Stellen Sie sich einmal eine Parabel vor. Nein, keine literarische jetzt. Sie erinnern sich – 10. Klasse, Funktionsgleichungen usw.: ein U-förmiger Graph, dessen gebogene Arme spiegelgleich verlaufen und im Scheitelpunkt zusammentreffen. Zeichnen Sie also auf ihr gedankliches Kästchenpapier nun bitte ein Koordinatensystem und eine darin nach Belieben angelegte Parabelkurve. So. Und die eine Parabelhälfte versehen Sie mit dem Wörtchen Liebe. Und die andere mit dem Wörtchen Hass.
Wozu diese Übung? Weil wir ständig ignorieren, dass die beiden Geschwister sind. Der Hass ist der schwarze Zwilling der Liebe. Im Ernst! Die beiden teilen ein und denselben Ursprung, nämlich den Magmakessel des Elementaren. Was auch immer in der Lage ist, unsere Liebe / unseren Hass auf sich zu ziehen, besitzt eine existenzielle Qualität, es beschäftigt uns mit äußerster Intensität, es lodert in den Tiefen der Knochen, nimmt uns vollständig in den Griff und quetscht ungeahnte Energien aus uns hervor – selbst unsere Ängste verkriechen sich lieber in ihre Mauselöcher, wenn wir auf dem Rücken eines solchen Gefühls anmarschiert kommen.
Ich glaube, dass nur, wer auch wirklich lieben kann, die Fähigkeit zu wirklichem Hass besitzt. Denken Sie an die Spiegelgleichheit: Wenn Sie nicht wissen, wie es sich anfühlt, etwas mit der Kraft einer Kernschmelze zu lieben – wenn Sie einen solchen Grad von Intensität also nie kennengelernt haben, dann erreichen Sie den auf der Hass-Skala genauso wenig. Dann haben Sie gewissermaßen nicht das Zeug dazu.
Oftmals spricht man von einem Hass, der plötzlich um sich greife oder überkoche, und meint damit oftmals eigentlich den Zorn – der einem wilden Impuls entspringt und somit eher als der böse Zwilling des kopflosen Begehrens gelten kann. Während der Zorn ein explosiver, blindwütiger Geselle ist, der mitunter ebenso spontan wieder verraucht wie er sich entzündet, ist der Hass ein unsterblicher, konzentriert arbeitender Gott. Hass ist, wie die Liebe, hartnäckig und gezielt auf wenige, bestimmte Personen gerichtet. Der Zorn / das Begehren sind da viel flexibler.
Manchmal lese ich so Kommentar-Ketten auf Twitter, Sie wissen schon, die so vor Gift und Geifer triefen, dass Sie direkt glauben, aus dem Gerät, mittels dessen Sie sich da durchscrollen, müsste es tropfen, eine ordentliche Pfütze voll. Manchmal schaue ich mich argwöhnisch auf diesen Internetseiten um, die sich ganz legal der Romantik von Grundgesetzabschaffung und Menschenvernichtung widmen. Manchmal gerate ich auf einem Parkplatz, in einer Kassenschlange, in der Fußgängerzone, im Zug, im Schwimmbad – suchen Sie’s sich aus – in eine dieser unsäglichen Pöbeleien hinein, die offenbar so untrennbar zum Leben dazugehören wie Zähneputzen oder Noroviren, und mir ist klar, dass ich vor allem deswegen unverletzt und (mit Glück) unbespuckt aus solchen Angelegenheiten hervorgehe, weil ich weder dunkelhäutig, schwarzhaarig, sichtbar religiös oder Rollstuhlfahrerin bin, noch Greta-Zöpfe, Merkel-Blazer oder irgendeine Form von Arbeitskleidung trage, weil ich in einer allgemein ziemlich gnädigen Stadt wohne und bislang auch einfach – denn als mittelgroße Frau ziehe ich meistens den Kürzeren, was das körperliche Kräfteverhältnis anbelangt – Glück hatte.
Verrohung, Hate Speech, hassmotivierte Angriffe auf Mitmenschen, ach, diese flächendeckend präsente Hass-Massenware, dieser ganze, quicklebendige Hass-Mainstream – was taugt der Begriff Hass überhaupt, um das ganze einzuordnen? Ich meine, wo es doch zu einem so beliebten Hobby, zum Breitensport geworden ist, willkürlich seine Mitmenschen – direkt oder anonym, in echt oder in Internetland – mal eben anzugreifen, aus Bock, verbal, brutal, illegal, scheißegal?
Hass ist ein Gefühl. Ein furchtbar intensives. Eines, das sogar dem Hassenden selbst eine Qual ist. Der reaktive Hass ist ein genauso zielgebundenes, genauso unwillkürliches Gefühl wie die Liebe.
Indessen ist die Sache mit den Gefühlen immer, von Natur aus, eine etwas diffuse, klar. Wenn man nun aber alles, was auf irgendeine Weise laut, böse, gewaltlüstern ist, mit dem Wörtchen Hass versieht, macht man aus einer diffusen Kategorie eine beliebige. Vor allem jedoch gibt man Leuten, deren einzige Freude es ist, sich mit der Aggressivität eines besoffenen Rottweilers an der Gesellschaft auszutoben, damit eine besondere Rechtfertigungsbasis: Gefühle kommen ja nicht aus dem Nichts – sie werden hervorgerufen! Von ETWAS hervorgerufen, klar? Unsere Gefühle sind wichtige Zeugen! Unsere Gefühle sind Reporter, deren Berichte Ihre werte Aufmerksamkeit verdienen, denn sie dokumentieren die Lage in den Krisengebieten, die unser Alltag sind, kapiert? Unsere Gefühle sind Botschafter im Auftrage unserer geschundenen Seelen, jawohl, also besitzen sie quasi diplomatische Immunität, merkt Euch das, Ihr F*#§%+!
Überlegen Sie, wie furchtbar praktisch es doch ist, eine Regung der niedersten Triebe – reine Gewaltlust nämlich – zum Ausdruck eines tief empfundenen und zutiefst menschlichen Gefühls zu erklären, um nicht zu sagen: zu veredeln. Sehen Sie mal, was für schamloser Mist plötzlich Validität erlangt, indem er als Gefühlsausdruck verkauft wird!
Menschen haben Gefühle, gute, böse, verwirrende. Das ist der Ausweis des Menschlichen schlechthin. Aber wissen Sie: Wer es mal eben so zwischen dem Frühstück und der Runde mit dem Hund, oder beim Schwätzchen mit KollegInnen, oder in der Kassenschlange im Supermarkt, oder zu Tisch bei einer Familienfeier, oder – Sie wissen genau, was ich meine: Wer es mal eben so zwischen zwei Schlückchen Kaffee fertigbringt, seinen Mitmenschen zu sagen, sie sollen doch bitteschön durchgefickt, gehäutet, an die Wand gestellt werden oder zusehen, wie ihre Kinder am Spieß braten, der hat alle möglichen Probleme, aber Gefühle hat er keine. Selbst Hass wäre dafür ein zu großzügiger Begriff. Gefühle sprechen an dieser Stelle nicht aus dem Menschen – da zeigt sich im Gegenteil, dass sie fehlen, die Gefühle, da sind weit und breit keine in Sicht. Da ist bloß Bock auf Tollwut, Lust auf billige Gewalt, kopfloser Hau-drauf-Instinkt. Und das, Leute, genau dieses Fehlen von Gefühlen, ist der Ausweis des Unmenschlichen, und sonst gar nichts.
Sehr gute Gedanken, aber das muss ich wohl mehrmals lesen.
Danke!
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Ja, ok, ich bin übrigens im Bedarfsfall immer diskussionsbereit und auch nicht aus eitel Zuckerguss gemacht, falls Unterpunkte kritischen Widerspruch hervorrufen sollten (also ich beiße nicht)!
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Mit Zuckerguss und Beißen habe ich eh keine Problem, ob vorhanden oder nicht. Ängste oder Ehrfurcht vor andern Menschen sind mir fremd. Außer sie sind gewalttätig, dann siegt der Fluchtinstinkt.
Aber diskutieren tu ich eher selten und ungern, vor allem nicht in Grenzbereichen meines eigenen intellektuellen Horizontes.
Mein Lieblingsdiskussionsbeiträge sind „Achselzucken“, „Augenverdrehen“ und „Umdrehen und Stehenlassen“.
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In meiner Vorstellung ist Hass etwas Diffuses und Zorn etwas Konturiertes. Ich habe mir, anders als Du, nie die Mühe gemacht zu überlegen, wie sie auseinanderzuhalten und gegeneinander abzuwägen wären. Unsere Gesellschaft hat ein Hassproblem, sicher – hat sie auch ein Zornproblem? Es kann, finde ich, vernünftige Gründe geben, jemandem zu zürnen. Ein Hater hat Gründe hingegen gar nicht nötig: Zerstörungslust reicht ihm vollkommen aus.
Wenn ich also mutmaße, dass wir begrifflich nicht ganz übereinstimmen, so pflichte ich Deiner Diagnose dennoch bei und teile Deine Besorgnis.
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Wenn man Hass nicht als definiertes Gefühl, sondern als generalisierte Haltung versteht, dann ist das eher der Hass, den Du jetzt meinst, ja? — Ich habe immer den Eindruck, dass es eine unglückliche Grundlage jeder Debatte ist, die sich um Hass dreht, dass es keine so recht einschlägige Einordnung für dieses Bla-bla-Gehasse, dieses ausufernde Hassen aus Gewohnheit, dieses „Haten“ gibt, weshalb man einfach von Hass redet und doch etwas anderes meint… Ich finde, man darf das Prädikat „Gefühl“ nicht so ganz pauschal vergeben, sondern muss diese simple Unlust, sich anständig zu benehmen (eine Faulheit), bzw. diese Lust, anderen Angst zu machen oder willkürlich ein paar Fressen zu polieren (eine böse Charakterschwäche) irgendwie davon unterscheiden.
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Convenience-Gewalt klingt einfach blöde, aber passt in vielen Fällen sehr viel genauer, als einfach von Hass zu sprechen.
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Ah okay, vielleicht liegen wir doch nicht so weit auseinander. Ich habe verstanden, dass Du es für zu viel der Ehre hältst, den Leuten, die sich an der „Hass-Massenware” ergötzen, zuzubilligen, sie hätten Anteil am Hass-Gefühl. Allet klar! Für diese ewig missmutigen Leute fällt mir kein besseres Wort als eben „Hater” ein. Übrigens halte ich sie für gefährlich: Ich schätze, es sind die Hater, die Todeslisten pflegen, und nicht aufrichtige Hasser (wie Du es sein kannst, entnehme ich Deinen Worten). – Mir selber ist die Intensität des Hassens fremd, tut mir leid, auch wenn ich das Verb in meinem aktiven Wortschatz habe 🙂 Das äußerste der ‚Gefühle’, das ich hier aufbringen kann, ist ein Kopfschütteln (smh, so much hate umgedeutet zu shaking my head</em).
Anderes Thema: Hast Du Dir schon den Bond-Titelsong von Billie Eilish angehört?
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Ah, ich habe wieder das HTML verhunzt. Scheußlich!
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Lieber Meinolf, ich mag den Bond-Song nicht so. Nicht, dass das ganze etwa nicht super produziert wär. Sondern, Du weißt schon: Weil’s so super produziert ist, ist es auch komplett tot. Es bedient einfach 1a die moderne Bond-Ästhetik, aber sonst? Da Bond, wie ich finde, seit mindestens drei Filmen over ist, liegt die Überlegung halt nahe, wenigstens bei der Filmmusik Verjüngung zu demonstrieren, aber am Ende hätt den Song irgendwer, egal wer singen können. – Ich bin sicher ungerecht, aber mich holt das eben nicht ab. Natürlich liebe ich Bond, aber vor allem liebte ich die Bonds, die man ein bisschen verschämt und ironisch lieben musste, wohingegen mir der neue Bond viel zu spaßbefreit daherkommt (selbst Blofeld, der alte Katzenstriegler, wird auf einmal zu einer ernsthaften Charakterfigur entwickelt – was soll denn das, Mensch).
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Ha ha, eine James Bond-Generalabrechnung! – Stimmt, dass Billie Eilish jung ist, bedeutet allein noch nichts. Mir fällt jetzt aber auch niemand anderes ein, der etwas Vitaleres hätte abliefern können. (Die Leute gibt’s natürlich. Kate Tempest? Peaches? Vielleicht auch eine koreanische Popgruppe?) Es wird sich auch nicht jeder auf so eine Kommerzmaschine einlassen.
Die Humorlosigkeit von Daniel Craigs Bond ist mir auch schon aufgefallen. (Übrigens habe ich noch nicht einmal alle seine Abenteuer gesehen.) Die Figur sollte wirklich etwas Augenzwinkerndes haben. Timothy Dalton mochte ich in dieser Hinsicht, von den neueren jetzt, auch Pierce Brosnan. Na ja.
Von mir aus könnte es jetzt auch gut sein mit Mr Bond. Er hat sich überlebt, so wie das Papsttum oder der Literaturnobelpreis. Aber irgendwie hängen die Leute dran, und ich guck den Quatsch ja auch.
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Ich sag schon lange, dass ich mir einen Simon Pegg als neuen Bond wünschen würde und das die Reihe noch einmal retten würde, aber auf mich hört natürlich keiner.
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Huch, den kenne ich gar nicht! Aber ich vertraue Dir. – Ich höre auf Dich, habe aber keinen Einfluss.
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„Niemals werde ich bereuen, was ich tat und was aus Liebe geschah…“ sang Zahra Leander. Wenn Hass die schwarze Form der Liebe ist, was ich für eine gute Beschreibung halte, kann sich der oder die Hassende auf die gleiche Toleranz berufen, die wir den Liebenden bei ihren Torheiten zubilligen?
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Wieviel Toleranz wir gegenüber den Liebenden oder Hassenden walten lassen, die ihre Gefühle als Auslöser für wilde Aktionen haftbar machen wollen, ist oft eine Frage unserer Empathie, in schlimmeren Fällen eine Frage des Strafrechts. Man kann das nicht auf ein, zwei Beispiele herunterbrechen, aber nehmen wir trotzdem mal ein paar extreme: a) „Eine über Jahre hinweg von ihrem Mann missbrauchte Frau ersticht diesen mit 12 Messerstichen.“ b) „Nachdem sie sich wegen ihres Liebhabers von ihm hat trennen wollen, ersticht ein Mann seine Frau mit 12 Messerstichen.“ c) „Ein Mann ersticht den Ehepartner seiner verheirateten Geliebten mit 12 Messerstichen, nachdem diese ihm berichtet hat, seit Jahren unter dessen Gewalttätigkeit zu leiden.“ Reißerisch, ich weiß, aber es soll nur zeigen: Solche Fälle verlangen der Justiz ganz schön was ab, denn sie erfordern den Umgang mit juristischen, emotionalen, biografischen, psychologischen, psychiatrischen und anderen Aspekten, also mit Begriffen wie Hass, Liebe, Hassliebe, Eifersucht, Rache, Zorn, Kaltblütigkeit, Abhängigkeit, Hörigkeit, Schuldfähigkeit, Wahnsinn und weiß der Himmel was noch. Aber auch auf alltäglicherer Basis fordern uns die Liebe und der Hass ganz schön was ab und konfrontieren uns schnell mal mit heiklen Fragen der Moral. Wir befinden über solche Dinge mal mit radikaler Hitzigkeit, mal mit verzweifelter Ratlosigkeit, aber nie lassen sie uns kalt, immer zehren sie uns was ab. Und genau dieser ganze Aufwand rechtfertigt sich nur, weil Erörterungen des Menschlichen nun einmal schrecklich komplex sind. Weswegen ich mir hier auch so einen Knoten in die Finger tippe. Worauf ich hinauswill: Wenn sich jemand zu Hass und Gewalt getrieben fühlt, steht dahinter ein komplexer (wahrscheinlich sehr unappetitlicher, aber das tut dem Umstand keinen Abbruch) Fall des Menschlichen. Aber wenn sich jemand zu Hass und Gewalt berufen fühlt, steht dahinter ein einfacher Fall von Unmenschlichkeit, da braucht man mit Komplexität oder Gefühlen nicht zu argumentieren, da geht’s dann nur um den Spaß am Hassen, die Lust auf Gewalt an sich – und das ist es nicht wert, dass man sich im Umgang damit irgendwelche Samthandschuhe anzieht.
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Whow! Du jonglierst mit Begriffen, und das überzeugend, die ich noch nicht mal denken will.
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Aber weißt Du was – wenn ich in einem Text pro Absatz dreimal Hass schreiben musste, packt mich ein so dickes Heimweh nach fröhlicheren Themen, dass ich danach direkt ans Kinderbuchregal schleiche und in „Urmel aus dem Eis“ oder „Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt“ blättere, bis es mir dann langsam, langsam besser geht.
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🙂
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