Dieses Jahr (und wenn Beiträge hiermit beginnen, folgt zunächst einmal Ermüdendes, Sie kennen das, ich auch, es tut mir leid) wurde in der weitgefächerten Berichterstattung über allerlei Pandemie-Begleiterscheinungen eine Personengruppe freilich nicht übergangen: mitteleuropäische Menschen, die unter Reise-Entzug litten. Keine Billigflieger und All-Inclusive-Angebote mehr, keine Übersee- und Städte-Trips, kein – na, usw.
Wie vielstimmig man insbesondere zur Sommerzeit über gestrichene Reisen jammerte, war für mich nur einer von vielen Augenöffnern, die mir 2020 beschert hat. Welche Vehemenz, mitunter auch Arroganz da den Ton bestimmte – man konnte glatt glauben, ein Leben ohne ein bis drei Urlaubsreisen pro Jahr sei kein menschenwürdiges.
Ich wäre zuvor nicht darauf gekommen, in welchem Ausmaß es offenbar ganz normal ist, regelmäßige Urlaubsflüge, Hotelaufenthalte, Wellness- oder Shopping-Wochenenden, Erlebnisreisen, na, usw., zu unternehmen; d.h. ich wäre zuvor nicht darauf gekommen, wie primitiv mein eigenes Urlaubsverhalten wohl zu nennen ist. Wenn man in Jahren, wo es zeitlich und finanziell mal möglich ist, die Familie für ein paar schöne Tage ins Mittelgebirge oder an die Nordsee karrt, z.B. um sich von einer OP zu erholen – auf welcher Stufe steht so etwas eigentlich in der Hierarchie unser aller Urlaube?
Was heutzutage so alles Urlaub ist, war bis ins vergangene Jahrhundert hinein freilich undenkbar. Es gab die Sommerfrische der Adligen. Kuraufenthalte. Die charakterförderliche Grand Tour für junge Herren von Welt. Die gutbürgerliche Bildungsreise. Massentourismus war kein Begriff; was ehedem Massen von Menschen dazu brachte, die weite Welt zu sehen, waren eher der Beruf oder die Not: kaufmännische Unternehmungen, Seefahrt, Wanderarbeit, Heer, Marine, Auswanderung.
Die Demokratisierung des Erholungs- oder Erlebnis-Urlaubs ist ja gar nicht so alt – und doch lässt sich bereits sagen, dass dieses Modell nicht eben in Würde altert: Auf die mitunter überdüngten Blüten, die unser Urlaub-für-alle getrieben hat, schaut man zunehmend kritisch. Nicht nur, dass der Ausstoß unserer Reise-Vehikel die Erderwärmung kräftig mitbefeuert. Es ist auch nicht falsch, sich angesichts offenbarer Übersättigungseffekte so einige Gedanken zu machen: Haben viele Gastgeber-Orte, obgleich sie davon leben, die Touristenschwemme samt deren lokalen Nebenwirkungen auf Natur, Immobilienmarkt etc. inzwischen nicht satt? Und gewinnt man nicht auch häufig den Eindruck, die Urlaubsgäste selbst hätten ihre überlaufenen Ferienorte bzw. den Wettbewerb ums avantgardistischste Urlaubsziel abseits uncool-überlaufener Ferienorte inzwischen ebenso satt?
Aus lauter Herbst-und-Wintermüdigkeit habe ich mich zwischendurch auf einen Reisebericht gestürzt, der nach Nordafrika führt. Lesend reisen, das funktioniert ja nach wie vor. Auf dem Papier stehen einem die unzugänglichsten oder unerschwinglichsten Reiseziele offen, noch dazu vermag man sich nicht bloß räumlich, sondern auch zeitlich in beliebige Richtungen zu bewegen.
Ich, Buchtouristin, wollte Ferne – im Sinne von Süden, und im Sinne von Abstand. Mal an was anderes denken. „Der Charme von Marokko“ lautet der ortsverliebte Titel der Reise-Eindrücke (der Verlag Kupido wählte hierfür den etwas deutlicher literarisch angehauchten Ausdruck „Travelogue“) der 22jährigen Sofia Yablonska: Die alleinreisende Ukrainerin zog es 1929 ins französische Protektorat Marokko, um dort für längere Zeit zu bleiben, ausgerüstet mit eigener Kamera, Schreibzeug und haufenweise Lebenslust. Nachdem sie im Paris der 20er eine Weile lang als Model selbst vor Kameras gestanden hatte, startete sie von Marseille aus ihre Überfahrt nach Nordafrika und erreichte schließlich Marrakesch, wo sie besondere Erlebnisse in episodischen Schilderungen niederschrieb und Menschen und Alltagsszenen fotografierte.
Diesen Fotografien gönnt der Verlag viel Platz, und sie schmücken das Buch ungemein, während die Textblöcke mit ihren dezent verzierten Kapitelüberschriften und ornamental gemusterte Trennblätter das ihrige zur hübschen Gesamtgestaltung beitragen. Dabei erscheint mir die elegante Optik fast zu gezügelt, denn inhaltlich und sprachlich sucht Yablonska stets das Euphorische, Überbordende, Romantische. Nein, um Sachlichkeit geht’s hier wenig. Das macht gleichermaßen den Reiz wie den Mangel dieser Texte aus. Einerseits sprüht aus ihnen die ansteckende Lebendigkeit ihrer Verfasserin, andererseits gerät der Schauplatz, dieses vergangene Marokko, das mir durch manche der Fotos näher kommt, insgesamt zu einer eher ins Märchenhafte entrückten Kulisse, deren historische Verlässlichkeit auf mich unklar wirkt. Zum Reise-Auftakt, in Marseille, beschreibt Yablonska bettelnde Kinder, nörgelnde Touristen und das eigene Reisefieber. Mit der Überfahrt kommt noch größerer Überschwang. Streunergänge durch die Altstadt, Marktszenen, Feuerschlucker, Schlangenfresser. Ein Kaid (ein maghrebinischer Würdenträger) lädt Yablonska zu Gesprächen in sein Haus ein, wodurch sie Einblicke ins privatere lokale Alltagsleben gewinnt. Anders als ihre männlichen Zeitgenossen darf sie sogar einen Harem betreten, der abgeschotteten Gruppe von Ehefrauen einen Besuch abstatten, um ein wenig zu plaudern. Mit Auto und Fahrer unternimmt sie eine Spritztour über die Protektoraktsgrenzen hinaus, wo die Araber und Berber ihre Gebiete verteidigen und das Auto schon bald durch einen Kugelhagel rast.
Menschen, Tiere, Sensationen. Nun mag sachliche Reportage das erklärte Nicht-Ziel Yablonskas gewesen sein und Abenteuerlichkeit eben der Kern ihrer 22jährigen Sehnsucht, warum auch nicht?
Und sonst so? Yablonska kritisiert offen die Arroganz ihrer französischen Kontakte gegenüber den Einheimischen, und sie lästert ausgiebig über die Herden von westlichen Bildungstouristen – sich selbst erhebt sie allzu großzügig über dieses Niveau und erliegt unterdessen einer Versuchung, wie es seither unter Generationen von Individualreisenden nach ihr vorgekommen ist: Aus lauter Liebe verklärt sie, die Auswärtige, ihren Reise-Ort, stellt das Erleben übers Hinterfragen, schmiegt sich unkritisch ans Fremdland an und tanzt ihm dabei doch manchmal mit ihren westlichen Marotten auf der Nase herum, sodass sie, unbedacht, ungewollt, die eine oder andere Unruhe stiftet.
Gemessen an den Maßstäben ihrer Zeit ist Yablonskas Reise natürlich etwas besonderes und mithin als geschichtlicher Splitter interessant. Eine junge Frau, deren Aktivitäten meinen sämtlichen Urgroßmüttern unfassbar fremdartig erschienen wären: Sie schaut, fotografiert, genießt, staunt, sie lebt und schreibt in den Tag hinein – ein sehr freies Dasein.
Der Maghreb liegt für niemanden mehr in einer verzaubert-fremden Welt. Er liegt vor unserer Haustür.
Was ist heute noch fern und unbekannt?
Wussten Sie, dass es auf Antarktika ca. 160 touristische Anlegeplätze gibt, wo jährlich mehrere 10.000 BesucherInnen an Land gehen, um diese, nun ja, diese unberührte Eiswelt zu bestaunen?
In der ARD-Mediathek bin ich letztens über eine Doku über Astronauten gestolpert, die an den Apollo-Missionen beteiligt gewesen sind. Zwölf Amerikaner haben im Rahmen dieser Missionen den Mond betreten. Den Mond. Wie war das dort, am fernsten Ort? Jenseits der Welt? Wie könnte das je einer beschreiben, und wie könnte das je einer verstehen?
Auf die eine oder andere Art hat sich jeder der Mondreisenden einen Bruch an dieser Erfahrung gehoben. An der Wucht ihrer Intensität. An dem Kraftaufwand, eine solche Grenzerfahrung verarbeiten und danach bitteschön in ein recht gewöhnliches Privatleben zurückfinden zu müssen. In den Folgejahren bekam der eine seinen Alkoholismus nicht in den Griff, der andere klammerte sich an die Bibel, dieser wurde zum Aliengläubigen, und jener malte mit manischer Energie nur noch Mondbilder, unzählige Mondbilder.
Ferne war immer ein dehnbarer Begriff – in der Moderne ist er ein schrumpfbarer geworden. In der Nach-Moderne gibt es bereits Weltraum-Touristen, irgendwann wird es touristische Anlegeplätze für Mondreisen geben, klar, aber könnten das je solche Mondreisen sein, wie Apollo-11 sie erlebte?
>Sofia Yablonska, Der Charme von Marokko (Kupido)
Mit herzlichem Dank an den Verlag für das Leseexemplar, um das ich gebeten hatte!