Aus den Sterntagebüchern des Weltraumfahrers Ijon Tichy:
Als ich am Montag, dem zweiten April, in der Nähe der Betelgeuze vorüberflog, durchschlug ein Meteor, kaum größer als eine Bohne, die Panzerung und zertrümmerte den Hubregulator und einen Teil der Steuerung, wodurch die Rakete ihre Manövrierfähigkeit einbüßte. Ich zog den Raumanzug an, stieg auf die Oberfläche der Rakete und versuchte, die Vorrichtung zu reparieren, aber ich erkannte bald, daß ich die Hilfe eines zweiten Menschen benötigte, um die Reservesteuerung festzuschrauben.
Was ungünstig ist, denn Tichy ist Alleinreisender. Schon lange. Was also tun? Erst einmal drüber schlafen.
Mitten in der Nacht hatte ich das Gefühl, daß mich jemand an den Schultern rüttelte. Ich schlug die Augen auf und erblickte einen über das Bett gebeugten Menschen, dessen Gesicht mir seltsam bekannt vorkam, ohne daß ich hätte sagen können, wer das war. „Steh auf“, sagte er, „und nimm die Schlüssel, wir gehen nach oben und drehen die Steuerschrauben fest.“ „Erstens kennen Sie mich nicht gut genug, um mich zu duzen, und zweitens weiß ich genau, daß es sie nicht gibt. Ich bin allein in der Rakete, und das schon das zweite Jahr, denn ich fliege von der Erde zum Sternbild des Kalbes. Somit sind Sie nur eine Traumvision.“
Das leuchtet ein. Bloß löst diese Feststellung freilich nicht Tichys Problem, und so muss er sich ernsthaft überlegen, wo sich Hilfe finden ließe.
Aber die Gegend war eine komplette Sternwüste, die wegen ihrer Gefährlichkeit von von allen Raumschiffen gemieden wurde, weil sich dort die geheimnisvollen Gravitationsstrudel befinden – hundertsiebenundvierzig an der Zahl -, deren Existenz durch sechs astrophysikalische Theorien erklärt wird, und von jeder anders. Der Kosmonautenkalender warnte vor ihnen wegen der unberechenbaren Folgen der relativistischen Effekte.
Was das bedeuten könnte, dämmert Tichy, als er sich am nächsten Abend nach harter Arbeit im ächzenden Motorenraum erschöpft ins Bett fallen lassen möchte, es aber von jemand anderem besetzt findet.
Ich begriff sofort, daß ich das war, und zwar vom Vortag, genauer: aus der Nacht zum Montag. Ohne mir über den philosophischen Aspekt dieser recht eigenartigen Erscheinung besondere Gedanken zu machen, begann ich sogleich, den Schlafenden an der Schulter zu zerren und zu rufen, er möge rasch aufstehen; ich wußte nämlich nicht, wie lange seine montägliche Existenz in meiner dienstäglichen fortdauern würde, weshalb es angezeigt war, möglichst schnell und gemeinsam die Steuerung auszubessern. Der Schlafende jedoch machte nur ein Auge auf und sagte, daß er nicht wünsche, von mir geduzt zu werden, dann meinte er, ich sei nur ein Traumgespinst.
Hier beginnt erst der Flug durchs tückische, sturmtosende Strudelfeld, in einer Maschine, die steuerlos den Gewalten ausgesetzt ist. Wie lange die Trudelei anhalten wird, lässt sich nicht abschätzen, und wie der alte Kasten am Laufen gehalten werden kann angesichts der außerordentlichen Belastung, die auf unbestimmte Zeit auf die Systeme einwirken wird, auch nicht. Der allein reisende Kosmonaut macht sich auf einiges gefasst, selbst seine eigene Verdopplung bringt ihn nicht recht aus der Ruhe – aber auch das war ja erst der Anfang.
Das Bad war verschlossen. Man hörte darin Laute, als ob jemand gurgelte. „Wer ist dort?“, rief ich überrascht. „Ich“, rief eine Stimme aus dem Inneren. „Was denn nun wieder für ein Ich?“ „Ijon Tichy.“ „Von welchem Tag?“ „Vom Freitag. Was willst du?“
Im Verlauf der nächsten Tage oder Wochen – ach, das mit den Zeitspannen wird schnell unübersichtlich – lernt Ijon Tichy sich selbst einmal von allen Seiten kennen: Laufend kommen neue Tichys dazu, stiften Chaos oder versuchen sich nützlich zu machen, erweisen sich je nach Lage als gute Kameraden, Sturköpfe, Nörgler oder kleine Helden, und die Rückkopplungen ihrer Interaktionen verschachteln sich immer heilloser. So gerät die Siebente Reise des Ijon Tichy zu einem der kompliziertesten Abenteuer, von denen seine Sterntagebücher ausführlich berichten, und nie fügte sich gerade diese Episode so gut in meine Stimmungslage wie aktuell.
>Stanisław Lem, Sterntagebücher (Suhrkamp)
Die polnische Originalausgabe der Sterntagebücher mit Ijon Tichys gesammelten Reiseberichten erschien 1971. Ich habe dieses Buch immer wieder und in unzähligen Ausgaben in der Hand gehabt, habe es ausgeliehen, selbst gekauft, verliehen, verleihverloren, an andere verkauft, wieder gekauft, und es bis heute nicht einmal am Stück gelesen. Muss man auch gar nicht. Bei Bedarf schlägt man es auf und liest z.B. von flottierendem Weltraummüll, der sich, von Strömungen zusammengetrieben, zu breiten Teppichen verdichtet (erinnert Sie das an etwas?), nach und nach eine Art Schwarmintelligenz entwickelt und bald seine Verursacher heimsucht. Oder von interstellaren Religionsstiftern. Oder Killerkartoffeln. Oder, oder, oder.
Ein grandioser Autor. Manchmal leider fast ein bisschen zu klug, oder? Über seinen „Memoiren, gefunden in einer Badewanne“ bin ich monatelang eingeschlafen. Hast Du mal seine „Philosophie des Zufalls“ gelesen? Davon steht hier der 2. Band herum, ein Zweitausendeins-Schnäppchen, das sich mir nie so recht erschlossen hat. Muss ich mal wieder reinschnuppern, jetzt, wo Du’s sagst!
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Jetzt, wo in Sachen Freizeitgestaltung (indoor) einfach ALLES besser ist, als irgendwann Nudeln zu zählen – unbedingt! Ich hab Lem (Tichy und Pirx) immer gern gelesen, während ich krank war, und auch jetzt wieder, wo sich alles so nach allgemeiner Bettruhe anfühlt. Dabei sind wir hier alle kerngesund. Geht’s Euch gut?
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Ja, individuell geht es uns gut, aber das Gesamtversagen, die Kopf- und Wertelosigkeit, das leer und hilflos Pragmatische des Kollektivhandelns, das durchsetzt ist mit ganz kruden Idealismen, das Abrutschen der Öffentlichkeit in den Bild.de-Modus, wie geradezu anfallweise zutage tritt, dass wir wahrlich gar nicht mehr miteinander reden können, wie der Wolfo es ja auch erlebt, wir widersprechen uns schon selbst beim Bäcker, wenn wir Brötchen bestellen, wie sollen wir da einen Gedanken entwickeln, wenn jeder Halbsatz nur noch aus Variablen besteht, eingehüllt in eine maximale Chandoskrise, nur sind wir nicht mehr von tumben Allgemeinplätzlern umgeben … das ist ein quälendes Vergnügen!
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