Die Unschuldigen von Michael Crummey ist nicht unbedingt was für Leute, denen Schilderungen von allerlei Körperlichkeiten und allerlei Tiertod auf den Magen schlagen. Eher ein Roman für Leute, die Trost in der Schroffheit finden können.
Neufundlands Küste vor rund 200 Jahren, eine abgelegene Bucht, ein Fischer, seine Frau, die Kinder – daraus hätte man einen hübsch-naturkitschigen Roman machen können, aber der Autor hatte andere Pläne. Es ist kein Spoiler, wenn ich vorwegnehme, dass Vater, Mutter und das jüngste Schwesterchen kläglich sterben, denn das tun sie direkt auf der ersten und zweiten Seite; von hier an bestreiten der elfjährige Evered und seine jüngere Schwester Ada dieses Leben, diesen Roman im Alleingang. Schon den Eltern fiel es schwer, die Familie durchzubringen, und umso unmöglicher erscheint es da, dass die Waisenkinder, einsam wie Adam und Eva, sich gegen Hunger, Kälte, Krankheiten behaupten könnten. Die beiden wissen nichts von irgendwelchen Anverwandten oder Paten, sie lebten mit den Eltern stets auf isoliertem Posten, die nächste Küstenstadt liegt eine Tagesreise entfernt und ist ihnen nur vom Hörensagen bekannt. Sie wissen nicht, was Lesen ist; sie mutmaßen, es sei etwas, womit manche Menschen geboren werden und manche nicht. Das ideelle Erbe der Eltern beläuft sich auf einen bezeichnenden Ausruf der Mutter, den Ada für sich übernimmt: „Pisse und Verderbnis!“ Das übrige Erbe besteht aus der Fischerhütte, dem Hausacker, Vaters Fischerboot und einem Stück vom Meer. Indem die Familie verschwindet, verkleinert sich Adas und Evereds Welt zunächst drastisch, wird in der Folge jedoch größer, mit jedem Schritt, den die Geschwister aus Hunger oder Neugier ins bislang Unbekannte hinausgehen. Sie begegnen der Besatzung eines Handelsschiffs, einem Schreiber und Priester, toten Ureinwohnern, Tieren, sonderbaren Phänomenen, einem Lebemann und Abenteurer, einer gutherzigen Frau, einem kaputten Schiff und seiner wilden Mannschaft, einem toten Schiff.
Die Natur ist dabei ein humorloser Gastgeber. Und Ada und Evered sind keine idealisierten Naturkinder. Die zähen Survivalkids mögen Robben, weil man sie essen kann, interessieren sich für Pflanzen, wenn man sie essen kann, und sie schauen bloß aufs Meer hinaus, um abzuschätzen, wann endlich der Fisch kommt, den es zu fangen gilt – oder das Schiff mit dem bezeichnenden Namen Hope, denn es bringt Vorräte. Der Glanz des Wintereises schmerzt in den Augen, Stürme und Kälte sind lebensgefährlich. Das Jagen ist eine manchmal grausame Sache. Die Schönheit der Wildnis spendet an keiner Stelle Kraft oder innere Ruhe, das ist eher die Aufgabe von Alkohol. Jedenfalls: Jeder lauernden Verklärung des rustikalen, eremitischen Lebens inmitten unberührter Natur geht der Autor entschieden aus dem Wege. Crummey, selbst Neufundländer, romantisiert hier gar nichts, nicht die malerische Küstenlandschaft, nicht die majestätischen Wälder, er liefert keine schwärmerischen Naturschilderungen, würdigt die Natur keines Detailblicks und zeichnet nirgends Bilder eines innigen Einklangs zwischen Mensch und Natur.
Genauso wie der umliegenden Natur stehen die heranwachsenden Kinder auch ihrer inneren Natur, ihren Stimmungen, Gefühlen, Trieben, gegenüber: autodidaktisch und allzu oft am Rande der Überforderung. Den Roman-Titel (im englischsprachigen Original The Innocents) hat Crummey in vorauseilender Verteidigung seiner Hauptfiguren schlau gewählt, auf dass Sie, werte Leserschaft, diese Kinder (bzw. den Autor höchstselbst) bitte nicht vorschnell in die Hölle wünschen mögen. Bedenken Sie: Was darf ein Mensch, wenn da kein anderer Mensch ist, der ihm erklärt, was man nicht darf? Crummey macht kein voyeuristisches Spektakel daraus, wenn die Waisenkinder, bald im Teenageralter, bald als junge Erwachsene, sich körperlich ausagieren. Eine nüchterne, aber keinesfalls grobe Sachlichkeit bestimmt durchgehend den Erzählton und nivelliert alle Geschehnisse. Urteile werden nicht gefällt – die Moral wird, tja, ganz Ihnen überlassen, liebe Lesende.
Und es gibt so einige Moralfragen, die sich stellen. Das Verhältnis zwischen den Geschwistern – kippt das in den Missbrauch? Oder nicht? Die Hope macht jeden Herbst an der Waisenbucht Halt, weil der Vater alljährlich seinen getrockneten Fisch an Bord brachte, als Bezahlung für Vorräte und notwendige Gerätschaften; der Bordschreiber erklärt das dem frisch verwaisten Evered bei seinem ersten Besuch auf dem Schiff, er erklärt ihm auch, dass die Schulden seines Vaters für größere Vorräte auf ihn und Ada übergegangen seien, und er lässt sich von Evered überzeugen, dass die Kinder von jetzt an, wie zuvor die Eltern, das Vertragsverhältnis weiterführen und alljährlich ihren Trockenfisch abliefern wollen. Darf der Beamte das – die Kinder einfach sich selbst überlassen, nach dem Verlust ihrer Eltern, in diesem lebensfeindlichen Nirgendwo? Und sogar Schulden von ihnen einfordern? Wohlgemerkt, um 1800 herum galt ein Elfjähriger durchaus als erwerbsfähig. Dürfen die Seeleute dem Jungen ihren Alkohol andrehen? Der galt schlechterdings ja nicht als Suchtmittel, sondern Lebensmittel und Medizin, nicht wahr? Eines Tages erspähen die Geschwister in Küstennähe ein im Packeis havariertes Schiff, begeben sich auf Schatzjagd und finden an Bord wertvolle Kleidung – aber auch die Belege für einen furchtbaren Überlebenskampf. Was darf der Mensch in höchster Not? Ada und Evered leisten die schwere Versorgungsarbeit, um überleben zu können, Hand in Hand, und sie erbringen diese Leistung zu gleichen Teilen. Weswegen steht es nur Evered zu, über ihre gemeinsame Zukunft zu entscheiden, und Ada nicht? Für alle Frauen, die im Roman Erwähnung finden – allesamt Exemplare von zäher Natur, aber ungewissem Seelenfrieden -, gilt der Imperativ der Versorgung. Was heißt das für die Moral? „Pisse und Verderbnis!“ – warum wohl ist dieser Fluch hier das Erbe der Mütter an ihre Töchter? Wo liegen die Unterschiede, wo die Deckungsgleichheiten zwischen Christentum und Moral? Besitzt der Mensch eine Art Ur-Moral, gewissermaßen naturgegeben? Auch das Durchphilosophieren solcher Fragen überlässt der Autor Ihnen allein.
Erzählt ist das Ganze recht konventionell, und gäbe es da nicht diese mitunter etwas haarigen Moralfragen, sähe man beim Lesen schon direkt eine Netflix-Verfilmung vor sich. Ein Schmöker – der aber seine Dornen hat. Von der archaischen Härte eines, sagen wir, Cormac McCarthy ist Michael Crummey unterdessen ein ziemliches Stück entfernt: Vielerorts, wo die Geschichte leicht ins Bitterschwarze kippen könnte, rettet Crummey seine Kinder dann doch lieber in ein etwas glimpflicheres Schicksal hinüber. Mit Beschönigung hat das weniger zu tun, vielmehr ließe sich schlecht 350 Seiten lang über das Leben zweier Waisenkinder in der kanadischen Wildnis schreiben, wenn die nicht wenigstens ab und an auch mal Glück hätten.
Was genau „Glück haben“ bedeuten soll, das gehört übrigens auch zu diesem Katalog von Fragen, mit denen man hier kinderseelenallein bleibt.
>Michael Crummey, Die Unschuldigen (Eichborn)
Ich bedanke mich herzlich beim Verlag für das Leseexemplar, um das ich gebeten hatte.
Foto: Grebe, 2019
Meine Güte! Keine Geschichte für Weihnachten, scheint mir.
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Lieber Meinolf! Tja! Allerdings hat sie doch auch ihre charmanten Momente. Ein paar. Ich muss jetzt aber erst einmal den neuen Radiobeitrag von Herrn Reul (mit Frau Reichl und Frau Peter) hören!
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Liebe Dritti, das freut mich! Führst Du eigentlich auch Interviews?
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Na, in der Zeitung war ich mal, ja ja! Aber im Ernst, ich habe ja nur bedingt was zu erzählen, habe keinen fachspezifischen Einblick zu bieten und schaffe keinen akademischen Mehrwert, ich habe ja, Du liebe Güte, nicht einmal einen Premiumblog! Ach je…
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Stimmt! Ich habe diesen ruhmreichen Artikel gelesen. Also neue Frage: radio satt ist ja ein Format, bei dem zufälligerweise ich (OK, nicht ganz zufällig) bis jetzt die Mikrophonmacht hatte. Ich will nur andeuten, dass Du auch einmal (als Interviewerin!) eine Sendung machen könntest, wenn Du wolltest. – Premiumblog sätt mi nix. Geht auch ohne!
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Ei, also Interview aktiv, nicht Interview passiv machen! Nee, hab ich noch nie! Das wäre Heidenspaß und Vollkatastrophe, nach vier Minuten entreißen mir die GesprächspartnerInnen das Mikro und rufen SOS! Au Mann! Wäre das eine gute Idee?
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