„Petja hatte sich den Fluss hinuntertreiben lassen, allein, in der Dunkelheit. […] Er war ans Ufer geschwommen, unten bei der Mündung des Flusses. Diese Stelle nannte man den Blinden Mund. Es war eine warme Nacht. Petja kletterte hinaus ans Ufer und verschwand im Dickicht.“
Es gehört sich so in dieser kargen, deprimierenden Anderswelt, die Schimmelpfennig da entworfen hat, dass Jugendliche am Vorabend ihres 15. Geburtstages von der großen Eisenbrücke hinab in den Fluss springen. Ein bisschen so, als tauften sie sich selbst. Nach ihrem Sprung ins kalte Wasser, schwimmen sie, nun als Erwachsene, an Land zurück, um zu feiern. Auf Petja allerdings warten die Freunde nach dem Sprung vergebens.
„Sie hatten in die Tiefe gesehen, über Stunden, sie hatten nach ihm gerufen, aber er war nicht zurückgekommen.“
Ich verstehe das gut, Petja.
Die Gegend-am-Fluss ist eine abseitige, beschädigte, feindselige Lebenswelt. Law und Order liegen in den Händen einer Polizeieinheit, die zu Recht gefürchtet wird. Offenbar herrscht strenge Gesinnungspolitik. Die genaueren Umstände belässt Schimmelpfennig jedoch im Dunkeln, im Abstrakten, und so müssen, na, dürfen Sie sich Ihre eigene Deutung der Dinge zusammenstricken: Ist das hier eine Dystopie, eine Geschichte à la „Was wäre, wenn der Zweite Weltkrieg (…)“, eine Parallelwelt usw.? Auch die Figuren wollen es Ihnen nicht zu einfach machen und halten mit ihren Identitäten hinterm Berge. Obwohl immerhin ihr Bindungsgeflecht nach und nach klar wird, bleiben sie für sich genommen doch Gestalten, denen man nie so recht unter die Haut schauen kann, Spielfiguren, Symbolträger, Märchenmenschen. Jedenfalls: Sie befinden sich hier an einem Ort, wo Sie, da wette ich drauf, in irgendeinem Traum schon einmal gewesen sind.
„Die Stadt auf dem Meer war schwarz und turmhoch, ein Gebilde aus Eisen und Stahl, aus Schrauben und aus Nieten, ein Berg aus Rohren, Gängen und Treppen, und die Stadt hinterließ, nachdem sie an ihnen vorbeigezogen war, auf dem Wasser einen Film aus Öl. Die junge Frau und der Mann saßen auf den Felsen am Meer, nicht weit von der Flussmündung, und sahen der Stadt nach, bis sie in der Ferne verschwunden war. Hinter den beiden Gestrüpp, Grün, eine leichte Anhöhe und dann zugewachsenes, kaum zu durchdringendes, flaches Land. Dazwischen ein paar kleine Brachen. Die Hitze. Eine Straße. Der Fluss. Weit entfernt: einzelne Häuser, Wohnblöcke und dahinter die Felder, die Fabriken, die Raffinerie und das Stahlwerk in der Ebene.“
Adam und Eva sind es nicht, die da sitzen, sondern Isabel und ihr Freund Philipp. Sie sind auf dem langen Weg in Isabels Heimatstadt, zwecks Familienbesuch. Nicht, dass sie uns dabei an die Hand nehmen und in der Stadt-am-Fluss herumführen würden, aber sie bringen uns hin, setzen uns dort ab, und ab hier bewegen sich die städtischen Schauplätze und unterschiedlichen Zeitebenen munter hin und her. Toni, wie er eine Leiter baut, eine lange Leiter, eine sehr, sehr lange Leiter, nur wozu? Philipp, wie er sich in den Wohntürmen einer Hochhaussiedlung verirrt, einem senkrecht stehenden Labyrinth, auf der Suche nach einem bestimmten Zimmer. Julia, die Kanarienvögel hütet und außerdem eine Schildkröte, einen Schlittenhund und einen zugeflogenen Pelikan. Die Straßenschlacht nach der Schließung des Kinos. Die Vertriebene in ihrer Hütte am Fluss.
Fragen Sie nicht – projizieren Sie frei drauflos, das braucht dieser Roman. Der will Ihnen nichts Staatstragendes vermitteln, sondern ein bisschen herumtricksen in Ihrem Kopf, Sie ins Träumen versetzen; er produziert die nötigen Bilder, und die müssen Sie nur noch auf die Beine stellen und zum Laufen bringen. Oder zum Schwimmen. Eintauchen, treiben lassen, mehr müssen Sie gar nicht machen. Wissen Sie, Sie sind hier am Fluss.
>Roland Schimmelpfennig, Die Sprache des Regens (S.Fischer)
Foto: Grebe, 2020