Ich fand Schneekugeln als Kind total faszinierend. Musste gar nichts Besonderes an ihnen dran sein (mit Glück gab’s mal eine als Werbegeschenk von der Sparkasse oder als Bonus, wenn man den Kleinen Tierfreund abonnierte); allein dass ich so eine Himmelssphäre samt Häuschen und Bewohnerschaft (en miniature) in Händen halten und ordentlich durchrütteln konnte, dass es darin gluckerte und der weiße bzw. glitzernde Flitter nur so brauste, bis er sich irgendwann entspannte, sich legte, die Sphäre sich klärte, das war schon Zauber genug.
Ich liebte auch unser Aquarium: Drückte ich mir an der Scheibe ein bisschen die Nase platt, schwamm ich direkt mit den Fischen im Amazonas. Und Buddelschiffe, ach! Wir hatten sogar ein rein gläsernes: eine mundgeblasene Viermastbark (nach Muster der Pamir oder Sedov) unter vollen Segeln, mit aus Glas gezogenem Takelwerk, schützend umschlossen von einer dickwandigen Flasche.
Miniaturwelten haben ja immer ihren speziellen Reiz.
Allerdings lag der Trudeltanz in einer Schneekugel unter meinen Lieblingsguckedingen wohl doch mit hauchzartem Vorsprung in Führung.
Dabei machte die Geschlossenheit der Schneekugelwelt für mich gleichermaßen ihren heimeligen Reiz wie auch ihre grauselige Tragik aus – wahrscheinlich erinnere ich das bloß deswegen so deutlich, weil man sich als Kind am Begreifen von Ambivalenz nun einmal besonders abarbeitet. Wie schön das war, dass nichts Äußeres je in diese Innenwelt hineindringen konnte, und wie bitter zugleich! Immer dieselben Plastikkrümel, die sich im Gewirbel um und mit einander drehten und sich immer an derselben durchsichtigen Wandung stießen, bevor sie schließlich auf dem immerselben Boden niedergingen.
Hm.
Ab und an gerate ich an Bücher, die mir das Gefühl verpassen, lesend mitten in einer Schneekugel gelandet zu sein.
So isoliert, wie Schneekugelwelten eben sind, finde ich mich darin als Eindringling wieder, nicht als Gast, und schlage mich mit dem Gedanken herum, dass meine Einblicknahme hiermit zu weit geht, meine teilnehmende Anwesenheit unerwünscht ist; dass was auch immer ich im Wirbelschnee womöglich finde keinesfalls für mich bestimmt gewesen ist.
Man könnte meinen, es ginge mir da etwa um Die Wand von Marlen Haushofer oder, allein schon des Titels wegen, um Die Glasglocke von Sylvia Plath. Oder vielleicht um Thomas Manns Zauberberg, dessen entrückte Gipfel-Welt (dieser menschlich-klägliche Olymp) freilich einen hochgradig veredelten Schneekugel-Esprit versprüht. Oder um solche mikrokosmischen Streifzüge, solche konzentrierten Betrachtungen des Partikelgeflirrs, wie sie Esther Kinsky in ihren Büchern unternimmt. (Nach Am Fluss und Banatsko lese ich gerade Hain, und es ist wunderbar. Alles von Esther Kinsky ist wunderbar.) Aber in diesen Romanen lässt es sich jeweils tief und ausgiebig atmen.
Was ich stattdessen im Sinn habe, ist jene Art Literatur, in der mehr kalte Plörre als Atemluft steckt. Solche Bücher, die offenbar nur geschrieben werden, um zu zeigen, dass man ein Buch schreiben kann, aber bloß nicht, um zu zeigen, wer man ist. Gucken darf man, soll man, aber darüber hinaus bleibt’s unpersönlich; invasiven LeserInnen wird kein Riss geboten, durch den es sich in Innenwelten hineinluschern ließe. Labor-Literatur: Form und Inhalt, die großen Bögen und die kleinen Details, jedes Wort, jede Tönung unter kontrollierten Bedingungen arrangiert, in steriles Fluidum eingelegt, in den Doppelbuchdeckel-Druckbehälter verpackt, Projekt abgeschlossen.
Alles was glänzt von Marie Gamillscheg war da verdammt nah dran.
Schriebe ich einen Roman, bestünde mein größtes Problem darin, dass ich in dessen Innenwelt ganz und gar verschwände. (Übrigens ein Problem, an dem ich garantiert einen Heidenspaß hätte.) Davon erzählen – das könnte ich bestimmt, klar. Aber kein Stück mehr erkennen, wie sich das Ganze schließlich lesen ließe. Würde irgendjemand überhaupt nachvollziehen können, was hiermit und damit gemeint wäre? Würde, darauf aufbauend, irgendjemand ein Interesse dafür oder gar Spaß daran entwickeln können?
Und würden mich solche Überlegungen auch nur minimal kümmern? Nein – weil ich doch auch als Leserin bereitwillig dem verkrautetsten Zeug folge, solange sich nur der Weg, den mein Kopf machen muss, um dahinter oder wenigstens hinterher zu kommen, als ein ergiebiger erweist, und ganz egal, ob am Ende nun die Ergiebigkeit oder die Verkrautetheit überwiegen, ist mir das immer, immer lieber, als mir einfach einen hübschen Präsentierteller vor die Nase setzen zu lassen.
Wer schreibend ganz und gar nach innen verschwindet, verliert gewissermaßen den Blick eines Diesseitigen; man flutscht hinfort, und damit reißt dieser Blick einfach ab. Und was man dann mit inwendigem Blick so zu fassen kriegt, das schüttet man später (sofern man’s erfolgreich zurückgeschafft hat) auf dem Tisch aus wie einen Sack voll Ernte, Beute und Beifang.
Und eben nicht: wie ausgewählte Requisiten. Wirkt das Sammelsurium penibel kuratiert, regt es nichts mehr an, kann man Sog und Zauber von vorn herein vergessen, und so wird das auch nichts mit der Ergiebigkeit – zumindest nicht mit mir als Leserin.
Marie Gamillscheg erzählt von einem Berg, der einen Riss bekommt. Nein, sie erzählt von einem Bergdorf, das einen Riss bekommt. Genau genommen erzählt sie von Menschen, die jeweils einen ganz ähnlichen, tragischen Riss bekommen wie der Berg, an dessen Hang sie leben.
Bis vor kurzem wurde hier traditionsreicher Bergbau betrieben, heißt es. Es geht wohl um Kupfererz, und wir befinden uns wohl irgendwo in Österreich, aber Raum, Zeit und Ort spielen keine relevante Rolle und werden daher kaum bis gar nicht benannt. Nach Einstellung des Werksbetriebes, wohl wegen Unrentabilität, befindet sich das bewusste Bergdorf ohnehin mitten im Strukturwandel-Alptraum, aber das ist noch nicht alles. Ob wohl die Stollen instabil wurden, oder die Abraumhalde – der Berg jedenfalls zerbricht. Das weiß alle Welt, nachdem es einmal von einem Journalisten verkündet wurde, dem man seither böse ist, weil man nun einmal besser auf einen Menschen böse sein kann als auf die Geologie. Den noch verbliebenen Dorfbewohnern, denen überwiegend die Ortstreue so tief im Mark steckt wie das Erz im Berge, soll der Gedanke an Umsiedlung schmackhaft gemacht werden – die Region sendet eigens einen Regionalmanager aus, der das managen soll.
Es gibt einen Autounfall. Es gibt zwei Schwestern, von denen eine von einer Karriere als Pianistin träumt; Teresa bekommt neben der Schule Klavierunterricht und will es mittels Talent ganz weit weg schaffen, in die Stadt. Es gibt die verwitwete Kneipen-Betreiberin Susa, die als heimliche Autorität des Dorfs alle kennt und alles weiß. Es gibt Wenisch, den allein lebenden Bergmann in Rente, dessen Tochter kaum noch aus der Stadt herkommt, um ihn zu besuchen, und der durch das Alter und die Einsamkeit zusehends erodiert; Berg und Mann verfallen hier parallel. Es gibt Merih: Der kommt von außen in diese Miniaturwelt hinein, um in ihr irgendwas zu verbessern, dabei steht es doch um seine private Miniaturwelt, die nicht von ungefähr eine musterhaft städtisch-akademische ist, mindestens genauso mau, öde, hoffnungslos.
(Es gibt sogar ein Chamäleon – ein Exot als Symboltier scheint im zeitgenössischen Provinz-Roman nicht fehlen zu dürfen: In Niemand ist bei den Kälbern von Alina Herbing rennt ein ausbebüxter Emu durch die norddeutsche Agrarlandschaft, in Hool von Phillip Winkler gibt’s einen Tiger, und hier ist es eben ein Chamäleon, das mitten im ach so trostlosen Dorf seine Aufgabe als Totemtier für Unangepasstheit erfüllt.)
Es gibt eine enge Verbindung zwischen diesem Ort und seinen Menschen. Und auch zwischen den Menschen und den Dingen ist alles irgendwie miteinander verknüpft und verschwistert. Weil das immer so ist, an solchen Orten.
Der Glaskugel-Schneesturm, der diesen Roman nun ausmacht, indem er um dessen Zentrum, den Berg, herumtrudelt, besteht aus je ein paar Flöckchen Milieustudie, Sozialdrama, Bergbau-Kolorit, Familienschmerz, Coming-of-Age, auch etwas Millennial-Ennui fehlt nicht; das wirbelt alles so vor sich hin, und mal blitzt dies auf, mal das. Kurz gehaltene Kapitel reihen sich überleitungsfrei aneinander. Gamillschegs Schreibe ist Szenen- und Dialog-orientiert und lässt sich nie dazu hinreißen, deskriptiv überzuschäumen, sie bleibt durchgängig knapp, streng, sparsam. Das Romanpersonal tritt gewissermaßen unter stroboskopischer Beleuchtung in Erscheinung, die zwar das Wesentliche einfangen will, dabei aber bloß Schattenrisse zu fassen kriegt.
So viele Stollen, und so wenig Tiefe, nörgle ich ein bisschen vor mich hin. Alles mit Bedacht arrangiert, klar, formal alles richtig gemacht, alles ordentlich – aber das ist eben auch alles, ein menschlicher Hauch jedenfalls weht mich von dorther nicht an. Ich denke: Alles steife, isolierte Schneekugelfiguren im Plastikhabitat. Einmal aber, da kracht blindwütig ein Klavierdeckel auf ein paar Finger herab, und ich denke: Was war das denn?
Das Plastikmädchen! Heidewitzka, hat sich das etwa gerade bewegt?
> Marie Gamillscheg, Alles was glänzt (Luchterhand)
Wow! Exzellente Besprechung! Kennst du „Wir leben hier, seit wir geboren sind“ von Andreas Moster? Verblüffend ähnliches Thema, aber großartig umgesetzt …
Viele Grüße!
(Kinsky hat ebenfalls mein Herz gewonnen)
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Nein, gelesen nicht. Nur Rezensionen dazu, die mich wiederum an „Das finstere Tal“ haben denken lassen. Jetzt, wo Du mich dran erinnerst – ein allzu dicker Wälzer ist „Wir leben hier…“ nun nicht gerade, und ich lese ja gern parallel, worin sich Parallelen finden lassen. Danke – und Grüße!
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Ich kann Moster wirklich sehr empfehlen. Aber stimmt, „Das finstere Tal“ könnte so etwas wie ein Einsteigerbuch gewesen sein. Allerdings mit viel mehr Toten …
Viele Grüße!
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Hallo Sonja! Ja, das Gefühl mit der Schneekugel kenne ich. Es scheint aber fast ein allgemeines Phänomen, etwa so wie eine tägliche Teilnahmslosigkeit, an der man tagtäglich teilnimmt…also eigentlich doch schon an sich ein prima Thema. Grüße und schönen Tag! Jörg.
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Lieber Jörg, manchmal denke ich, dass man wohl zu leicht, zu einfach in eine Schneekugel hineingeraten kann – wieder hinaus dagegen fällt schon schwerer. Viele Grüße, Sonja
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