KÖTER > Dog Content

Wes Anderson beschäftigt mich seit Jahren, da ich einfach nicht durchschaut kriege, was mir an seinen Filmen immer wieder so seltsam gegen den Strich geht. Mit der Zeit hat sich in mir die Theorie verfestigt, dieses Unbehagen beruhe darauf, dass ich Andersons jeweilige Filmwelten einfach lieben müsste, da sie immer irgendeinen nostalgischen Kindheits- und Jugendnerv bei mir zum Klingen bringen (besonders die Cousteau-eske Welt der Tiefseetaucher hat es mir angetan – wie oft hatte ich früher vorm Fernseher die Expeditionsfahrten der Calypso verfolgt, und wie sehr hatte mir dieses Farbspektrum gefallen, vom Korallenriff-Bonbonbunt bis hin zum leuchtenden Wollmützen-Rot), während jedoch ein irgendwie versnobtes Flair, das den Filmen innewohnt, jedem bei mir aufkommenden Gefühl von Vertraulichkeit und Heimeligkeit direkt den Stecker zieht.

Diesmal aber bin ich nicht so sicher, ob es nicht womöglich doch einmal zündet. Das liegt gar nicht primär an der Story – in naher Zukunft werden nach dem Ausbruch einer furchtbaren Hunde-Grippe alle Hunde aus einer japanischen Mega-Stadt auf eine vorgelagerte Müll-Insel verfrachtet, wo sich ein Trupp aus fünf befreundeten Hunden gemeinsam durchschlägt und später einen Jungen begleitet, der sich auf die Insel geschlichen hat, um seinen geliebten Hund Spot aus der Verbannung zu retten. Schließlich leben Andersons Filme nie primär von irgendeiner Story, sondern natürlich von ihrer überintensiven Optik. Und genau die erwischt mich hier: Das farbliche Schema lautet diesmal offenbar Mattweiß-Rostrot-Rußschwarz, dazu kommt dieser ganze dystopische Pseudo-Japan-Schnickschnack, wunderbar.
Und auch die Filmmusik: tiefe Bläser, Flöten, Trommeln und Gedengel – passend ergänzt durch ein bisschen historische Filmmusik aus Kurosawas epischem Die sieben Samurai, und dazu, unverzichtbar, ein paar wiederentdeckte Perlen aus den 60ern.
Zuallererst ist Isle of Dogs (wie der 2009 gedrehte Der fantastische Mr. Fox) natürlich ein Stop-Motion-Film, und auch das stößt bei mir auf einen Haufen Zuneigung. Während es in gefühlt keinem einzigen Film mehr handgemachte Effekte zu sehen gibt und sich von der Kulisse bis zum Hauptdarsteller alles täuschend real computeranimieren lässt, fühlt es sich umso wohlig-wärmer an, einen in mühevollster Handarbeit entstandenen Film mit bewegten Puppen anzuschauen.
Ich weiß bloß noch nicht, wie ich meinem Sohn verklickern soll, dass ich mir einen Animationsfilm mit Hundepuppen im Kino ansehen will, den er aber wirklich nicht mit mir zusammen anschauen darf, weil er, beim besten Willen, wirklich, wirklich kein Kinderfilm ist.

GRAN FUTURISMO > Und der Mensch schuf den Roboter nach seinem Bilde

In der Ilias erzählt Homer über Hephaistos, Gott der Schmiedekunst, dieser werde in der Werkstatt von seinen selbst kreierten Mägden aus Gold unterstützt, die mit Vernunft begabt und lernfähig seien. Schon jene roboterhaft anmutenden Wesen scheinen geschaffen worden zu sein, um sowohl die Fähigkeiten und Stärken ihres Schöpfers automatisiert anwenden zu können, als auch um dessen Schwächen auszugleichen:

[…] Hinkte sodann aus der Tür, und Jungfraun stützten den Herrscher, / Goldene, Lebenden gleich, mit jugendlich reizender Bildung: / Diese haben Verstand in der Brust, und redende Stimme, / Haben Kraft, und lernten auch Kunstarbeit von den Göttern. / Schräge vor ihrem Herrn hineilten sie, er ihnen nachwankend. [Achtzehnter Gesang]

Das Bild vom künstlich hergestellten, intelligenten und idealförmigen Helferwesen, das uns untertan und doch in Sachen Kraft weit voraus ist, zieht sich über die Jahrhunderte durch die menschliche Fantasie – über die Romantik mit ihrer Faszination für Automaten bis ins heutige Industrieroboter-Zeitalter. Den Vorsprung in Sachen Schöpfungskraft, den die Götter innehaben, will der Mensch per Wissenschaft aufholen, und so wird er weiter auf den gewaltigen Annäherungsschritt ans Göttliche hinarbeiten, menschenartige Intelligenz irgendwann einmal selbst  – womöglich am Fließband – produzieren zu können.

Was danach kommen mag, darüber wird in der Science Fiction ausgiebig nachgedacht; abseits von Unterhaltungstrash und reinem Abenteuerspektakel findet sich dort eben auch große Philosophie. Auffällig dabei ist, wie sehr der Mensch, der über intelligenzbegabte Maschinen nachdenkt, einer Vorstellung verhaftet bleibt, nach der das Künstliche als Ebenbild des Menschlichen gedacht wird: Roboter, die in menschlicher oder menschenähnlicher Gestalt daherkommen, bevölkern unsere geträumte Zukunft. Warum sind es technische Einheiten, die ein Imitat des Individuums darstellen, die uns so beschäftigen? Warum werden als Antwort auf die Frage nach möglichen Formen künstlicher Intelligenz viel seltener Visionen entworfen, die form- und gesichtslose Schwarmintelligenzen zeigen, die keinerlei Übereinstimmung mit dem Konzept Mensch aufweisen? Der Blick in die Zukunft folgt dem gleichen Interesse wie der Blick zurück in die Historie: Aus diesen Betrachtungen wollen wir lernen, wer wir sind. Science Fiction finde ich dort am interessantesten, wo sie erforscht, welche Ergebnisse die Anwendung der Großen Fragen unter Laborbedingungen hervorbringt: Was ist Leben, und wie entspringt es? Was bedeutet Tod? Was ist Seele?

Weil diese Fragen nicht veralten, tun es auch die Klassiker nicht, die sich mit ihnen befassen. Da kann man etwas weiter zurück gehen, bis zu Frankenstein, und sich des Mitleids nicht erwehren, das man für dessen einsames Monster empfindet, oder etwas weniger weit, bis Blade Runner, und sich fragen, weshalb einem die Replikanten hier menschlicher erscheinen als die Menschen. In Ghost in the Shell ist es ein Hybridwesen aus Mensch und Maschine, das im Stillen zu ergründen versucht, was seine Identität ausmacht: Major Motoko Kusanagi besitzt ein Bionik-Gehirn, kann auf keine Herkunftsgeschichte zurückgreifen, ist nicht fortpflanzungsfähig, und verfügt doch über eine eigene Persönlichkeit. Im Jahr 2029 wird der Teil eines Menschen, Cyborgs oder bionischen Roboters, der dessen Identität speichert, als Ghost bezeichnet. Während ihrer Arbeit für die Sektion 9, einer Sondereinheit des Innenministeriums, verfolgt Kusanagi die Spur eines Hackers namens Puppet Masterder die Sicherheitssperre in den Ghost-Bereich überwunden hat und nun die Identitäten Anderer manipuliert. Zunächst deckt Kusanagis Team auf, dass der Puppet Master mit dem Geheimprojekt eines Technologiekonzerns in Verbindung steht. Doch zeigt sich bald, dass es Kusanagi mit weit mehr als nur einem aus dem Ruder gelaufenen Programm zu tun hat. Der Puppet Master erweist sich als Ghost, der aus unerklärlichen Gründen, durch irgendeinen Zündfunken im System, aus dem Netzwerk selbst heraus entstanden sein muss: eine Seele aus dem Rechner. Als der Major und der Puppet Master schließlich aufeinandertreffen, bietet diese Begegnung denn auch die ideale dramaturgische Gelegenheit, um das mit den Großen Fragen einmal gründlich durchzusprechen.

Diese erste filmische Umsetzung der gleichnamigen Manga-Reihe von Masamune Shirow erschien 1995. Rein optisch mag sich ihr futuristischer Anspruch inzwischen überholt haben: Outfits und Frisuren vieler Charaktere lassen an die Miami-Vice-Epoche zurückdenken; trotz direkter Netzwerkkommunikation zwischen den Ghosts gehören Telefonzellen hier noch zum Straßenbild – das Smartphone ahnte man eben nicht voraus; nicht zuletzt ist es auch das Medium selbst, der gute alte Zeichentrickfilm, das einem in Zeiten des computeranimierten 3D-Kinospektakels schon ziemlich vintage vorkommt. Egal – der (oftmals blutrot angehauchten) visuellen Schönheit und der hartnäckigen inhaltlichen Modernität des Ganzen tut das alles keinen Abbruch.

Nachdem der Stoff zu weiteren Animationsfilmen, diversen Anime-Serien und zur Computerspiel-Reihe verarbeitet wurde und Ghost in the Shell besonders in den 90ern als erfolgreiche Marke funktionierte, steht nun für 2017 eine neue filmische Adaption an: Derzeit drehen DreamWorks und Paramount Pictures einen Realfilm, in dem Scarlett Johansson die Rolle der Motoko Kusanagi spielt; geplanter Kinostart ist im kommenden März. Schon im Vorfeld der Dreharbeiten hat die Rollenvergabe eine Debatte um die unschöne Hollywood-Praxis des Whitewashing losgetreten: Während die Einen schon jetzt hingerissen sind von Johansson als Besetzung, fragen die Anderen sauer, weshalb man mal wieder nicht einer asiatischen Schauspielerin die tragende Heldinnenrolle habe geben wollen. Ob eine blauäugige Maschine, deren Geschichte sich in einer Zukunft abspielt, in der Nationalität oder Hautfarbe kaum mehr von Bedeutung sind, nun unbedingt von einer, sagen wir, japanischen Schauspielerin verkörpert werden muss? Um die Story an sich authentisch umzusetzen, wäre das nicht nötig – ginge es nur darum, hätte man die Rolle des Majors alternativ auch wunderbar etwa an eine puertoricanische Transfrau vergeben können. Dass Hollywood aber ausgerechnet für die Neuverfilmung eines japanischen Klassikers seine weiße Standardprominenz verpflichtet, anstatt der asiatischen oder asiatischstämmigen Schauspielerschaft den Vorzug zu geben, hat allerdings einen zweifach unguten Beigeschmack: Zum Einen verweigert man hier, wo sich doch ein schöner Anlass zu Gegenteiligem geboten hätte, wie gewohnt einer Minderheit das Privileg, sprichwörtlich eine Hauptrolle in der breiten Öffentlichkeit zu spielen, zum Anderen wird wieder einmal mit geradezu kolonialherrschaftlicher Selbstverständlichkeit ein Stückchen Fremdkultur zu einem rundum amerikanischen Massenprodukt verwurstet. Mir selbst wär’s schlicht lieber gewesen, man hätte Kusanagi ein etwas weniger Glamour-beladenes Gesicht gegeben. Am besten aber hätte wohl einfach gleich ein Roboter die Hauptrolle übernehmen sollen?

Wie gesagt, in der Science Fiction beschäftigt man sich häufig mit Fragen, die ums Menschliche kreisen.

MERZ UND ANDERE SCHNIPSEL > Sinfonie der Großstadt

Schnitt! Schnitt! Schnitt!  Bahngleise schneiden durch Landschaft und Stadt. Stille – Schnitt! Aufruhr – Schnitt! Dreh- und Schiebetüren portionieren Menschenströme. Den unhörbaren, doch fühlbaren Takt klappern die Hufe der Fuhr-Pferde, die Schreibmaschinen-Tastaturen der Angestelltenheere, die hohen Absätze der Damen, die Krücken der Kriegsinvaliden, das Rattern der Straßenbahnen. Hunger – Schnitt! Glamour – Schnitt! Uhrzeiger zerteilen die Zeit, Fabrikschornsteine den Himmel. Militär präsentiert sich im Stechschritt, gedrängte Arbeitermassen messen den Tag mittels Stechuhr, die Revue-Damen und die berauscht schwofenden Pärchen messen die Nacht in Tanzschritten. Tanz-Schritt-Tanz! Schnitt!


Ein Tag in Berlin – eine Bilderflut. Wie viel Material wurde hier zusammengetragen, in wie viele Fragmente wurde es zerteilt, wie mühsam aneinandergefügt? 1927 wurde dieser dokumentarische Film von Walther Ruttmann uraufgeführt. Die Technik erlaubte neuerdings das exakte Schneiden und Verbinden von Filmmaterial; in Sinfonie der Großstadt findet diese Möglichkeit rauschhaften Einsatz. Um einen einenden Faden zu liefern, unterlegt orchestrierte Musik das Alltagsorchester (die nicht erhaltene Originalmusik von Edmund Meisel wurde nach einer Klavierfassung rekonstruiert). Damals mitunter als inhaltslos kritisiert, ist er heute ein wunderbares Zeugnis einer untergegangenen Zeit – gerade weil allein die Bilder sprechen.

MEIN WUNDERBARER TRASH-SALON > Verschämte Lieblinge

Liebe Überzeugungs-Akademiker, an dieser Stelle sei es Euch erlaubt einen Beitrag vollkommen ungelesen zu überspringen. Wer dennoch nicht weglesen mag, begibt sich hier auf eigene Gefahr in triviale Niederungen, wo schmalzrutschige Ebenen und verfängliches Dickicht aus Plüsch und Spitzenbesatz darauf lauern, den kritischen Intellekt zur Strecke zu bringen. Entschärfend kann ich darauf hinweisen, dass diese Woche eine kurze wird – Umzugsvorbereitungen gehen vor Bloggen. Dafür werdet Ihr im Folgenden mit einer umso geballteren Portion Unterhaltungskultur befeuert. Also: Fliehet!, oder kramt bitte JETZT die Pralinen und die Gemütlichkeitsgarderobe fürs Sofa heraus.


Stufe 1 – Die historische Schmonzette


Rossetti

Menschen, Tiere, Sensationen – derzeit darf man auf dem rechtmäßigerweise bekannten und beliebten Blog Sätze und Schätze unter dem Hashtag #VerschämteLektüren ungestraft der Freude an seinen aufs Allerheimlichste verschwiegenen Lieblingen frönen, was reihenweise Stoßseufzer auslöst und gekiekste Kommentare provoziert. Sehr schön; speziell der liebevolle Beitrag von Buchpost über James Herriot, Der Doktor und das liebe Vieh löste einen hartnäckig anhaltenden und vom herbstlichen Gemütlichkeitswahn unterstützten Britishness-Anfall bei mir aus. Bezüglich eigener verschämter Lektüren äußerte ich mich in meiner unendlichen Hybris anfangs reichlich naiv: Gibt´s nicht. Peinliche Lieblingslieder? Schuldig, reihenweise – dazu stehe ich problemlos. Filme fürs Herz? Zerknirschtes Ja, allerdings mit Seltenheitswert. Heimlicher Hang zu nostalgischen Kitsch-TV-Serien? Volltreffer! Aber Banal-Literatur? Niemals…! Dann jedoch kam das Thema Historischer Roman auf den Tisch und mir schwante die Fehlerhaftigkeit meiner Selbsteinschätzung.

Der Name Ingrid Krane-Müschen steht für atemlose Spannung vor mittelalterlicher Kulisse, heimlich ins Spitzentaschentuch verdrückte Tränen der Rührung und der Trauer, mitreißende Plots im schottisch-englischen Adelsmilieu und unüberwindliche Schicksalshürden, die mit Liebe und Edelmut schließlich doch überwunden werden. Bevor sich nun jemand in Spott und Häme angesichts meiner Lieblingsschmonzettenautorin ergeht, sollte er sicherheitshalber zunächst im eigenen Regal nach ihrem Künstlernamen Ausschau halten, unter dem sie sich so erfolgreich verkauft, dass ich schlechterdings unmöglich allein mit ihren Büchern dastehen kann: Rebecca Gablé.

An langen Winterabenden oder während des beruflichen Pendelns zwischen Buchhandlung und Zuhause ließ ich mich von ihrer vieltausendseitigen Waringham-Saga vollkommen hingerissen einlullen. Als Unterhaltungsmittel taugt diese Lektüre ungemein, Frau Krane-Müschen/Gablé, unangefochtene Königin des historischen Schmökers, beherrscht ihr Handwerk souverän, gestaltet lebendige Charaktere und Settings, produziert keine Längen, verknüpft die Kapitel mit kunstvollen Cliffhangern und baut Spannung auf.

Die Familiengeschichte der Waringhams erstreckt sich über mehrere Generationen, beginnend im Jahr 1360 mit Stammvater Robin of Waringham, der in Das Lächeln der Fortuna die angekratzte Familienehre wiederherstellen muss. Als Sohn des ehemaligen Earls ist er Schikanierungen durch den Sohn des neuen Earls ausgesetzt und muss sich seinen Weg zurück in den Adels- und Ritterstand unter selbstredend größten Entbehrungen abenteuerlich erkämpfen. Angesichts solch hartnäckigen Edelmuts bleiben entflammte Damenherzen nicht aus. Weiter geht es in Die Hüter der Rose. Dort büxt John of Waringham, Sohn Robins, aus Angst davor, zwecks klerikaler Karrierevorbereitungen ins Kloster gesteckt zu werden, von Zuhause aus und setzt sich nach Westminster ab, wo er zufällig König Harry begegnet. Eine Freundschaft mit dem Königshaus, eine glanzvolle Laufbahn als Ritter während des Hundertjährigen Krieges zwischen England und Frankreich sowie zahlreiche amouröse Verwicklungen sind damit vorgezeichnet. In Das Spiel der Königemüssen sich die Waringham-Sprösslinge Julian und Blanche im Konflikt zwischen den Adelshäusern York und Lancaster für eine Seite entscheiden und geraten in fiese Intrigen, hundsgemeine Machtspielchen und dramatische Herzens-Verwirrungen. Im vierten Band, Der dunkle Thron, stellen die machtpolitischen Auswirkungen der Reformation den Waringham-Erben Nick vor die knifflige Aufgabe, seine Familie durch kluge Bündnispolitik auf die sichere Seite zu bringen – Querelen des Herzens und Vater-Tochter-Konflikte sabotieren dabei einige seiner Bemühungen.

Neben der Waringham-Saga hat Rebecca Gablé einen meterbreiten Schwung weiterer nur wärmstens zu empfehlender Historienschinken verfasst. Wie sonst auch, wenn ich beim Beitragsbild auf Ersatzabbildungen ausweiche (in diesem Fall musste es unbedingt diese betörende Rossetti-Postkarte sein), habe ich das besprochene Buch inzwischen entweder weiter verliehen oder selbst wieder zurück gegeben. Dass ich nicht einen einzigen Gablé-Roman für ein Beitragsbild vor meine Linse bekommen habe, liegt in folgendem Mechanismus begründet: Ließ ich mich dabei erwischen, eine neue Gablé zu lesen, wurde sie mir – teilweise noch bevor ich den Schlusssatz vollständig hatte lesen können – von Gablé-hungrigen Bestien aus den Händen gerissen, so dass ich heute froh bin, noch alle zehn Finger zu besitzen. Meine Mutter war die einzige unter den Raublesern, die vorher immerhin höflich um Leiherlaubnis gefragt hat. Auch Männer gehören zu den Ausleihern, in deren Regalen in einer verschämten Ecke sich nun meine Gablés finden, die ich wohl nie wieder zurück bekommen werde.

Der Winter kommt. Deckt Euch ein mit ein paar Pfund Earl Grey, holt die Blümchentassen heraus, backt ein paar Scones und blättert mal in diesem schmalzig-wonnigen Vergnügen. Ich gebe zu, ich schäme mich gar nicht so ehrlich dafür, mir diesen Schmus gegeben zu haben. Ich würd´s wieder tun.


Stufe 2 – Die chauvinistische Schmalzlocke


Im Zusammenhang mit verschämt geliebtem Unterhaltungsgut darf die Kategorie Film nicht unbesetzt bleiben. Wer an dieser Stelle eine Liebeserklärung an Tanzfilme wie Flashdance oder Dirty Dancing erwartet hätte oder eine Ode an Lovestories vom Kaliber eines Rendezvous mit Joe Black, liegt total daneben. Zwar kam ich als Kind nicht umhin mich gemeinsam mit meiner Oma durch die Sissi-Reihe zu schniefen und habe ein tatsächlich sehr ehrliches Faible für die Liebeskomödie My Big Fat Greek Wedding, doch das sind Ausnahmeerscheinungen. Bei Action-Klassikern kommen wir der Sache schon näher. Stirb Langsam und Lethal Weapon, jeweils 1-4, fragwürdiges Männlichkeitsbild inklusive (ach, wurscht, als gäbe es überhaupt irgendein nicht fragwürdiges Männlichkeitsbild): Ich liebe es! Das tun in meinem Umfeld jedoch erstaunlicherweise flächendeckend alle. Wofür mein Filmherz tatsächlich etwas verschämt schlägt, sind Roger-Moore-Filme – aber nicht irgendwelche:



Simon Templar lautet der Name des nobel gesinnten Privatdetektivs aus der britischen Kriminalreihe The Saint. Bei ungutem Allgemeinbefinden haben sich die Originalfolgen dieser Reihe mit ihrer zuerst schwarz-weißen, später herrlich übercolorierten Ästhetik als wundertätige Stimmungsaufheller erwiesen – sie teilen sich damit bei mir ihren Rang mit den ursprünglichen Teilen der Star-Wars-Trilogie (vor der digitalen Überarbeitung) und Sir David Attenboroughs sämtlichen Naturdokumentationen für die BBC. Von 1962 bis 1969 wurden in England 118 Episoden von The Saint gedreht, 39 davon liefen zwischen 1966 und 1970 unter dem Titel Simon Templar im Abendprogramm der ARD. Zwar handelt es sich hier um eine Fernsehserie, keine Kinoverfilmungen, die Einzelfolgen sind jedoch abendfüllend. Simon Templar zeigt sich darin als Kosmopolit, Snob und Charmeur. Seitdem er seine kriminelle Karriere als kultivierter Dieb, der charakterlich verkommene Reiche ausraubte, aufgegeben hat, nutzt er seine außergewöhnlichen Fähigkeiten in detektivischer Funktion. Smart, gutaussehend, weltmännisch, allein mit einem fatalen Hang zur Eitelkeit geschlagen, löst der Ausnahme-Detektiv seine Fälle mit Leichtigkeit, muss auf dem Weg zur Auflösung jedoch manche Widrigkeit über sich ergehen lassen: Er wird niedergeschlagen, eingesperrt, gefesselt, beinahe erschossen, beinahe ertränkt, betäubt, beraubt, sabotiert und dergleichen mehr. Zum Ausgleich wird der schmalzlockige Gentleman von den Damen umschwärmt, gehätschelt und geküsst.

Für Roger Moore eine perfekte Vorbereitung also auf seine Anschlussbeschäftigung als James Bond (ich überspringe hier die dazwischen liegende Serie Die Zwei, in der Moore ein Duo mit Tony Curtis bildete, weil diese nie so voll meinen Nerv traf), den er von 1973 bis 1985 in sieben Filmen verkörperte. Aus heutiger Sicht mag Sean Connery der Bond für die Ewigkeit sein, der langlebigste und finanziell erfolgreichste Bond jedoch war Roger Moore. Im Gegensatz zum von der Mod-Fashion beeinflussten Simon Templar, begab sich Moores James Bond in das modische Gefahrengebiet der 70er und 80er Jahre, das selbst auf seinen Standard-Anzug giftig übersprang: Einige frühe Anzughosen wiesen einen Hosenbeinschlag auf, später nahmen die Sakkos beige-braune Tönungen an und wurden sogar mitunter durch Wildlederblousons ersetzt. Im Ganzen sind Moores Bond-Filme, zumal aus heutiger Sicht, abgeschmackte Macho-Filme, in denen eine Alibi-Handlung halbherzig zu verschleiern versucht, dass es hier im Kern um einen Mann geht, um DEN Mann.

Von DIESEM Mann indessen fühlte und fühle ich mich keineswegs angezogen (auch nicht heimlich, nein, hier wird nicht geflunkert), und doch verbinde ich besonders mit dem Moore’schen Bond äußerst wohlige Gefühle: Zu Zeiten, in denen man das Fernsehen daheim als Kino-ähnliches Ereignis inszenierte, waren die Wiederholungen klassischer Bond-Filme die ersten Erwachsenen-Filme, die ich legalerweise anschauen durfte – im Kreise der geschlossenen Familie. Eltern und Geschwisterschaft drängten sich auf der Sofa-Landschaft aneinander, einem graugemusterten Polster-Prachtstück, das sehr geschmackssicher den Hauch der späten Bonner Republik atmete. Auf dem Tisch standen in klobigen Kristallschälchen Salzgebäck und Erdnüsse parat, Vater und Mutter tranken mitunter ein Gläschen Weißwein dazu, für uns Geschwister gab´s Vitamalz. Zunächst absolvierte man das Pflichtprogramm Tagesschau, dann dimmte man in der Stube das Licht herunter, bis die messingfarbenen Kugellampen ein angenehmenes Halbdunkel erzeugten, und stritt sich um die Verteilung der Schälchen mit Knabberkram, bis endlich der Filmvorspann begann. Und dann saß ich mittendrin im Gnickern und Gröhlen, Gekicher und manierierten Geseufze meiner älteren Schwestern, in das meine Eltern so gern einstiegen, ärgerte mich schwarz, wenn ich aufs Klo musste und damit die spannendsten Momente verpasste, kicherte manches Mal gespielt mit um zu überdecken, dass mein noch kindliches Gemüt manche Szene, die meine Schwestern losprusten ließ, nicht einzuordnen wusste, und gab mich übertrieben abgebrüht angesichts der bis zur Lächerlichkeit überzeichneten Bösewichte, die mir nichtsdestotrotz Angst machten. Seither ist der Begriff James Bond für mich ein Ausdruck für familiäre Geborgenheit. (Ab und an, wenn etwas Trost nötig ist, tauschen zum Beispiel mein Bruder und ich Nachrichten solcher Art aus: Kannst Du auch nicht schlafen? Heute Octopussy auf WDR, 1.30Uhr!)


Stufe 3 – Die herzige Pop-Hymne



Dieses Video spricht für sich – böse Zungen könnten durchaus formulieren gegen sich, doch so waren eben die Zeiten… Das ändert leider nicht das Geringste an der Aufrichtigkeit meiner nostalgisch verklärten Liebe zu diesem One-Hit-Wonder, das über prägende Jahre hinweg auf mich einwirkte, bis es dann traurigerweise spurlos aus dem Radio verschwand. Nur ein Wort – und damit gibt es dann für diese Woche auch nichts mehr drauf zu setzen: Synthesizer-Fanfaren!

SCHWARZ-WEISSE ZEITEN > Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt?


Kuhle Wampe: Berlinerisch für Kalter Bauch. Name eines Zeltplatzes am Großen Müggelsee in Berlin, dessen bauchige Bucht den unter der betonverstärkten Sommerhitze leidenden Stadtmenschen einlädt, sich beim Badevergnügen abzukühlen. Gleichzeitig aber auch die Bezeichnung für einen leeren Hungerbauch.

1932 erschien unter dem Titel Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt?ein mustergültiger Proletarischer Film: Er mischt Propaganda- und Dokumentar-Elemente in eine erzählende Filmhandlung und verfolgt das erklärte Ziel einen internationalen politischen Lernprozess zu befördern, indem er das Berliner Arbeiterelend exemplarisch diskutiert. Wen wundert es da, in der Liste der Filmverantwortlichen auf den Namen Bertolt Brecht zu stoßen? Regie führte zwar der Bulgare Slátan Dudow, man merkt der inhaltlichen und stilistischen Gesinnung des Filmes jedoch eine deutliche Genossenschaft mit Brechts Epischem Theater an: In scharfem Kontrast werden die Lebensverhältnisse der Arbeiterschicht den Alltagsinteressen der Oberschicht gegenübergestellt. Die harte Gliederung des Films erinnert an die Abfolge von Akten in einem Theaterstück. Kommentierende Lieder wie der Solidaritäts-Song ergänzen, ganz Brecht-typisch, die Handlung.

Im Zentrum des Films steht die junge Arbeiterin Anni. Zu Beginn des Films begeht ihr Bruder – erdrückt von Armut, Arbeitslosigkeit und Aussichtslosigkeit – Selbstmord. Der Familie wird die Wohnung gekündigt, sie zieht um in eine Art Armutskolonie in einer Gartenanlage mit Namen Kuhle Wampe. Anni, die als Einzige noch mit einem kargen Gehalt für die Familie sorgen kann, wird schwanger und verlobt sich mit ihrem Freund Fritz, der jedoch mit der Verlobung hadert: Ein Kind ist kein Segen, sondern eine Belastung, und eine Heirat kein Fest, sondern ein Fluch. Gegen Ende des Films versöhnen sich Fritz und Anni zwar, ihre Perspektive jedoch ist eine beklemmende, beängstigende, und als einziger Lichtblick bietet sich ihnen, die im Zusammenschluss als Paar oder als Familie nichts erreichen können, nur noch der kämpferische Zusammenschluss aller Schicksalsgenossen.

Die Dreharbeiten des Films waren geprägt von Widrigkeiten, die auf ihre eigene Art die Themen Armut und Kampf berührten: Die Finanzierung gestaltete sich wackelig, die erste Produktionsfirma ging in Konkurs, eine zweite wurde mit Mühe aufgetrieben. Des Weiteren schützten Mitglieder der KPD die Drehbeteiligten bei mehrfachen Angriffen durch die SA.

Die Filmpremiere in Moskau 1932 hinterließ ein irritiertes Publikum: Der Einblick in die Lebensverhältnisse des Berliner Proletariats, das in einer trotz Allem idyllischen Natur-Umgebung mitunter fröhliche Sportfeste abhält, wurde als geschönt empfunden. Danach fand der Film im sowjetischen Raum keine Verbreitung, wurde dafür aber in Berliner Kinos mit großem Erfolg gezeigt und hielt auch in weiteren europäischen Metropolen Einzug in die Lichtspielhäuser. 1933 allerdings wurde er von den Nazis verboten. Im Krieg verschollen geglaubt, tauchte er 1958 in der DDR plötzlich wieder auf und wurde im Westen ab 1968 vor dem Hintergrund der Studentenbewegung mit neuem Interesse gesehen.

Inzwischen ist der schneidende Schwarz-Weiß-Kontrast der programmatischen Weltsicht in Kuhle Wampe nostalgisch ergraut – ein Stück Polit-Folklore. Als Zeitdokument aber ist der Film ein erzählfreudiger Veteran, der über das Wesen einer vergangenen Gesellschaftsordnung plaudert. Vorwärts! Vorwärts! …ins Gestern.