„Sind wir in hunderttausend Jahren also alle Kraken?“
Weiß man’s? Wer weiß schon, was die Evolution mit uns noch so vorhat? Wir manipulieren bös am Zustand der Natur herum, tiefgreifend und folgenreich – warum sollte das nicht auf uns zurückfallen, indem sich das Menschliche mit der Zeit ebenso wild funktions- und formverändert?
Yoshiros Körper zum Beispiel ist nicht mehr in der Lage zu sterben. Was man zunächst eher als Segen missverstehen könnte.
Als Kind hatte er gedacht, das Ziel der Medizin sei das ewige Leben. Das Leid, nicht sterben zu können, konnte er sich damals noch nicht denken.
Irgendwas über hundert ist er inzwischen. Verhängnisvolle Ereignisse, über die nichts genaues deutlich wird, haben Japan vollkommen verändert, und der fitte Greis sieht sich mit deprimierenden Lebensumständen konfrontiert.
Der in Sachen Isolationspolitik historisch nicht unerfahrene Inselstaat sperrt sich nun vehement gegen jeglichen Austausch mit der übrigen Welt. Alle Fremdwörter werden japanisiert. Niemand besitzt Reisefreiheit. Ein deutlicher Hauch von Totalitarismus liegt in der Luft.
Die Umwelt bringt monströs-mutierte Pusteblumen und kontaminierte Meeresfrüchte hervor. Nicht nur auf die Lebensmittelversorgung wirkt sich das verheerend aus.
Während Yoshiro und seine Generationsgenossen, die nicht sterben können, vor sich hin leben wie Gespenster, die ihre Körper ausnahmsweise behalten durften, ist die Lebensfähigkeit in der Generation der Urenkel dagegen stark verringert, ihre Körper verfallen im Sauseschritt. So ergeht es auch Mumey – seinem eigenen Urenkel, um den sich Yoshiro wie eine Glucke kümmert.
[Mumey] sah aus wie ein Küken. Das lag wohl daran, dass sein Kopf für seinen langen, dünnen Hals zu groß war. Seine seidenfeinen Haare waren nass von Schweiß und klebten fest an seiner Kopfhaut. Die Augen leicht geschlossen, bewegte er seinen Kopf, als wollte er mit den Ohren die Luft erkunden.
Mumey ist ein Sonnenschein, leicht ins Herz zu schließen. Was seine Vorfahren ihm körperlich voraus hatten, stehen sie ihm charakterlich oftmals eindeutig nach. Sein Vater ist ein unausstehlicher Nichtsnutz und Herumtreiber, seine Oma, Yoshiros Tochter, lebt auf einer entfernten Insel; Yoshiro ist und bleibt Mumeys ganze Familie. Der Alte schiebt den Jungen, der aus eigener Kraft kaum laufen kann, auf dem Gepäckträger zur Schule, und weil Mumeys Zähne aus den weichlichen Kieferknochen ausfallen wie Reiskörner, füttert er ihn mit schluckgerecht portionierten Lebensmitteln, in der Hoffnung, dass Mumeys Magen sie bei sich behalte.
Yoshiro leidet unter Mumeys Leid, er leidet unter den Schuldgefühlen eines viel zu Gesunden gegenüber einem viel zu Kranken, er leidet auch unter Mumeys unerschütterlich mildem, frohem Gemüt und er leidet besonders unter der Abschottung, in der er und Mumey mit ihren Mitmenschen gefangen sind, denn diese Abschottung bedeutet den Ausschluss von Hilfen, mithin also die Finalisierung ihrer schwierigen Lage.
„Ken-to-shi, Sendboote nach China“ lautet der Titel eines Romanmanuskripts, das Yoshiro einst verfasste, dann aber aus guten Gründen lieber auf dem „Dingfriedhof, einem öffentlichen Friedhof, wo jeder immer und nach Belieben auch Dingen die Letzte Ehre erweisen konnte“, begrub: Der Titel verweist auf frühmittelalterliche Expeditionen, die Japan in Richtung China unternahm, um erste diplomatische Bande nach außerhalb zu knüpfen – eine Sehnsuchtsbenennung.
Als „Sendbote“ wird Mumey derweil von einer geheimnisvollen Vereinigung auserwählt, mit der Aufgabe, sich als blinder Passagier außer Landes zu begeben, um das internationale Ausland über den „Gesundheitszustand japanischer Kinder“ zu informieren. Eine Geheimmission? Oder eine, vielleicht geheimdienstliche, Falle?
Sendbo-o-te ist eine Dystopie, klar, aber keine, die mit den üblichen apokalyptischen Bildern, mit den gängigen Endzeit-Elementen operiert. Eher eine Dystopie in Pastellfarben – unangestrengt, zugänglich, alltagsgesättigt. Wie Yoshiro und Mumey ihr Leben gestalten, das verströmt, bei aller Wehmut, die Yoshiro nicht unterdrücken kann, viel Wärme und Humor. Und Mumey, eigentlich ja schwer gebeutelt von körperlichen Gebrechen, ist fröhlich, lebendig, mutig, resilient. Yoshiro dagegen, der für immer unverändert bleibt, der in einer Art Geistergeheul über die Vergangenheit spricht und sich in einer radikal veränderten Welt nicht mehr heimisch fühlen kann, gerät zur tragischen Figur – und das um Stabilität ringende Japan zum Unterdrückungsstaat.
Egal, welche Art Mega-Katastrophe hier auch stattgefunden haben mag: Der unvermeidbare Lauf der Dinge spart solche Untergänge und Weltveränderungen nicht aus. Dass sie eintreten, auf verschiedenste Weise, ist nicht die Frage. Was dagegen in Sendbo-o-te mit lockerer Hand ausgelotet wird, ist die Frage, wie unterschiedlich, wie vielgestaltig und unvorhergesehen einzelne Menschen und ganze Systeme auf sie reagieren.
> Yoko Tawada, Sendbo-o-te (Konkursbuch Verlag)
Endzeitfiktionen scheinen in der gegenwärtigen Literatur besonders lukrativ zu sein.
LikeGefällt 1 Person
Ja, liegt wohl in der Luft. Ich fand den Ansatz hier mal erleichternd anders, mal so ganz fern davon, auf eine Verfilmung als Blockbuster zu schielen.
LikeGefällt 2 Personen
deine rezension spricht mich sehr an!
ich glaube, das buch muss auf meine wunschliste … hab prinzipiell einen hang zum dystopischen und finde die linie, die das buch offenbar zieht, den besonderen blickwinkel, sehr spannend. vielleicht konnte man sogar sagen, das es eine im innersten kern sogar mit hoffnung aufgeladene dystopie ist … DANKE!
❤ pega
LikeLike
Liebe Pega, hab mir das Buch heute gekauft und werde es wohl im Laufe der nächsten Wochen lesen. Wenn Du willst, schicke ich es Dir anschließend zu, und Du schickst es mir dann irgendwann zurück.
Gruß aus Berlin (Nähe)
LikeLike