ANS EINGEMACHTE > Im Park hinter den Augen

Vom nahen Fliegerhorst aus sind vergangene Woche mehrere A400M in Richtung Kabul abgeflogen. Auch die übrigen Maschinen sind ständig in der Luft, der ganze Flugdienst in Bereitschaft.
Früher waren es Transall C-160, deren Tiefflüge über unserem Garten mein Zwerchfell schüttelten – mein Vater kannte ihre Kabelbäume persönlich, und ich liebte die olivgrün-gescheckten Maschinen und den vibrierenden Krach ihrer Übungsflüge sehr. Vor allem mochte ich die Geschichten über ihre Hilfseinsätze; die Bilder der Trall in weißer UN-Lackierung waren besonders erfolgreich als Wohlfühl-PR für die Truppe. Zudem überlagerten sich bei mir natürlich die Wahrnehmung von Vater und Flugmaschine, wodurch das Bild einer irgendwie väterlichen Flugmaschine entstand.
Andere Mädchen striegelten liebevoll ihre Pferde, ich tätschelte taktische Transportflugzeuge. Es war sehr schön, daran zu glauben, dass diese lauten, spartanischen Ungetüme im Dienst der zwei großen F unterwegs waren.
Gegen den Airbus A400M Atlas wirkt die ausgediente Transall in Größe und Ausstattung kläglich. Woran es dem Nachfolger allerdings fehlt, ist deren unerreicht-rosiges Image einer humanitären Rettungsmaschine – das auch mein Vater umso vehementer beschwor, je mulmiger ihm während der Nach-Wende-Jahre auf seinem Fliegerhorst zumute wurde, als nach dem Kalten Krieg nicht etwa endlich, endlich der Weltfrieden, sondern die Golfkriege ausbrachen, eine neue Generation von Kriegen sich anbahnte, das Patriot-Raketensystem in seinem Arbeitsalltag ankam und vor dem Hintergrund üppiger Rüstungsexporte die zwei großen F – Frieden und Freiheit – immer winziger wurden.
Mein Transall-Vater ist lange tot und ich lange kein Grundschulkind mehr – das beides fiel mir ein, als ich Anfang letzter Woche unter einem weiten Himmel voller A400M-Dröhnen stand, in den auf einmal eine weitere Maschine hineinschnitt, die ich wegen ihrer feierlichen Sonderlackierung erst gar nicht erkannte: die Trall, die mit Ablauf dieses Jahres nun endgültig außer Dienst gestellt werden wird, auf dem letzten ihrer Abschiedsflüge.
Ich konnte mir ein Winken nicht verkneifen, ein entgegenkommender Radfahrer grüßte freundlich-irritiert zurück, peinlich, aber Zehnjährigen ist so was ja schnuppe und in diesem Moment war ich kurz wieder zehn. Da flogen viele Arbeitsstunden meines Vaters hin, und viele Besuchstage in Werkstatt und Hangar. Natürlich auch eine Menge CO₂. Und obendrein der Rest einer humanitären Wunschvorstellung, der als Staub aus den 80ern bislang noch in einer versteckten Ecke im Apparat verblieben gewesen war.

Seit meiner Zweitimpfe sind ein paar Tage vergangen und ich schlechterdings noch nicht wieder zu gebrauchen. Auch schön. Der Eindruck, mir gehe universell die Puste aus, ist zur Abwechslung einmal medizinisch legitimiert – der Eindruck, mir würde Substanz abgerieben, weggeschliffen. Dabei ist mein Reflex, in Sachen meiner Dauerträgheit ständig mit guten Begründungen oder notfalls findigen Ausreden zu wedeln, so überflüssig, es ist alles ganz einfach: Ich bin müde, und Sie auch.

Menschen, die sich an Flugzeuge krallen und abstürzen. Menschen, die sich an Schlauchboote krallen und versinken. Menschen, die privat ins All fliegen. Menschen, die von Waldbränden eingekesselt werden. Menschen, die von Flutwellen und Schlammlawinen mitgerissen werden. Menschen, die keine Luft bekommen. Menschen, die schwurbeln. Menschen, die verhaftet, misshandelt, vergiftet werden. Menschen, die –
Katzenvideos.
Sie kennen dieses Karussell, das sich wie ein Mahlwerk dreht.

Es gibt da diesen Park, den es nicht gibt. Angelegt auf einer Flussinsel. Lassen Sie mich ein bisschen ausholen, ja?
Über eine neugotische Brücke gelangt man zum Werder hinüber, der dicht mit Bäumen bestanden und von Röhricht umsäumt ist. Eine Pappel-Reihe begleitet den einzigen schnurgeraden und breiten, mit Muschelkies gestreuten Weg, und diese Blickachse öffnet sich zu einer Rotunde hin, die an ein Planetarium, einen Getreidespeicher, vielleicht auch einen Kirchturm ohne Kirchenschiff denken lässt. Zahlreiche schmale Pfade winden sich an Strauchgruppen entlang, zwischen Zierbäumchen und Staudenbeeten hindurch, immer weiter, vorbei an den gewölbten Buckeln großer Findlinge, nie einen Blick freigebend auf den Fluss.
Man muss die Pfade gut kennen, um bestimmte Plätze im Park finden zu können. Ich setze mich auf eine Parkbank am versteckten Teich – eine Rundmauer aus Klötzen von Grauwacke umgibt das tiefgrüne, ruhige Wasser. Seerosen, Lilien, Libellen.
Weiterschlendernd komme ich zu einer gelinden Anhöhe, wo das Parkcafé liegt. Ein Holzbau mit Sprossenfenstern; von der überdachten Terrasse aus schaut man auf die Kuppen der Sträucher und seitlich auf die Pappelallee. Das vielfarbige Bleiglas der Eingangstür wirft bunte Lichtflecken aufs Parkett im Inneren. Dort stehen, auf einem Tisch in einer Fensternische, wortlos eine weiße Kaffeekanne, eine schwarze Tasse und dazu mal ein Gebäckstück, mal eine Zeitung oder ein Buch, oft ein Blumensträußchen.
Mein dritter Verweilort im Park befindet sich unterm Dach der Rotunde, wo durch ein Gaubenfenster viel Licht und etwas Himmel hereinfallen. Der nackte Raum riecht nach dem Holz der Balken, Lehmputz und Staub. Auf den federnden, knarrigen Bodenbrettern hört man seine eigenen Schritte wie eine antike Sprache klingen und versucht sie zu verstehen. Wenn es draußen regnet und weht, ist dieser Platz am schönsten.
Es ist nicht so, dass dieser Park privat oder versperrt wäre – es ist ein ganz gewöhnlicher öffentlicher Park. Trotzdem bin ich hier ausnahmslos allein mit mir selbst. Nie treffe ich auf Menschen, weil ich mich immer in diesem bestimmten Moment dort bewege, wo andere Menschen gerade eben um die nächste Ecke verschwunden oder gerade noch nicht in mein Umfeld eingetreten sind, es ist also immer gerade niemand da, und dieses punktuelle Zeitfenster – gerade – dehnt sich, nur für mich, zu einer Ewigkeit aus. Ich kann deswegen eine Ewigkeit lang ganz für mich allein, selbstversunken, meinen heißen, schwarzen Kaffee am Tisch in der Café-Nische trinken, denn die Bedienung bringt eine Ewigkeit lang gerade ein Tablett mit Geschirr in die Küche. Usw.

Im inwendigen Park finde ich oft genug Rückzug, Rettung. Das ist kein Eskapismus – der liegt mir nicht. Wer sich verdrückt, kann nie mit sich selbst ins Reine kommen, und wer das nicht ist, kommt wiederum nie in einen solchen Park hinein. Kinder malen oder basteln vergleichbare Orte, die ein Amalgam empfindungssatter Eindrücke sind – heimelige Baumhäuser, Tiefseestationen, Höhlen, Zwergendörfer, Hausboot-Siedlungen usw. – und es ist sichtbar gesund für sie, warum also je damit aufhören, solche Orte für sich zu erfinden?
Ich stelle fest, dass die Notwendigkeit stetig wächst, mich öfters und zunehmend intensiv von der echten Welt abzukoppeln. Ich arbeite nicht in der Medizin oder für Lieferdienste oder wo zur Zeit sonst so die Post abgeht; Passivität dämpft meinen Alltag, alles verläuft so gebremst und abwartend, auch frustrierend. Würde ich nicht ab und an einen morschen Apfelbaum zerhacken oder Sperrmüll zerkleinern, dass es kracht, wären meine Tage sehr still.
Draußen in der echten Welt geht es ans Eingemachte, und ich habe keine Mittel oder Fähigkeiten, daran etwas zu verändern. Die kindliche Zuversicht ist mir abhanden gekommen. Auch die Geduld mit Leuten. Macht euren Quatsch halt alleine, denke ich oft genug – wenn mich wer sucht, ich bin im Park. Wo mich doch niemand findet, denn egal wann und egal wo ich dort bin, ist ja immer gerade niemand da…
Wie gut, dass ich stille Ewigkeiten in diesem Park zubringen kann, den es nicht gibt. Und wie bitter.


>Foto: Grebe

Veröffentlicht von

Die Beifängerin

Drittgedanke / Die Beifängerin

3 Gedanken zu „ANS EINGEMACHTE > Im Park hinter den Augen“

  1. Eine schöne Metapher ist das: allein im Park, den es – so – gar nicht gibt. Gut, dass du Worte findest, davon zu erzählen. Irgendwann müssten wir mal wieder aufhören, müde zu sein, oder?

    Like

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s