VERGANGENWELT > Should auld acquaintance be forgot?

Dieses Jahr (schon wieder dieser Texteinstieg) ist es 20 Jahre her, dass mein kleiner, provinzgymnasialer Englisch-LK, angeführt von meinem nun seit 19 Jahren pensionierten Tutor, eine Kursfahrt nach London unternahm. Dieses Mal nicht, wie bei Schulausflügen üblich, mit dem Tourbus des örtlichen Musikzugs und unserem Schulhausmeister (im Privatleben Musikzugsmitglied) als Fahrer, sondern mit modernem Reisebus. Mein Tutor hatte uns im selben Hotel eingebucht, wo er zuvor schon jeden anderen Englisch-LK untergebracht hatte, schaffte uns schlafwandlerisch dorthin und absolvierte in den folgenden Tagen, mit derselben Routine, das unveränderte, weil bewährte Programm aller zuvor schon absolvierten Kursfahrten. British Museum, Stadtführung, Hyde Park, Theaterbesuch, dazwischen festgelegte Zeiten für selbst organisierte Gruppenaktivitäten der SchülerInnen (Freizeit).
London gefiel mir wirklich: Liebe auf den ersten Blick. Es war das Licht, es war dieser Himmel. Ich wollte nie wieder weg. Es war die Art, wie die Kassiererinnen einen grüßten – wenn ich ihnen das Kleingeld passend gab, sagten sie „Lovely!“ („Luwwleh!“). Und wie die Leute, die man in der unruhigen Tube versehentlich anrempelte, von sich aus „Pardon me“ sagten, um den ganzen Vorgang völlig gleichgültig zu beenden. Es war der Singsang all dieser Stimmen. Die Geschäftigkeit, die so viel größer als in Hamburg oder Berlin war und mir doch so viel weniger kochend als hierzulande vorkam – nicht freundlicher natürlich, denn Großstadt ist per se nie freundlich, aber nüchterner, gedämpfter, beherrschter. Es waren die Ziegel der Häuser, die rußfarbenen Schattierungen im Gefieder der Tauben, das ölig-ruhige Fließen der Themse. Die bellenden und predigenden Schreihälse der Speaker’s Corner im Hyde Park. Das Miteinander von Schrulligkeit und Strenge, so eine durchaus hanseatische Städte-Eigenart. Es war – und das war schon immer das einzige, also entscheidende Kriterium für mich, um Leute einzuschätzen – dieses spezifische Spektrum von Lachen, was sich hier abzeichnete und von mir für angenehm befunden wurde. Ich beguckte mir London so verknallt, wie zuvor und danach eigentlich keine andere Stadt, höchstens Delft.
Am Abreisetag gab es noch etwas Freizeit; das große Gepäck war schon im Reisebus verstaut, an dem wir uns gegen Nachmittag zum verabredeten Zeitpunkt einfinden sollten. Drei Stunden vor Abfahrt wurde mir in der Tube, aus dem Rucksack heraus, mein Portmonee samt Personalausweis und Führerschein geklaut. Auch mein U-Bahn-Ticket war damit futsch, also musste ich zunächst über die Drehkreuze in der Oxford Circus Station klettern – meine Freundin, die mit mir unterwegs war, musste Schmiere stehen – und mich danach zur nächsten Wache des MPS durchfragen, das war die West End Central Police Station. Dort herrschte Vollbetrieb: Bunte Figuren wurden in verschiedene Räume begleitet, kreischende Damen, deren asiatische Reisegruppe von einem Taschendieb kollektiv beklaut worden war, belagerten die Anmeldung, unzählige Officers in diesen geschniegelten Uniformen bzw. Kostümchen, auf den Köpfen diese schwarzen Caps mit karierter Borte, düsten hin und her. Wir verbrachten ein bisschen Zeit in einem Befragungsraum – hier musste meine Freundin als Zeugin für meine Identität herhalten -, während ein ausgesucht höflicher, freundlicher, gut gelaunter Officer Formulare mit mir durchging und herumtelefonierte, um Ausweisersatzpapiere für mich fertigzustellen. Er bemühte sich, meinen Mädchennamen auszusprechen, entschuldigte sich, als es ihm auch im dritten Anlauf nicht recht gelang, mich korrekt und verständlich (mit diesem Zungenbrecher) anzureden, es sei ihm peinlich, nun: ob ich es ihm verzeihe, wenn er die Anrede auf Miss verkürze? Er erklärte mir dann, falls ich unerwartet, aber immerhin möglicherweise länger bleiben müsse, bekäme ich miesen Kaffee, aber gute Kekse und die schönste Arrestzelle Londons. Ich antwortete, mir gefiele die Vorstellung in London zu bleiben durchaus, und ich bedankte mich für seine Bemühungen. Der Officer rückte seine Brille zurecht, faltete seine Hände überm Gemütlichkeitsbäuchlein, sagte: selbstverständlich, und: sehr freundlich, Miss. Abschließend bekam ich einen förmlichen Schrieb mit vielen hübschen Stempeln. „If you get through with this, you owe me a drink. Eh, just kiddin‘! BTP [British Transport Police] guys will prefer to let you pass through, otherwise they’d have to look after you. Well, it’s been a pleasure to help you, Miss.“ Mein schöner Schrieb blieb aber unbegutachtet, bei unserer Abreise machte sich niemand am Fährterminal die Mühe einer Kontrolle.
Ich räume zur Zeit viel auf, und ich höre dabei viel Radio. Briten, Brexit, Barnier – irgendwann wird’s nach langen Jahren auch einmal wieder Radioprogramm ohne diesen Dreiklang geben. Seltsam, nicht? Beim Aufräumen also und unter leichtem Brexit-Weh ist mir dieses Papier wieder in die Finger gekommen. Mit meinem Mädchennamen drauf, du liebe Zeit, wie seltsam das heute zu lesen ist. Und mit Kursfahrt-Erinnerungen dran. Da war so ein Freizeit-Tag gewesen, an dem meine Freundin und ich mit der Tube einfach mal Richtungen abklapperten – mal hier aussteigen, mal da, verschiedene Stadtteile in den Zentral- und Randlagen erschnüffeln, stichprobenartig natürlich, viel zu groß diese Stadt, natürlich. Wunderbar. So viel Glanz und Schrott, so viele Menschen, so viel Ruhe und Krach, Rost, Farbe, Nippes, Kunst, Gerüche, Essen, Dreck, Enge, Futurismus, Nostalgie, Menschen, Industrie, Verkehr, Menschen, Technik, Edelholz, Backstein, Beton, Menschen, Filigranes, Grobes, Menschen, Bilderbuch-Kolorit, Spielfilm-Chic, Postkarten-Prunk, Menschen, ach! In meinem Kopf sieht London unverändert so aus, ist es noch immer dieses London, Oktober 2000, nichts zu machen. Ich war nur einmal dort. Heute ist dieses London in einigen Teilen verschwunden, im Gesamtbild verändert, denn 20 Jahre Immobilienboom, Stilwandel, Branchenumbrüche usw. gehen an keiner Stadt der Welt vorbei, ohne sie umzupflügen. Damals hätte ich mehr fotografieren müssen, es ist wirklich schade drum, und ich hätte ja wirklich mehr fotografieren wollen, nur, wissen Sie, leider war mein Farbfilm alle. There, there.


>Fotos: Grebe, 2000

Veröffentlicht von

Die Beifängerin

Drittgedanke / Die Beifängerin

8 Gedanken zu „VERGANGENWELT > Should auld acquaintance be forgot?“

  1. Welch wundervoller Text! Wenn ich dran denke, schreibe ich auch mal was auf über meine erste Londonreise im Jahr 1995. Ich war danach noch ein paarmal dort, immer anders, immer toll, bin über den sogenannten Brexit immer noch empört.

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  2. So viele wunderbare Worte über die Briten und diese Stadt, mit der ich nie warm geworden bin. Die Beschreibung des Polizisten trifft den Charakter der sich jetzt im Brexit Bahn bricht und dem ich als Reisender und später als Praktikant oft begegnet bin: Höflichkeit und Großzügigkeit vorderhand und dahinter der unbedingte Wille, dich los zu werden, sobald du irgendwie zur Last werden könntest.

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    1. Aber ist das nicht überall verbreitet? Ich finde, generell sollte man Sympathie, Vertrauen und Wärme-Aufwendungen eher sparsam und bedächtig vergeben und nicht auf Erwiderung wetten, so lebt sich‘s besser, egal wo. Aber es ist doch interessant, wie man so ein bestimmtes Gespür für Leute-andernorts ausprägt – ein bestimmtes Temperament wirkt da auf einen ein und verträgt sich mit dem eigenen oder auch nicht: ein Resonanzgewächs ist das. Und je mehr Alltagskontakte, desto breiter und vielschichtiger die Resonanz. Übrigens: Paris, wo ich ein paar Wochen danach mit zwei Freundinnen zum ersten Mal hinfuhr, empfand ich sofort als abweisend, brutal, kalt, erstickend, erdrückend, ja, physisch unangenehm, bedrohlich. Wie kommt so was? Dass man sich in einem vollkommen fremden Umfeld mal grundlos wohlfühlt, mal grundlos abgestoßen fühlt?

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      1. Da sind die good Vibrations 😉 Paris fand ich auch sehr abweisend obwohl ich da frisch verliebt ein paar Mal hingefahren bin. St.Petersburg dagegen und Barcelona waren wunderbar. Was für mich die Frage aufdrängt: Wenn dir London so gefallen hat: Warum bist du dann nie wieder hin?

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      2. Kein Geld, keine Zeit! Und später mit Kind wollte ich eh viel lieber woanders hin – in London möchte ich unbedingt allein herumstromern, sonst macht‘s auch keinen Spaß. Barcelona fand ich auch sehr wohlig. Eine Stadt, wo man am besten mit Freunden Zeit verbringt, feiern und essen geht; Barcelona ist zusammen schöner als allein.

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  3. Wunderbarer Text, den ich gerne gelesen habe und der meinerseits allerlei Erinnerungen aufsteigen ließ – an meine London-Aufenthalte als Schüler im London der siebziger. Um 2000 herum war ich dann wieder da und erkannte es kaum. Es muss 1978 gewesen sein, da wurde in Paddington Station mein Rucksack geklaut. Das Gespräch mit dem Kriminalbeamten verlief dann nicht so nett wie deines, er war einfach nur genervt von einem grünschnabeligen Touristen, ich ziemlich verschreckt. Danach habe ich zig Telefonboxen abgeklappert auf der Suche nach einer funktionierenden. Hinzukam, dass die Briten dieses krude System hatten, wonach man zunächst wählte, und erst wenn die Verbindung zustandegekommen war – man seinen Text aufsagen und sich verständlich machen musste – die dicken Münzen in Windeseile in den Slot gesteckt werden mussten. Dafür hatte man gefühlt drei Sekunden Zeit – regelmäßig zu wenig, um die durchplumpsenden Münzen erneut in den Schlitz zu bugsieren. Fing man also wieder von vorne an. So lief ich durch London mit dem einzig mir verbliebenen Hab und Gut – einer frisch erworbenen King-Crimson-Platte, die ich in einer Plastiktüte bei mir hatte, als der abgestellt Rucksack stiebitzt wurde. Es ist noch heute meine Lieblingsplatte. Unvergessen auch ein Konzert in der Royal Albert Hall im Rahmen der Proms. Danach schaffte ich es nicht mehr rechtzeitig in die Jugendhergerge am Rande der Stadt in Epping Forrest und legte mich zunächst in den (berühmten) Wald zum Schlafen – es war ja Sommer – bis die gespenstische Dunkelheit Panik aufkommen ließ und ich mit einer harten Holzbank im Vorstadtbahnwartehäuschen vorlieb nahm. So Sachen halt.

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  4. Du liebe Zeit, im Park übernachtet! Solche Geschichten halten natürlich ein Leben lang!
    Ich besitze heute noch die roten Schuhe (obwohl längst hoffnungslos aus der Mode gekommen – ich warte weiter aufs Revival dieser etwas zu rundlichen Lack-Pumps), die ich von meinem Geld gekauft hatte, kurz bevor mir selbiges gemopst wurde. Ich habe sie kaum getragen, fand sie vor Ort zwar sehr hübsch und den Kauf absolut nicht abwegig, zuhause wirkten sie allerdings plötzlich arg entzaubert, wie eine Bar am Tag oder eine Qualle an Land, tja. Ansonsten hatte ich Filme eingekauft – auf VHS-Kassetten! Um englischsprachige Filme sehen zu können!

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