ANEINANDER VORBEINSAM > Salzmorgen

Weil es heute Sperriges mitzuschleppen gibt, bringe ich das eigene und das Nachbarkind mit dem Auto zur Schule. Natürlich ist das eine dumme Idee – auf dem Rückweg lande ich punktgenau in diesem Verkehrshoch, das einmal morgens, einmal spätnachmittags (die Gezeiten der Blechmeere) die Stadt beherrscht. Hinzu kommt die Sperrung einer Nebenstrecke, sodass sich alles auf meinem Weg bündelt. Da stehe ich nun auf der Straße herum, komme ein bisschen voran, in der Schrittgeschwindigkeit eines Montagmorgens, stehe wieder. Der Motor dröhnt, er brummt die sehr lange und sehr eintönige Ballade vom automobilen Einzelpersonenverkehr (das Kulturgut der Autobahnen, Landstraßen und innerstädtischen Hauptverkehrsadern). Auch der Körper dröhnt ein bisschen (die Erkältung). Dunkel ist es, dreckig schwarz blitzt die Fahrbahn unter Scheinwerfern auf, dreckig grau schlafen die Bürgersteige. Ich wünsche mich weg, nach Brachland, die Füße bis über die Knöchel in schönstem Unkraut und um die Ohren nichts als einen Himmel voller Krähen und Bussarde. Der Motor dröhnt. Neben mir, hinter mir, vor mir Autos, in denen je ein einzelner Mensch sitzt, wie ich: Alle drei Meter ein Mensch, einzeln verpackt, und ein Motor, der sein Lied dröhnt. Ich schaue mir die Gegenspur-Gesichter an, die im Scheinwerfer aufglimmen, und ich könnte mir kein einzelnes merken, und niemand merkt sich mich. Einsam wirken wir alle. Montagmorgeneinsam. Arbeitswegeinsam. Mitsichselbsteinsam. Das Auto ist der schmückende Rahmen dieser Einsamkeit. Der Motor dröhnt.

Warum singe ich vor mich hin?

Ich habe den dröhnenden Kopf auf einen Schlag voller Musik. Heute aber nicht die bewährten Trostlieder, diese Brachlandlieder, gemütlich, warm – dafür ist mir inzwischen tatsächlich zu grau zumute, leicht jaulig sogar. Sondern also diese salzigen, leicht jauligen Lieder, die ein bisschen trösten und zugleich brennen (das Geisterflüstern verflossener Berührungen und anderer Wohlgefühle, auch von Herzeleid, Scham, oder auch von Momenten einer „So ist das also“-Erkenntnis, die, äußerlich unsichtbar, innerlich genauso einschlagen kann wie eine Umarmung, eine Backpfeife). Intensität ist das eigentliche Gegenteil des Montagmorgens. Musik, die eine gewisse, erlebte Intensität speichert (die Musik der wunden Punkte und der peinlich gehüteten Wunder), kann mir vielleicht gegen diese mitsichselbsteinsame Parade von Gesichtern, meines inbegriffen, helfen – ? Sie muss bloß irgendwie ankommen gegen den Motor, der sein Lied dröhnt.

Morgen wieder zu Fuß.

 

 

Veröffentlicht von

Drittgedanke

Buntgegenstände / Drittgedanke / Die Beifängerin

8 Gedanken zu „ANEINANDER VORBEINSAM > Salzmorgen“

  1. Du hast diesen ‚autistischen‘, diesen Auto-Wahnsinn sehr gut beschrieben, dies Fahren im Stillstand, und auch Dein Text ist sehr gut geschrieben: „dreckig schwarz blitzt die Fahrbahn unter Scheinwerfern auf, dreckig grau schlafen die Bürgersteige”. Toll! Stimmt als Beobachtung, und stimmt sprachlich. – Der Textrhythmus nimmt das Stop and Go auf. Runde Sache!

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    1. Liebe Meineule, das absurdeste Argument pro Autofahren ist ja immer dieses: die Freiheit! Die Freiheit mit 230 über die A7 zu brettern zum Beispiel: Das geht mal auf einem km hier und auf 500m da, insgesamt aber heißt A7 zu fahren ja im Stau oder Kriechverkehr festzukleben. In der Stadt genauso, plus Parkplatzdrama. Ich seh da diese „Freiheit“ irgendwie nicht.

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  2. Gibt es nicht ein Buch „Rasender Stillstand“ oder so ähnlich, das dieses Thema aufgreift? (Ich kenne es nur dem Titel nach.) – Meineule ist ein neuer Spitzname: gefällt mir! Lieben Gruß aus dem Büro. Jetzt ist die Mittagspause vorbei.

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    1. Da bestehen aber sicher gedankliche Flächenberührungen: Rasende Möglichkeiten verkehren sich in Stillstand – das gibt es im Digitalen, im Konsum, im Verkehr, im Kulturellen gleichermaßen, nicht? (Habe gerade gesehen: Der Autor hat noch so einen schönen Titel, „Fluchtgeschwindigkeit“. Beide Titel runde 20 Jahre alt. Ein Abgleich mit aktuellen Zuständen wäre bestimmt interessant.)

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