PUBERTÄT REVISITED > Eddie, Chris

Nachdem mein treues Küchenradio endgültig seinen Geist aufgegeben hatte, wurde mir letztens zum Geburtstag ein Radio inklusive CD-Player geschenkt.

Mein Notebook hat ein CD-Laufwerk, aber das ist nicht dasselbe, klar. Mein altes Auto besaß seinerzeit einen CD-Player, im Kindertaxi liefen zumeist Hörspiele und einigermaßen kindertaugliche Musik, nur auf meinen kurzen Pendelwegen zur Arbeit blökten mit Vorliebe die Sleaford Mods aus den Boxen. Der Großteil meiner CDs aber ging binnen der letzten 15 Jahre bloß durch meine Hände, wenn ich sie wieder einmal aus einem Schrank in Umzugskartons und aus Umzugskartons in einen Schrank räumte.

Ich besitze nun also wieder einen CD-Player, einen richtigen. Ich nehme meine CDs heute nicht aus dem Schrank, um sie in Kartons zu legen, sondern um sie zu hören.

Natürlich fühle ich mich dabei alt.

Nicht, dass ich keine neueren Alben im CD-Format besäße – nur greife ich, sobald ich den Schrank öffne, blindlings zu den alten, den verschlissenen, den meistgehörten. Das sind die meistberührten, eindeutig, und die haben dieses tausendfache Anfassen in sich gespeichert, sodass ich, wenn ich sie jetzt anfasse, zugleich den Griff meiner früheren Hand in den Fingern spüre, und näher kommt man der vergangenen Haut, in der man einmal steckte, nur schwerlich.

Zum 12. Geburtstag wurde mir ein eigener CD-Player mit Kassettendeck geschenkt, nachdem ich von Schwester 2 immer öfter den verdienten Ärger dafür bekommen hatte, heimlich den heiligen Plattenschrank im heiligen Großeschwesterzimmer zu durchwühlen. Abgesehen von diesen kurzen Ausflügen in die Vinylschatzkammer war ich kein Schallplattenkind und empfinde wenig Sehnsucht nach diesem Format – mein Nostalgieträger ist eben die profane kleine Schwester, die CD.

Während ich eine alte CD ins neue Gerät einlege, gilt mein erster Gedanke der Unvernetztheit dieser Aktion: Kein offener, kein heimlicher Datentransfer – die auf mich zugeschnittenen Online-Inhalte und Werbeanzeigen wissen nichts davon, was ich hier tue, wer mich gerade entertaint, ob und wie mir das gefällt. Das fühlt sich angenehm klandestin an. Ach, fast schon kriminell!

Mein zweiter Gedanke gilt der historischen Note der Sache. Ich besitze natürlich keine Raritäten, nichts aus objektiver Sicht wertvolles, ich horte Massenware, aber eben die spiegelt einen gewissen Zeitgeist. Und nicht bloß die Gegenstände der Zeit geben mir zu denken, sondern insbesondere die Abstände an Zeit. Die meisten CDs kaufte, tauschte oder lieh ich mir so 1996, 1997 zusammen – erschienen waren die liebsten Herzensalben zwischen 1992 und 1997. Heißt also, dass sie heute im Durchschnitt ein Vierteljahrhundert alt sind. Gute Güte! Wenn ich 1996, 1997 ein Album hörte, das rund ein Vierteljahrhundert alt war, dann waren das Alben wie „L.A. Woman“ von den Doors, „Pearl“ von Janis Joplin, „The Dark Side of the Moon“ von Pink Floyd usw. Es ist derweil so: Es war früher schwer vorstellbar für mich, dass es, eine Generation über mir, Leute gab, für die solche Schallplattengespenster wie Janis Joplin, Jimi Hendrik oder Robert Plant einst als vor-ikonische Menschen existiert hatten. Ich denke, dass es heute für meinen ältesten Neffen ebenso schwer vorstellbar ist, dass es, eine Generation über ihm, Leute gibt, für die solche Retro-Objekte wie Kurt Cobain und Konsorten einst als vor-ikonische Menschen existiert haben. …Es ist überhaupt schwer vorstellbar für mich, dass es eine Generation unter mir gibt, oder, na, eher schon zwei.

Drittens beschäftigt mich dann die Qualität dessen, was ich da höre. Das ist mitunter ernüchternd; manch bombastische Nummer erweist sich, nach Abzug meiner jugendlichen Begeisterungsleistung, als echter Schrott. Manche Stücke sind echter Schrott, keine Frage, aber zugleich große Liebe. Manche sind einfach über die Jahre verbrannt – das liegt nicht an ihnen, sondern ich habe schlicht keinen Zugang mehr zu ihnen, keine Verwendung mehr für sie, ich kann nicht einmal mehr nostalgische Impulse aus der Asche ziehen. Andere wiederum sind über die Jahre gewachsen und klingen erst jetzt wirklich, wirklich groß.

Lachen sie nicht – meine existenziellsten Alben sind nach wie vor und auf ewig „Vitalogy“ von Pearl Jam und „Superunknown“ von Soundgarden. Pearl Jam und Soundgarden, Eddie Vedder und Chris Cornell: Der Klang eines zu großen, warmen Sweatshirts, das mir von einem Freund über den Kopf gezogen wird, weil mir kalt ist; die Stimmen sonnenverbrannter Wiesen im Juli, herbstgelber Pappelreihen, bekritzelter Bushaltestellenhäuschen und heimlicher Zigaretten, von Heft- und Bücherstapeln auf einem falschen Orientteppich, von verwaschenen Jeans, Haartönungen, Kajal und Klimperarmbändern, von Klassenräumen und Jugendzimmern.

Vorhin drehte sich hier „Down on the Upside“ von Soundgarden, was ich zwischenzeitlich immer mal wieder gehört hatte, aber nie im Ganzen, bloß einzelne Songs daraus, und mir fiel dabei auf, wie arg ich es vermisse, ein Musikalbum (samt der womöglich weniger geliebten Songs) als eine feste zeitliche und auch feste klangliche Einheit zu verstehen. Danach habe ich „Ten“ von Pearl Jam eingelegt, dem ich, analog wie digital, eigentlich lieber aus dem Weg ging – nachdem ich als Dreizehnjährige quasi nichts anderes hören konnte, konnte ich’s danach nicht mehr hören, Sie kennen das sicher. Wie gut ich dieses Album nun finde, trifft mich wie eine Backpfeife. Ich hätte fast vergessen, dass „Wash“ der perfekteste, der wundervollste Regensong aller Zeiten ist. Bei „Oceans“ heule ich den Mond an, „Deep“ ist die reinste Achterbahnfahrt, und sogar „Jeremy“, diese so abgenudelte Nummer, lässt meine Haarspitzen knistern. Ich höre das ganze Album am Stück, ich höre es einmal, zweimal, dreimal. Und jetzt lege ich es wieder in den Schrank zurück, damit ich’s in, sagen wir, 25 Jahren wieder genauso hören kann.

Foto: Grebe

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Veröffentlicht von

Drittgedanke

Buntgegenstände / Drittgedanke / Die Beifängerin

12 Gedanken zu „PUBERTÄT REVISITED > Eddie, Chris“

    1. Oh, es war vor allem die Zeit von DJ Bobo, Captain Jack, Mr.President, Ace of Base, Culture Beat und Rednex! Von SCOOTER, Meinolf! Das war ja das schlimme, da brauchte ich dringend meine Audio-Zuflucht!

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  1. Barbara Streisand? (Keine Meinung.) Supertramp hab ich gern gehört, mit zehn, elf. Die anderen: deutsche (u. Schweizer) Acts – erstaunlich! War Modern Talking nicht schlimm genug? Euro-Dance und die Fun-Fraktion gibt’s ja immer noch – ebenfalls erstaunlich. Und es gibt auch noch Dr. Motte (60+) und seine Love Parade-Planungen. Nich meine Welt. (Schlimmer als krampfhaft ist krampfhaft unbeschwert.)
    Viel Freude mit dem CD-Player! Ich werde mir im August (haben wir schon August?!) auch ein Audiogerät kaufen: einen Cassettenrecorder! Ich berichte dann.

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    1. Schwester 1 hatte vor ihrem Umzug ins Studentenwohnheim einige Platten und Kassetten zurückgelassen, darunter – eigentlich erstaunlich, aber, da sie eben ein Kind der 70er war, vielleicht auch wieder nicht – viel Musical-Musik, Yentl, My Fair Lady usw. Supertramp liebe ich bis heute! Bis in die 90er liefen die regulär sehr oft im Radio, und ich konnte mit meinem Kassettendeck auch aus dem Radio mitschneiden, sodass ich irgendwann stolz auf meine optimale 90-Minuten-Sammlung von Supertramp, Sting, Boston, U2 und den Dire Straits inklusive abgerissener Werbe- und Verkehrsnachrichten-Jingles sein durfte. Hast Du noch eigene Kassetten? Mit Schönschrift verzierte Mixtapes?

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      1. PS: DJ Bobo war mit Abstand die größte Nummer für meine JahrgangsgenossInnen, das Radio, die Bravo und das Musik- und reguläre Fernsehen meiner Jugendzeit. Scooter war auch extrem beherrschend. Und dann natürlich: Boybands, Girlbands. Ach, und auch ganz schlimm: Britpop. Ich bin friedliebend und habe mich grundsätzlich im Griff, aber sobald jemand im Park nach einer Klampfe greift und die ersten Töne von „Wonderwall“ zupft, bin ich durchaus zum Mord bereit.

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  2. Da möchte ich einwenden, dass Chan Marshall ebendies auch einmal getan hat, als sie bei John Peel eingeladen war – gut, sie ist auch nicht einfach jemand, sondern die berühmte (und, fürchte ich, etwas wirre) Cat Power. Aber es bleibt doch dabei, dass „Wonderwall” ein Überhit ist, ob Du ihn magst oder nicht :-b
    Blur habe ich gekauft, als es mit Brit Pop lange vorbei war, Think Tank (sehr gut!), aber irgendwie habe ich die Platte nicht mehr. Als es meiner Buchhandlung schlecht ging (es ging ihr immer schlecht), habe ich meine schönen Schallplatten dutzendfach verschleudert, um die Miete zusammenzukratzen, und wahrscheinlich war sie dann dabei. Besonders um Verve-Jazz-Platten von Lester Young, Roy Eldridge, Johnny Hodges, Duke Ellington usw. tut es mir heute leid, auf alles andere kann ich verzichten. Na ja, was soll’s. Archive werden aufgebaut, zerstreut, dann kommen neue Archive.
    Eigene Cassetten habe ich in der Tat noch, allerdings sind die am Niederrhein, werd sie irgendwann dies Jahr abholen. Ja, sie sind alle individuell gestaltet, aber Schönschrift …
    Mixtapes aufzunehmen ist eine herausfordernde Aufgabe, der ich mich schon lange nicht mehr stelle. Ich bin ja auch nicht mehr so missionarisch wie ehedem. Allerdings sammele ich bis Silvester ein bisschen Partymusik – wobei ich Dir heute schon sagen kann, dass ich allenfalls Lust auf eine kleine Sitzrunde mit Häppchen, Berlinern (Pfannkuchen), Bier und Wunderkerzen haben werde. Die kriegsähnliche Berliner Ausprägung des Silvesterfeierns ist mir ein Graus.

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  3. Ja, manche (oder viele?) Titel der tollen Musik von damals sind echter Schrott. Ich denke öfters darüber nach, was eigentlich die (wenigen, immer weniger werdenden) Stück ausmacht, die die Jahrzehnte überdauern. Musikalische Substanz oder schöne Erinnerungen?

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    1. Bei mir geht es da wenig um Qualität, vielmehr um Kongruenz: Mit mancher Musik fühlte oder fühle ich mich besonders einig, übereinstimmend, einverstanden, und das ist dann auch die, die bleibt.
      …Bei Gerüchen und Geschmack eine ähnliche Frage: Warum eigentlich treffen einen manche so ins Mark, gehen manch andere so folgenlos vorüber?

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  4. Ikonische Menschen, Schallplattengespenster,von denen man nur die Musik kannte. Sehr gut auf den Punkt gebracht. Bei mir waren das die Beatles, später die Doors. Die lebten für mich im Radio, von da kam spätabends ihre Musik. Obwohl einige von denen tatsächlich noch lebten waren sie für mich ätherisch.

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