich den Teller mit dem hellgrauen, sichtbar feinfaserigen Klumpen erst einmal unter die Nase, um vorsichtig daran zu schnuppern. Schiller hatte fünf kleine Süßkartoffeln rundum an den Tellerrand gelegt. Größere Exemplare seien heute nicht mehr ausgewandet. Die bescheidenen Kartöffelchen müsse man zudem mit einer gewissen Vorsicht genießen, denn inzwischen enthielten fast alle einen kleinen, steinharten Kern. Nettler bemerkte, dass der Teller nicht mehr korrekt kreisrund war und die Stärke des Blechrands zwischen messerschneidedünn und fast kleinfingerdick schwankte. 

So strampeln sich Nettler und seine Männer Tag für Tag ab, bis – ja, bis das Glas vollkommen überraschend einen Hinweis auf den verschwunden Wehler gibt. Man macht sich auf, man verlässt das Büro auf unbestimmte Zeit, jetzt gilt es, den schmerzlich vermissten kleinen Wehler zu retten!
Unterdessen bewegt sich auf einer anderen Ebene eine Graugelockte, die in ihrer Funktion als Fachleutnant eine militärische Sondierungsmission leitet. Ihre Mannschaft besteht aus den Herrschaften Blank, Guhl, Achsmann, Schill, Nettmann und Weller. Ziel ihrer Mission: Ein unheimlicher, potentiell gefährlicher Riesenorganismus.
Spiegeln sich hier eine Mikro- und eine Makro-Welt? Macht die Zeit hier eine Schleife? Wo bin ich hier – in Miakro wird diese Frage nicht aufgelöst, auf Erklärungen wartet man vergebens, aber nicht umsonst. Diese verseltsamte Welt ist zugleich eine selbsterklärende, alles wirkt verfremdet und doch in sich schlüssig und vertraut. So wie man es aus halbwachen Träumen kennt, kurz bevor der Wecker endgültig klingelt.


> Georg Klein, Miakro (Rowohlt)