Kein bisschen Lust zu lesen. Dabei ist Herbst, alles ist hygge, Sie kennen das, überall im Internet überschlagen sich die Leute mit ihrer penibel inszenierten Herbstgemütlichkeit: Kürbis, Teetasse, #fallfashion, Stricksocken und Bücherstapel. Ich raffe mich sogar auf, in eine Buchhandlung zu gehen, finde aber, auf der Suche nach Büchern, die ich vielleicht doch lesen wollen würde, nur blöde Haufen Papier.
Liegt es am Markt? Liegt es an der Leserin?
In solchen Phasen bekomme ich gleichzeitig auch nichts Gescheites hingetippt. Eventuell muss das Hirnareal für Textangelegenheiten auch einfach mal den Leerlauf einlegen, lüften, ja?
Es bieten schließlich auch andere Dinge geistige Beschäftigung. Gespräche: „Regnet’s heute wohl?“, „Na, ich denke, es könnte.“, „Es müsste ja mal.“, „Nur dann nicht so dolle, für die Rosen wär’s ja nicht gut.“, „So ohne wär’s aber auch nicht gut.“, „Nee, das wär nicht gut.“, „Bisschen könnt schon.“ Täglich acht Uhr kommt ein Trupp Kohlmeisen durch den Garten, da kann man gut zuschauen, wie der angefressene Buchs munter von Geziefer befreit wird. Bundestagswahl – auch ein Thema.
Selten lese ich Bücher mehrmalig, aber bestimmte Bücher nehme ich eben doch häufiger zur Hand, um mich kapitelweise nochmals in Sprache oder Stimmung zu vertiefen, wenn ich bedürftig danach bin. Ich mag das gar nicht sagen, ich habe im Arbeitsleben viele, zu viele Postkarten und Lesezeichen mit „Bücher sind Medizin“-Aufdruck verkauft, um nicht privat eine ausgesprochene Allergie gegen solche Mottos entwickelt zu haben, aber nun denn – meine, Entschuldigung, „literarische Hausapotheke“: Harold Brodkey und Georg Klein, wenn ich nicht schlafen kann. Henning Ahrens, wenn ich Heimweh nach meiner Urgroßmutter und nach längst bebauten Brachwiesen, längst abgerissenen Hühnerhöfen bekomme. Tristan Egolf, wenn ich Lust hätte, mich mit meiner verstorbenen Familie zu zoffen. Agatha Christie, statt Wärmflasche. Herta Müller, wenn zu viel Christian Lindner im Radio war.
Ein anderer Grund, um ein Buch stetig wieder zur Hand zu nehmen, kommt seltener vor: Weil man daran arbeiten muss. Als hätte man sich daran überfressen und kriegte diesen Brocken nun partout nicht verdaut. Diane Cooks Kurzgeschichten zum Beispiel, die wurmen mich, wie sonst eigentlich nur noch Julio Cortazárs Bestiarium. Wenn ich die nicht im Auge behalte, sickert etwas Giftiges daraus hervor, bildet gefährliche Dämpfe, Strahlungen… Eine solche esoterische Dimension liegt natürlich nicht vor, es hat bloß mit bestimmten sensiblen Punkten zu tun, die da gepiesackt werden. Was ja anstrengend ist. Und was ja erst aufhören kann, wenn die Frage geklärt ist, woher genau eigentlich die Piesackigkeit bestimmter Geschichten rührt.
Kurz gesagt gibt es also Bücher, die einem zu denken zu geben. Die einen hartnäckig, unangenehm beschäftigen. Und dass ich das offenbar nicht mehr gewohnt bin, ist eventuell kein Kompliment für mein eigenes Leseverhalten und mit Sicherheit keins für den breiten Buchmarkt.
Nun, Diane Cook. Seit ich letztes Jahr die englischsprachige Ausgabe von Man V. Nature gelesen habe, hätte ich erwartet (befürchtet?), dass am ehesten Heyne oder Ullstein eine deutsche Ausgabe auf den Weg bringen würden, deren Vermarktungsrichtung auf Simon-Beckett-LeserInnen zielen würde. Tatsächlich rührt sich aber niemand. Wahrscheinlicher wäre wohl, dass Netflix schneller eine Erfolgsserie bastelt, die auf einer von Cooks Kurzgeschichten basiert, als man „weiblicher Autor über 40, aber nicht Donna Leon“ sagen kann.
Ein glattes Dutzend Storys auf rund 250 Seiten. An Netflix‘ Stelle würde ich sie allesamt adaptieren, und zwar flott. Höchstens dem Aufmacher mit seiner Weltuntergang-durch-Klimawandel-Thematik könnte man einen leichten Mangel an Originalität vorwerfen, aber sonst.
Nur drei Geschichten transportieren das Motiv Mensch-versus-Natur im Survival-Sinne, sodass man sich, angesichts häufiger groß- und kleinstädtischer Settings, zunächst über die Titelgebung wundern mag. Nachdem man zur Titelstory vorgedrungen ist, erklärt sich jedoch einiges: In Man V. Nature setzt Cook drei Männer in ein Boot und lässt aus dem Angelausflug, den die alten Jugendfreunde geplant haben, einen Überlebens-Trip werden, wobei sich schnell abzeichnet, dass es eher nicht die Elemente an sich sind, die den Akteuren den Rest geben – die Triebe und Psychologie des Menschen, seine eigene Natur also, sind die lebensfeindliche Gewalt in dieser Geschichte. Und in allen anderen gleichfalls.
Man V. Nature zeigt die Deutungs-, aber auch die Stil-Linie für die übrigen Geschichten an. Cook spielt hier mit an Film und Fernsehen geschulten Erwartungen an den Plot – Sie wissen schon: drei Jungs, ein Boot, es sollte ein harmloser, fröhlicher Ausflug werden, doch… – , erfüllt sie aber nie, und ich finde große Kunst, wie Cook der Vorhersehbarkeit ein Schnippchen schlägt. Insgesamt kriege ich in diesem Buch nirgendwo festen Boden unter den Füßen zu spüren, scheinbaren Gewissheiten ist nie zu trauen. Die nüchterne Akzeptanz wiederum, die hier gegenüber dem Unerwarteten, auch dem Absurden und Entsetzlichen an den Tag gelegt wird, kennt man aus Träumen, und so lesen sich diese Geschichten denn auch wie Aufzeichnungen geträumter Episoden; wer weiß, vielleicht sind sie’s ja.
Den Rang als Titelgeschichte hat sich dieser unglückliche Bootsausflug schon allein wegen seiner durchdringenden Boshaftigkeit verdient – für mich eine der schlimmst-wurmenden Episoden im ganzen Buch. Und das will was heißen.
In A Wanted Man zum Beispiel hetzt man lesend durch eine Metropole, eigentlich Sinnbild für Zivilisation, und versucht mit dem Protagonisten Schritt zu halten, der pausenlos Weibchen begattet und von anderen Männchen zu Revierkämpfen herausgefordert wird – hier darf der Mensch vollends Tier sein, nur seinen Trieben verpflichtet, und es ist vollends grausam. Ähnlich zügellos geht es in It’s Coming zu: Ein Hochhaus wird angegriffen, unzählige Angestellte, die dort für internationale Büros arbeiten, werden direkt vom Schreibtisch in den Tod befördert (man denkt dabei zwangsläufig an die Twin Towers, nur ist dies hier eine Abstraktion, weltpolitisch neutral, in der Realität so nicht auffindbar, wie alle Orte in diesem Buch), und die von Angst und Kontrollverlust befeuerte psychologische Dynamik treibt unter den noch Lebenden, die quer durch die Etagen gejagt werden, schaurige, mitunter überraschende Blüten. Die Abschlussgeschichte, The Not-Needed Forest, wo ein Haufen aussortierter Kinder allein in der Wildnis zu überleben versucht und dabei haarsträubende Rituale entwickelt, geht maximal ans Eingemachte – das ist Goldings Der Herr der Fliegen, bloß übersetzt in die nahe Zukunft und verdichtet auf 20 Seiten, und mehr würde ich auch gar nicht ertragen.
Ja, ich weiß. Ein Buch, das mir so empfohlen würde, würde ich an Ihrer Stelle auch nicht lesen.
Gelesen habe ich, die ich mein Leben lang noch keine Stephen-King-Verfilmung zu Ende anschauen konnte, ich, die kategorische Horror-Verweigerin, die Angsthäsin, das Weichei, dieses Buch bis jetzt zweieinhalb Mal.
Das Zutagetreten einer rohen, archaischen, unkalkulierbaren Natur, die, vom zivilisierten Alltagsleben in den Schlaf gewogen, unterhalb unserer Haut schlummert, ist Cooks roter Faden. Und trotzdem dreht es sich um mehr als bloß Gewalt und Panik, ist Cook eine Frau fürs Subtile – die stillen Ängste zu portraitieren, ist ihr größtes Talent. Statt bloße Horrorgeschichten zu erzählen, die auf Schock-Effekte aus sind, entwirft Cook psychologische Bilderwelten, die verbreitete Ängste und Leiden ernst nehmen, indem sie deren Wucht geschickt sichtbar machen. Jede dieser Geschichten ist ein Alptraum, und fast jeden davon habe ich schon mal geträumt.
Dieser Bootsausflug. Natürlich geht’s da nicht um das Wasser. Es geht um kleine Demütigungen und Verletzungen. Scham, Enttäuschung, Entfremdung, Verunsicherung, Konfrontation, Ablehnung, Unfreundlichkeit. Um diese vermeintlich harmlosen Dinge im Zwischenmenschlichen – die einen nachts wach halten können. Die einen krank machen können. Oder schlimmeres.
Die Geschichte jedoch, woran ich am langwierigsten zu knabbern habe, ist unangefochten Somebody’s Baby. Lesen Sie’s nicht, wenn Sie gerade Jungeltern geworden sind, wirklich, lassen Sie’s sein (Sie haben in dem Fall sowieso keine Zeit, irgendwas zu lesen, aber seien sie ausnahmsweise froh drum). Es hat mich sofort zurückversetzt in den Moment, als ich damals mit Baby aus dem Krankenhaus nach Hause kam, diese ganze, über neun Monate hinweg ausgestaltete Kulisse mit Wickeltisch, Babybett usw. plötzlich mit Leben gefüllt wurde und alles, auch ich, endlich in der Realität ankam. Und kapierte, was Angst haben heißt. Verantwortung haben, Glück haben, ein Kind haben heißt Angst haben. Eine Scheißangst, immer. Bei aller Fröhlichkeit, auch aller Genervtheit und Müdigkeit, die einen vorrangig beschäftigen, lauert im Hintergrund doch permanent diese Angst, und in Cooks Geschichte findet sich dafür folgendes Bild: Im Vorgarten, hinterm Gebüsch, lauert ein Mann, der niemals schläft und den niemand je in die Finger kriegen wird, und sobald du einmal nicht aufpasst, klaut er dein Kind. Es ist weg, du siehst es nie wieder. Alle Eltern kennen diesen Mann, er klaut alle Neugeborenen, wenn man nicht aufpasst, er gehört eben dazu – normal. Du hast eine quälende Angst vor dem Mann-im-Gebüsch, aber niemand nimmt dich in deiner Angst ernst, nun, die Normalität mag ja grausam sein, aber sie eben ist die Normalität, weswegen stellst du dich dermaßen an?
Wie geht man mit solchen Ängsten um? Wann kann ich aufhören, dieses Buch immer wieder in die Hand zu nehmen?
>Diane Cook, Man V. Nature
Diane Cook ist eher nix für mich, aber dass Sie Tristan Egolf erwähnen , phew, einer der besten für mich…
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Bei Egolf war alles drin: Geflügelzucht, Werwölfe, Bibelspinner, Boxer, Müllabfuhr, Trecker, Frachtschiffe usw. Herrlich. Ich hätte ihm ein Opus magnum zugetraut, dass die Heide wackelt, ach!
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Interessante Rezension eines Buches, das wir sicher nicht lesen werden.
Dennoch thanks for sharing
The Fab Four of Cley
🙂 🙂 🙂 🙂
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