VERGISSMEINICH > Alltag, Nichtsnacht

Sie kennen Müdigkeit. Verschiedenste Arten von Müdigkeit. Sie kennen Schläfrigkeit, ermattete Schlappheit oder tief, sehr tief wurzelnde Kraftlosigkeit. Sie kennen auch genügsamere, zufriedenere Arten von Erschöpfungsmüdigkeit. Viele von Ihnen kennen Mischformen der Müdigkeit, wo sie sich mit Aggressivität oder auch dumpfer Orientierungslosigkeit verbindet. Einige unter Ihnen haben Erfahrung mit jener trost- und bodenlosen Müdigkeit, die einen reell glauben macht, ein verirrtes, halb verhungertes und schließlich in sibirischer Januarkälte erfrorenes Nutzvieh zu sein.
Aber kennen Sie auch E.I.N.S.C.H.L.A.F.E.N?
Es gibt das Einschlafen vorm Fernseher, das Einschlafen mit Buch, das Einschlafen in der Bahn, dem Auto oder Flugzeug, auch das nicht ungefährliche Einschlafen in der Badewanne; es gibt das sprichwörtliche Einschlafen im Stehen, das zügige Einschlafen nach harter Arbeit oder Sport, das anspruchslose, routinierte, somit nebensächlich gewordene Einschlafen, das Einschlafen unter Alkohol- oder sonstigem Einfluss, das Einschlafen unter Bauchweh und natürlich das unruhige, unbefriedigende (weil unbefriedende) Einschlafen unter Sorgen, Sorgen, Sorgen.
E.I.N.S.C.H.L.A.F.E.N. aber ist etwas anderes.
Lichtschimmer, Farben und Gerüche um Sie her sind milde und weich. Frische Bettwäsche. Ein Kerzchen auf der Kommode spendet zart flackerndes Sonnenuntergangsleuchten. Ihnen ist warm (die übliche Kriechkälte ist restlos aus Ihren Fasern verschwunden; sowohl das Gefühl als auch die bloße Idee von Kälte sind so vollständig verschwunden, dass sich bei Ihnen nicht der kleinste Gedanke daran regt, wie kalt und klamm sich Einschlafen für gewöhnlich anfühlt), zugleich liegt ein angenehm luftiger Hauch im Raum.
Sie mögen diesen Raum. Sie haben sich darauf gefreut, hier zu schlafen; Sie haben die Wandfarbe, das neue Bett, die neuen Bettbezüge, die Bilder, Zimmerpflanzen und sparsame Deko bedachtsam (und in der seltenen, wohligen Gewissheit, sich hierbei nicht zu verschulden oder es sonstwie zu übertreiben) ausgewählt.
Sie hatten einen leichten Tag. Sie haben gelacht. Sie wurden geküsst. Sie haben etwas Gutes gekocht und gut gegessen, ohne Hast, gemeinsam mit Menschen, die Sie lieben und in deren Nähe Sie sich gesund fühlen (der Nachhall ihrer Stimmen liegt Ihnen, leise, noch im Ohr).
Durchs geöffnete Fenster hören Sie das entfernte Rauschen der Stadt und, näher, das nicht zu ungestüme Ein- und Ausatmen des Windes; nirgendwo bellt ein einsamer Hund.
Sie selbst sind nichts weiter als das sachte Pochen, das Sie mit zwei Fingerspitzen unterhalb Ihrer Daumenwurzel ertasten. (Ihr Puls, der mitunter wie eine Horde durchpreschender, um sich keilender Stiere gegen diese zwei Fingerkuppen schlägt, dann wieder flach, unrund plitschernd, wie Sand unter ihnen wegrieselt, rollt und rollt nun in unbeirrtem Takt an ihnen vorbei, flink, aber nicht getrieben, fest, aber dabei geschmeidig. Ein kleines, samtpelziges, agiles Tierchen.)
Sie fühlen sich in dieser Wohnung so wohl wie lange nicht. Ihre Lieben genauso. Es sind nicht nur die schönen Fliesen, die lichte Aufteilung des Wohnbereichs und derlei Banales: Noch ist diese Wohnung bloß ein unbeschriebener Raum. Ein freundlicher, duftiger Kokon. Und Sie leben nun darin.
All Ihre Dinge und auch Sie selbst haben inzwischen hinreichend Ihre Ordnung gefunden; Alltag bahnt sich an. (Ein freundlicher, duftiger Alltag, will man glauben.) Ruhe.
Die Kerze: Der buttergelbe Hof des Flämmchens simmert brav vor sich hin. Irgendwann wird er sich zunächst verkleinern, dann verlöschen. Sie lassen es achtlos brennen, ohne Sorge: Das Kerzchen wird sich von selbst löschen, und nichts kann Feuer fangen, nichts wird schwelen. Aufbrennen, Ausgehen, ganz folgenlos.
Halbgeschlossenen Auges schauen Sie in den Raum und spüren halbbewusst, dass Sie, indem Sie sich selbst so ganz vergessen, einmal so ganz bei sich ankommen. Sie sind ein rundgeschliffener, von sommerlicher Sonne erwärmter Stein – ach was, Sie sind Pudding! Süß wunschloser, ichloser Pudding. Nichts-Ich.
(Das, was Sie eigentlich sind und was Sie immer waren – das, was Sie also wirklich ausmacht, das liegt nach dem Umzug noch immer in diesen ein, zwei Kartons, die Sie bislang nicht ausgeräumt haben. Auf dem Dachboden. Immer sind es diese ein, zwei unausgeräumten Kartons im Oberstübchen, die beinhalten, was einen Menschen grundlegend ausmacht. Sie haben das bloß vollkommen vergessen, heute.)
Und so
S.C.H.L.A.F.E.N.
Sie schließ
lich
E.
I.
N.

Veröffentlicht von

Drittgedanke

Buntgegenstände / Drittgedanke / Die Beifängerin

Ein Gedanke zu “VERGISSMEINICH > Alltag, Nichtsnacht”

  1. Schlaf wird häufig hingenommen, aber ich vermute, er ist mehr als das. Irgendwie. Nur passt er nicht so richtig zum Leben, ganz wie die Nacht. Schönen Abend und gute Nacht!

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