VERGANGENWELT > Steinbeck zu, Steinbeck auf

Früher gab es Amerika. Das ist eine Weile her, ich war noch in der Schule. Für meine Eltern, meine fast-pensionierten Lehrer und das Fernsehen – allesamt Zöglinge des Kalten Kriegs – war dieses Amerika der Fixstern in dunkler Nacht. Klingt blumig, war aber poesiebefreiter Polit-Kurs. Amerika bedeutete Freiheit, alles übrige bedeutete anrollende Panzer. Dabei hatte ich diese Panzer-Angst, anders als vorige Generationen, gar nicht im Leib, und doch war auch meine unbewusste Amerika-Bindung absolut, quasi naturgegeben, quasi als wäre ich selbst irgendwie ein kleines bisschen Amerikanerin – das nennt man Prägung, und wenn man kritisch ist, nennt man es Gehirnwäsche, männerklärten mir die Jungs vom Politik-LK. Den Begriff Amerika verwendete man synonym für USA, (Wilder) Westen, Beverly Hills 90210, Demokratie, freiheitliche Gesellschaft, Weltspitze, Utopia, Bill Clinton, militärische Dominanz, Fast Food und Fast-Kultur. Jenes Amerika war seine eigene Showbühne und kam in den unterschiedlichsten, jedoch stets selbsterklärenden Kostümen daher. Es bewegte sich trittsicher im Semiotischen Dreieck. Alle glaubten mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit zu wissen, was ein „echter amerikanischer Patriot“, ein „typischer amerikanischer Arbeiter“, ein „All American Girl“, die „amerikanische Jugend“ oder der „American Way of Life“ sein sollten, und diese Konstrukte sind so mächtig, dass sie nie von der vielschichtigen Realität zerstört wurden, sondern über ihr stehen. Vielmehr orientiert und misst sich die Realität sogar an ihnen, was eine Art Rückkopplungsschleife erzeugt: Der Glaube, alle AmerikanerInnen besäßen eigene Waffen, bewirkt, dass sich viele AmerikanerInnen eigene Waffen zulegen. Der Glaube, alle AmerikanerInnen könnten sich selbstverständlich kein Leben ohne eigenes Auto vorstellen, bewirkt, dass sich viele AmerikanerInnen kein Leben ohne eigenes Auto vorstellen können. Etc. Auch bewirkt der Glaube, alle AmerikanerInnen seien locker und unternehmungslustig, dass man als AusländerIn in Amerika überall diese Lockerheit und Unternehmungslust beobachtet, und der Glaube, alle AmerikanerInnen seien sportbegeistert, bewirkt, dass man die Sportbegeisterten in besonderem Maße wahrnimmt, etc. Jedenfalls – man hätte sich denken können, dass eine Gesellschaft, die mit einer solchen Vehemenz jene vereinfachenden, glorifizierenden Konstrukte wiederkäut, in der Realität eine umso diversere Gesellschaft sein muss, wo der breiten Masse kein einheitlich-einfacher Lebensalltag, geschweige denn Glanz und Gloria beschieden sind, und sicher tat man das auch, doch um in der Englisch-Klausur seine 15 Punkte zu kassieren, leierte man natürlich bloß das Amerikanische Gebet herunter, „Life, Liberty and the Pursuit of Happiness“, und fertig.
Früher also gab es einmal Amerika. Es war gemacht aus Öl und Film, Rock’n Roll und Raumfahrt, Touchdowns, Canyons, Valleys, Airlines und Autos, Tellerwäschern und Millionären, Coke, Doughnuts, Santa Claus, Bankern, Hippies, Kennedys, Backstreet Boys, Gershwin, Army, Navy, FBI, CIA, NY, LA, Rot, Weiß und Blau und unaussprechlich vielen Dingen, die mir augenblicklich vor Augen stehen; auch, und nicht zuletzt, stapelweise Steinbeck-Romane.
Wenn ich nun „Amerika“ denke, bleibt die gesammelte US-Klassik zwar mitgedacht. Nur denke ich heute kaum noch ganzheitlich: „Amerika“. Ich denke viel häufiger „Teile der USA“, „Phasen der USA“, und meine damit ein jeweils spezifisch anmutendes Amerika, das 9/11-Amerika, das Obama-Amerika, das Wirtschaftskrise-Amerika, das Trump-Amerika, das Bibel-Amerika, das Metropol-Amerika, das südliche…
Oder das Literarische-Folklore-Amerika.

Stichwort Bücher: Kennen Sie – entschuldigen Sie diese umständlichen Einschübe immer, aber kennen Sie das, wenn ein Buch Ihnen die Tür öffnet? Oft tun Bücher das ja nicht, so geht’s mir dabei jedenfalls, meist bleibt ein Buch ein nicht begehbarer Raum für mich, ich gucke von draußen zu, was darin passiert, welche Leute, Dinge, Stimmungen in dieser durchsichtigen, aber geschlossenen Kapsel einander umwirbeln, und ich denke mir meinen Teil dabei, so als Beobachterin. Ich trete nicht ein. Mit Malerei verhält es sich ähnlich: Da sind viele Bilder, die ich gerne betrachte, sehr viele, aber nur die wenigsten betrete ich.
Es ist mühsam zu erklären, was genau dieses Betreten meint. Am ehesten lässt es sich vielleicht so schildern: Aus einem Buch oder Bild heraus ruft es nach Ihnen, und Sie gehen dem ohne zu zögern nach, denn es ruft wie etwas Vertrautes, und überall darin empfinden Sie, dass sich Ihre seelischen Verhältnisse glatt einfügen in das, was Sie da betreten haben, Sie können sogar alles anfassen, alles riechen, und Sie staunen nicht einmal darüber, es ist wie selbstverständlich.
Interessant ist, wie vollkommen unabhängig vom jeweiligen Inhalt das geschieht: Ich war nie am Mississippi, erst recht nicht um 1840 herum, das macht gar nichts, Huckleberry Finn war der erste Romanmensch, die mich an der Hand packte und zu sich hin zog, durch eine plötzlich geöffnete Tür ins Andere hinein, ich meine, ich las nicht bloß von seiner Floßfahrt, sondern lag selbst tagelang da, auf dem rauen Holz, schwankend, haltlos, trotzdem selig.
Ich hatte nie solchen Zutritt zum TKKG-Internat, zu Hogwarts und Mittelerde, nicht zum Zauberberg, nicht zum Dublin von Leopold Bloom und Stephen Dedalus, nicht zu Ulrichs und Agathes Wohnung in Kakanien. Aber ich wohnte in Krabats Mühle, auf John Kaltenbrunners Farm, in Rock Oldekops Heimatort; ich saß in Murphys Schaukelstuhl und neben Ernst Schnabel im Flugzeug; Julio Cortázars Rayuela-Paris war mir echter als das echte Paris; nach jedem Betreten von Cormac McCarthys neo-alttestamentlicher Westernwelt war ich halb verdurstet; auch Herta Müllers Häuser, Wohnungen, Arbeitsräume im zutiefst lebensfeindlichen Ceaușescu-Rumänien, wo ich kaum Luft bekam, öffneten mir stets sämtliche Türen, warum auch immer.
Solche Türen bleiben indessen nicht zwingend geöffnet. Es gibt Bücher, die ich, weil ich sie betreten habe, fortan wie Talismane mit mir herumschleppe, auf ewig, die überstehen jeden Umzug, und doch schließt sich mitunter einmal einer ihrer Zugänge. Ehe man sich’s versieht, passt man plötzlich nicht mehr durch. Warum auch immer.

In meiner Schulbibliothek damals stand meterweise John Steinbeck auf Englisch herum, in Klassensatzstärke, was andeutete, dass man im LK wohl nicht um den herumkäme. Ich deckte mich achselzuckend damit ein, Of Mice and Men, East of Eden, Cannery Row, The Grapes of Wrath, Tortilla Flat, verlor allerdings in Rekordzeit den Spaß an der Sache.
Einzig Cannery Row verfing bei mir, dafür umso gründlicher.
Ein Millieu-Roman, angesiedelt irgendwann in den 1920ern, im prekären Hafenviertel von Monterey: Doc, der zupackende, hilfsbereite Schöngeist und ewige Junggeselle, führt ein meeresbiologisches Institut im Ein-Mann-Betrieb und wohnt praktischerweise auch gleich im Labor. Macks Clique von abgerissenen Tagelöhnern plant, als Dank für allerlei Hilfe finanzieller und medizinischer Art, für den ehrbaren Doc eine Überraschungsparty zu schmeißen – was leider bös aus dem Ruder läuft. Ein zweiter Anlauf soll Wiedergutmachung leisten. Die Damen aus Doras Bordell helfen mit; Lee Chongs Lebensmittelladen liefert Deko und Getränke. Alle leben sie als Nachbarn auf der Küstenstraße und gleichen sich in ihrer Armut, Zähigkeit, sozialen Randlage.
Es war natürlich seine Warmherzigkeit, damit hatte Steinbeck mich, und dafür liebe ich ihn noch, all seinen Figuren ließ er sie angedeihen und ich fühlte mich wohlig inbegriffen. Ich wohnte also in Monterey, direkt am Hafen, in der Straße der Ölsardinen (so der deutschsprachige Titel), in diesem vergangenen, nostalgischen Bilderbuch-Amerika, ich wohnte in Docs Haus-und-Labor und jobbte bei Bedarf in einer der vielen Fabriken für Fischkonserven. Es war wundervoll. Kalifornien! Der Pazifik! Dieses lockere, gleichzeitig hartgesottene Leben, ach!
Was ein Kitsch!
Heute komme ich nicht mehr in die Cannery Row hinein. Die Grobheit der Dialoge und der Zustände sorgt zwar dafür, dass der Roman nicht ins Rührselige kippt, aber mit meinem jetzigen Gemüt sehe ich die ganze Ansammlung nostalgischen Plunders, die Romantisierung von Armut, Prostitution, Kleinkriminalität, die Verniedlichung von Suff. Was man Steinbeck gar nicht zum Vorwurf machen kann – er hat’s ehrlich gut gemeint. Außerdem war eine große Portion romantische Menschenfreundlichkeit mit Sicherheit etwas, was die Welt im Veröffentlichungsjahr 1945 dringend brauchen konnte.
Ich miste derzeit wieder einmal Bücher aus, aber von der Cannery Row trennen würde ich mich nie. Latentes Heimweh nach meiner abstrakten WG mit Doc. Und immer noch finde ich darin ja Tröstliches, Schlaues, Hübsches:

Als Doc auf der Universität Chikago [so steht’s in meiner deutschen Ausgabe von 1953] studierte, hatte er eine unglückliche Liebe, war außerdem überarbeitet und begab sich daher mit Stock und Rucksack auf Wanderung, lief endlose Wege durch Kentucky, North Carolina, Georgia bis Florida, traf Farmer, Fischer, Gebirgler und Sumpfbewohner, kurz: Menschen aller Art, und alle fragten ihn, warum er so durch die Gegend renne. Als wahrheitsliebender Jüngling erklärte er, er sei nervös und wolle gern das Land sehen, das Gras, die Bäume und Vögel, den Duft der Erde atmen und sich an der Landschaft ergötzen. Da ärgerten sich alle, weil er die Wahrheit sprach. Die einen schimpften, andere tappten sich mit dem Finger vor die Stirn, wieder andere kniffen ein Auge zu, als durchschauten sie ihn. Er wurde für einen Schwindler gehalten. Besorgt um seine Töchter, Schweine oder Hühner, wies ihm so mancher die Tür und riet ihm, sich nie wieder blicken zu lassen. Darauf gab der junge Doc der Wahrheit den Laufpaß und erzählte jedermann, der es wissen wollte, es handle sich um eine Wette: um hundert Dollar! Das glaubten ihm alle, und er war überall, wohin er noch kam, beliebt. Man lud ihn zum Abendbrot und zum Übernachten ein, setzte ihm morgens ein gutes Frühstück vor, wünschte ihm glückliche Reise und fand, er sei ein Prachtmensch. Noch immer liebte er die Wahrheit, aber sie war, das wußte er jetzt, als Geliebte gefährlich.

Während Steinbecks Ton in Die Straße der Ölsardinen erfolgreich die Waage hält zwischen pastoral und salopp, tönen die Früchte des Zorns vollends biblisch, was mich im ersten Lese-Anlauf, zu Englisch-LK-Zeiten, vollends abgeschreckt hatte. Zuletzt hatte ich den 500-Seiter vor gut drei Jahren in die Hand genommen, in der Erwartung kalten Kaffees, wollte ihn eigentlich nur aussortieren und blieb dann doch dran hängen: Da stand, warum auch immer, die Tür offen.
Oklahoma, 1930er Jahre: Während Farmersfamilien ohnehin nur kümmerlich von ihren Erträgen leben können, verwandelt eine Umweltkrise die Großen Ebenen zur Dust Bowl, Trockenheit und Bodenerosion verursachen vernichtende Staubstürme. Zudem verschärft die Weltwirtschaftskrise die finanzielle Not der Landbevölkerung. Pachtverträge zu erfüllen gestaltet sich für viele unmöglich, es folgt eine Enteignungswelle. Die Existenznot treibt Menschen aus Oklahoma und den angrenzenden Staaten, die der Großen Dürre ausgeliefert sind, in Scharen gen Westen, auf der Suche nach Unterkunft und Arbeit. Unter ihnen die Familie Joad, einfachste Bauern, anständige Leute – dass Sohn Tom gerade im Gefängnis war, ist eher den allgemeinen Umständen geschuldet, sicher nicht seinem Charakter, nein, oder höchstens ein bisschen. Nun, der Familie bleibt nichts als eine Handvoll Habseligkeiten – und (natürlich, der amerikanische Mythos schlechthin) ein Auto. Auf dem Treck, dem Sonnenuntergang entgegen, begleitet Steinbeck sie Woche um Woche, Monat um Monat. Tatsächlich war Steinbeck mit ganz ähnlichen Familien wie den Joads unterwegs auf dem Migrantentreck quer durch die USA, ein guter Teil des Romans hat lupenreinen Reportage-Charakter. Überall schimpft man über die „Okies“, auf offener Straße sind sie ungehemmter Feindlichkeit ausgesetzt, sie beziehen Dresche, sie leiden Hunger, es folgen schlimmere Dresche, schlimmerer Hunger, zunehmende Verzweiflung, Kranke, Tote, leidende Kinder. Als die Joads den Weg in ein Auffanglager finden, wo es Sanitäreinrichtungen und eine Gemeinschaftsküche gibt, schimmert kurzzeitig Hoffnung auf; Tochter Rose, gerade schwanger, bekäme medizinische Unterstützung. Aber auch dort ist kein Bleiben. Ein quälendes Jammertal, wirklich, es verkrampft einem die Seele beim Lesen.
Warum mir das vorher nicht sonderlich zugänglich gewesen war, liegt vielleicht am ehesten darin begründet, dass es hier keine Zentralfigur gibt, die mich Teenagerin hätte Huckepack nehmen können, sondern es ist ein Kollektiv, das da im Mittelpunkt des Erzählens steht: The Grapes of Wrath ist im wahrsten Sinne ein Familienroman. Die Nöte einer Schwangeren, die stumme Angst einer Mutter usw., mit 17 konnte ich mich nicht hineinfinden in dieses Zeug. Heutzutage möchte ich jeden einzelnen Joad umarmen, manchmal auch schütteln, je nachdem – wie das nun eben so ist mit Familienangehörigen.
Noch wichtiger ist die unerschöpfliche Thematik.
Nachdem die zweite Hälfte des 20.Jahrhunderts im Westen die Überwindung jener Zustände versprach, die seine erste Hälfte bestimmt hatten, hätte man sich beinahe einreden können, die Great Depression sei bloß noch eine Schauergeschichte aus der Historie, nichts weiter. Aber spätestens, als im Zuge der Wirtschaftskrise seit 2007 Bilder von amerikanischen Familien durch die Nachrichten kreisten, die ihre Häuser verloren hatten und nun in ihren Autos wohnten, aßen, schliefen, die keine Kranken-versicherung besaßen, von Ort zu Ort tingelten, sich an jeden Strohhalm klammerten, wurde deutlich, wie abrupt Systeme kippen und Notlagen ausbrechen können, auch im Westen.
Diese Bilder hatte ich ständig vor Augen, als ich den Roman dann doch las, und noch wuchtiger schoben sich die Bilder von den Trecks syrischer Familien in den Blick, die ohne Habe, ohne Schutz, ohne Hilfe nach Westen unterwegs waren und sind, immer nach Westen. Die Auffanglager. Der schäbige Umgang mit diesen Menschen.
Als die Jugoslawien-Kriege begannen, war ich klein, aber ich erinnere mich, dass wir auf einen Schlag viele Kinder in unsere Schulklasse bekamen, die „von da“ gekommen waren, in ähnlichen Trecks – wie sind wir damals mit ihnen umgegangen?
Die Joads wollen nach Kalifornien, hoffen, Arbeit in den Obstplantagen zu finden, wo viele der Vertriebenen unter ausbeuterischen Bedingungen schuften, weil sie eben keine Wahl haben – in Spaniens Obst- und Gemüseindustrie arbeiten heute MigrantInnen, vorwiegend aus Afrika und auf der Suche nach Europa, unter vollkommen unwürdigen Bedingungen.
Sobald sich die „Okies“ organisieren, bessere Arbeits- und Unterkunftsbedingungen erstreiten wollen, kommen die Schlägertrupps, die Polizei, sofort geht es an die Ausrottung „kommunistischer Umtriebe“ – auch dieses Kommunismus-Geraune ist zurückgekehrt, wo unsere bestehenden Systeme doch vermehrt kritisch überdacht, an der Zukunft gemessen, gescholten werden, und Demagogen träumen längst wieder von Hexenjagden auf „die Roten“.
Die nicht vorhandenen Sozialsysteme, die Mechanismen des Wirtschaftssystems werden hier von Steinbeck klar als Ausdruck von Menschenverachtung benannt. Familie Joad schaut zu, wie in den kalifornischen Fruchtplantagen vor der Nase hungerkranker Menschen die Über-Ernte (tadelloses, gesundes Obst) vernichtet wird, um die Obstpreise stabil zu halten – Überproduktion, Verteilungsungerechtigkeit, auch das kennen wir.
Und in Zeiten der Klimakrise versteht man die geschilderten Dust-Bowl-Stürme, die Wüstenbildung infolge von Überbewirtschaftung plötzlich nicht mehr als einen Rückblick auf die primitiven Anfänge der Agrarindustrie, sondern als einen Ausblick auf unsere nahe Agrarzukunft.
Binnen der letzten zwei, drei Jahre jedenfalls hatte ich angesichts unterschiedlichster Nachrichtenlagen kein Buch so häufig im Sinn wie The Grapes of Wrath. Der biblische Ton, die Anklänge an die Große Dürre und den Exodus wirken nun, da die plastikbunten und bewusstlos-spaßigen Loveparade-Jahre lange hinter uns liegen und sich heute vieles um Bewusstwerdung dreht, nicht mehr so sehr aus der Zeit gefallen. Und die zentrale Diskussion von Nächstenliebe als Notwendigkeit des Menschlichen ist neuerlich drängend.
Mal sehen, was dieses Buch im Brexit-Europa, im Biden-Amerika und vielleicht ja einmal im Harris-Amerika so zu sagen haben wird.


>John Steinbeck, Die Straße der Ölsardinen (engl.: Cannery Row)
>John Steinbeck, Früchte des Zorns (engl: The Grapes of Wrath)


>Foto: Grebe

Veröffentlicht von

Drittgedanke

Buntgegenstände / Drittgedanke / Die Beifängerin

12 Gedanken zu „VERGANGENWELT > Steinbeck zu, Steinbeck auf“

  1. Du lieferst viel Nachspuer- und Nachdenkstoff. Manches ist mir sehr vertraut, wie eben der Mississippi, zusammen mut Tom und Huck, sie speisten auch bei mir eine lange anhaltende Phantasie. New Orleans wurde zum Sehnsuchtsort, auch wegen seiner Musik. Nun, wir werden älter, Sehnsuchtsorte verwandeln sich, aber dann dringt plötzlich Gestriges in Heutiges ein, legt sich darüber.

    Steinbeck habe ich nie gelesen, obwohl er in meiner Kindheit und Jugend im Bücherschrank stand. Jetzt bin ich tatsächlich neugierig geworden!
    Liebe Grüße
    Ulli

    Gefällt 1 Person

    1. Hier in Lüneburg gibt’s immerhin einen Bronze-Twain auf einer Bronze-Bank an der „Brause-Brücke“, wo der Fluss durchrauscht, und wenn man sich dort setzt, kann man sich notfalls vorstellen, die Ilmenau sei ein bisschen wie der Mississippi… New Orleans ist auch so eins meiner Fernweh-Ziele.

      Gefällt 1 Person

  2. Wie wunderschön du über Bücherl ihre Bedeutung und ihre Wirkung schreibst. Großartig. Und es passt gerade heute ganz wunderbar, da ich Steinbeck vorgestern aus dem Bücherregal geholt habe um ihn wieder zu lesen. Ich beginne mit den Erzählungen der rote Pony, werde aber ganz sicher die meisten anderen in den nächsten Wochen auch wieder lesen. Liebe Grüße

    Gefällt 2 Personen

    1. Dankeschön!
      Gelegentlich ein bisschen Bruce Springsteen dazu zu hören, wenn man mag, schadet auch nicht. (Ich hab beobachtet, dass sich die Steinbeck-Leser und Springsteen-Hörer oft überschneiden, was mich auch gar nicht wundert.) Es gibt ein ganzes Studioalbum von Springsteen, das sich mit Sozialkritik befasst und von Steinbecks Romanen angeregt wurde, „The Ghost of Tom Joad“.

      Gefällt 2 Personen

      1. Irgendwie hatte ich beim Lesen öfter Rage Against The Machine im Ohr, die den Springsteen ziemlich zornig vertont haben.
        Leseeindruck ist schon etwas verhallt: Ich erinnere mich noch sehr an die Sprache mit ihren grammatikalischen Eigenheiten. Für mich mitunter schwer zu lesen, aber irgendwie riss es mich noch umso mehr mit.
        (und mitten in diesem in mir aufgewühltem Zorn: lief da nicht auch noch immer eine Schildkröte mit als Kontrapunkt – oder war das nur in einem Kapitel?)

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      2. Ja, da kriecht eine Schildkröte über die Straße, reichlich mühsam, vom Straßenverkehr ins Visier genommen, und man denkt, das wird nie was, aber das zähe Ding schafft es natürlich doch. Aus dem Kapitel tropft die ganze Mühsal der Welt. Und die Sprache: Der Slang, die Verschleifungen machen’s einem schwer. Im Englischen deswegen, weil ich da mit meinem Schulenglisch kaum vorankam – das fing schon damit an, dass die Tochter konsequent „Rosasharn“ genannt wird und es wirklich dauerte, bis mir aufging, dass ihr Taufname „Rose of Sharon“ lautet. Und in der Übersetzung, weil die arg konstruierte Umgangssprache in den Dialogen nie so recht zum flüssigen Singsang wird, immer etwas holprig bleibt, und dann werden den Südstaatlern auch noch an ein, zwei Stellen so eher süddeutsche Ausdrücke in den Mund geschoben, na, es wirkt alles nicht so gelungen.
        Der Tom Joad von RATM ist heute irgendwie ideal als Soundtrack zur Mexikanischen Grenze, find ich.

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  3. Ich habe mir heute extra Zeit genommen für deinen langen Text und habe es nicht bereut. Das alte Amerikabild hast du wunderbar beschrieben. Bei mir wären noch Lassie und Timmy dazu gekommen, Flipper und Porter Rix. An „Früchte des Zorns“ habe ich mich nie herangetraut, weil ich aus eine Flüchtlingsfamilien stamme, die, die von den Panzern vor sich hergetrieben wurden. Aber die Parallelen zu heute sind von dir klar gezogen. Vielleicht hilft die alte Geschichte ja wirklich dabei, zu verstehen, wo wir heute stehen (obwohl ich das gar nicht wahrhaben will.

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