LICHTKÖRPER UND SCHATTENWESEN > Marion Poschmann, Die Sonnenposition

Woraus ist Zeit gemacht? Aus Licht und Dunkel. Ihr ursprünglichster Taktgeber und Maßstab ist der Wechsel von Tag und Nacht. Ein Wechsel, der auch in den Beschaffenheiten der Zeit erfahrbar ist: es gibt helle Zeiten, finstere Zeiten. So kam sie heran, ist, vergeht – und wohin geht sie dann, die Zeit? Weiter: gen Licht, gen Dunkel.

Draußen geht die Sonne auf und unter. Im Schloß verfallen die Kränze und Kreise. Die Stuckrosetten schwinden, das Deckengemälde Aurora verrottet, in die strahlig angelegten Achsen im Park frißt sich Gras.

Dieses brandenburgische Schloss, Hauptort des Romans Die Sonnenposition von Marion Poschmann, zeigt sich in schäbigem Gewand aus bröckelndem Prachtstuck, Schimmelwucher, verkrauteten Parkflächen, offenliegenden Wunden in Putz und Tapeten: Memento moriendum esse! Einst barocker Fürstensitz, nach dem Krieg als Lagerhalle einer LPG genutzt, beherbergt es heute eine psychiatrische Einrichtung. Im Osten geht die Sonne auf? Von der Stucksonne, die im Speisesaal die Decke nurmehr kläglich ziert, regnen Gipsplacken herab in die Suppenteller der Patienten: Vanitas!

Altfried Janich hat es aus dem Rheinland, dessen menschelnde Fröhlichkeit er nie teilte, hierher verschlagen, in das marode Schloss im maroden Osten, wo er sich um die dunklen Seiten der menschlichen Psyche kümmert. Um die dunklen Flecken, die er durch morsche Wandverkleidungen hindurch erriechen kann, kümmert sich niemand. Als Arzt versucht er, dem man seiner Herkunft, seiner körperlichen Gemütlichkeit und auch seines Vornamens wegen ein ausgeglichenes Wesen unterstellt, seinen Patienten gegenüber ein zentraler, Halt gebender Fixpunkt zu sein – die Sonnenposition einzunehmen. Motivisch ausgedrückt: Licht in ihr seelisches Dunkel zu tragen. Welcher Tendenz die Deutung der Licht-Motivik allerdings folgen sollte, gibt der Eingangssatz des Romans vor: Die Sonne bröckelt. Altfried, der selbst in der Anstalt wohnt, in ihn und sich zersetzenden Räumlichkeiten, spaziert nachts in den Sälen und auf dem Gelände herum, ernährt sich von aus der Küche stibitzten Tiefkühl-Reibekuchen, die er auf dem Heizkörper auftauen lässt, und offenbart nach und nach weitere durchaus pathologische Verhaltensweisen. Oft, sagt er, weiß ich selbst nicht, ob ich mich als Arzt oder als Patient hier aufhalte. 

Nicht etwa als Sonnenkönig tritt Altfried also in Erscheinung, sondern geradezu als nachtwandelndes Schlossgespenst. Er reiht sich damit ein in eine Parade von Spukgestalten, der nicht nur seine Patienten angehören – per Medikation zu zombiösen Flurschlurfern gemachte Figuren, die an der Bewältigung der Wende und anderer Übergangsstadien im Leben psychisch totalgescheitert sind. Fallstudien in episodischer Kürze lassen Einzelschicksale aufblitzen: eine Kindsmörderin, ein Hamsterhorter, eine Brandstifterin, ein Staubbewunderer oder ein Fischstäbchenbefreier zählen dazu. Oft grenzt die Funktion der einzelnen Patienten ans Dekorative; eine Befugnis, im Roman handelnd einzugreifen, wird diesen isolierten Gestalten abgesprochen. Erst, indem man die Insassen der Anstalt als Gesamtheit betrachtet, sieht man sie als Wirkungsverstärker für Poschmanns Licht- und Schattenspiele, nimmt die Patientenschaft die Anmutung eines antiken Chores an, der hier, vor der Kulisse des verfallenen Schlosses, „Auferstanden aus Ruinen“ rückwärts singt.

Auch Altfrieds Großeltern und weitere Anverwandte sind einem Geisterreich zuzurechnen. Einem, das sich durch bewusste und unbewusste Erfahrungsweitergabe entlang der Familienlinie einen Übergangsweg in Altfrieds Lebenswelt gesichert hat. Woher sein eigener Drang, sich unsichtbar machen zu wollen, und vielleicht auch die Wahl seines Arbeitsorts rühren, erklärt sich unter Anderem in der Schilderung des Kriegsschicksals, das seine Großeltern, seine Eltern genommen hatten: die einen ermordet, die anderen, als hilflose Kriegswaisen, Schutz suchend in rettenden Verstecken – das auf die Folgegenerationen übergegangene Erbe solcher Erfahrungen bezeichnet die Psychologie als Schattentrauma. Altfrieds Berufswahl berührt unmittelbar die psychische Blockade seines Vaters und bezieht die Angewohnheit seiner Tante, sich den Geistern der Vergangenheit zu widmen, mit ein. Und indem er in den Osten gegangen ist, an einen Ort, wo Vergangenheit noch in offener Verwesung, unrestauriert zu betrachten ist, ist Altfried in umgekehrter Richtung ein Stück des Wegs gegangen, auf dem sie, die Heimatvertriebenen aus dem Osten, einst westwärts geisterten.

Neben dem Beruf pflegt Altfried ein seltenes und recht verschrobenes Hobby: die Jagd auf Erlkönige. Zur Erklärung: Dieses zielt nicht auf den Elfenkönig, den wir aus der Ballade kennen, sondern ist eine gängige Bezeichnung für Prototypen einer neuen Automodellreihe, deren Fahreigenschaften bei Nacht und Nebel in abgeschiedenen Gebieten ausgetestet werden. Während die Hersteller mit Tarnlacken oder Extra-Verkleidungen die Details ihrer neuen Modelle geheim zu halten suchen, lauern Journalisten und Hobbyfotografen den Erlkönigen auf, aus einfacher Lust an der Jagd oder um exklusive Bilder verkaufen zu können an interessierte Automagazine. Wer Geisterautos jagen will, muss idealerweise selbst zum Geist werden: Viel mehr als für seine Jagd-Objekte selbst, begeistert Altfried sich für die jagdliche Praxis, die Tarnung und lautloses Umherpirschen erfordert und somit seiner Vorliebe fürs Unsichtbarwerden wohltuend entgegenkommt. Es ist ein Wettstreit um die perfekte Tarnung, den er mit den menschenscheuen Erlkönigen austrägt, und jeder gelungene Schnappschuss ist eine Siegertrophäe, ein Beweisfoto seiner, Altfrieds, hohen Verschwindekunst.

Das Hauptgespenst allerdings, das, welches Altfried am meisten beschäftigt, ist sein gerade verstorbener Freund Odilo. Schon die Beerdigungsszene zu Beginn macht deutlich, dass Freundschaft ein Wort ist, das Altfried hier nur unbefriedigt verwendet, eher in Ermangelung eines passenderen Ausdrucks für jene Verbindungsart, die zwischen Odilo und ihm bestanden hat. Als Odilos Mutter den Wunsch äußert, Altfried möge eine Trauerrede für den Freund halten, lehnt Altfried ab, was die Mutter als Zeichen sprachlosen Verlustgefühls deutet. Tatsächlich aber ist es Verzweiflung, vermischt mit Ärger:

[…] dann saß ich nächtelang vor dem weißen Blatt und fand keinen Anfang, überhaupt keinen Ansatz, ich wußte nichts über Odilo, gar nichts, und es lag mir nicht, die glänzende Fassade, an der er sein Leben lang gearbeitet hatte, diese Fassade, die sein Leben war, nun meinerseits noch einmal nachzuarbeiten.

Und doch ist das nun folgende Erzählen Altfrieds nichts Anderes als das – eine Trauerrede für Odilo, in Form einer Anamnese ihrer, nun ja, Freundschaft. Altfried blickt in die jeweiligen Familiengeschichten hinein, er schildert seine ersten Begegnungen mit Odilo und spätere gemeinsame Ausflüge und Gespräche, er gräbt nach jeglichen verwertbaren Einflüssen, Erfahrungen und Erlebnissen. Überrascht stellt Altfried fest, dass seine Schwester, Mila, ein Verhältnis mit Odilo hatte, wovon seinerzeit niemand wusste. Wie konnte überhaupt irgendeine Frau, wie konnte Mila nur eine Beziehung mit Odilo führen, dessen Egozentrismus ihn doch zum krankhaften Zweisamkeitsversager machte? Was fand Odilo an Mila, was bitteschön fand Mila an ihm? Als Modeschöpferin hatte Mila zu ihrem Stil gefunden, als sie damit begann, die Kleider ihrer alten Tante mit modernen Versatzstücken aufzuwerten, und hat diese Verbrämung des Altmodischem mit dem Gegenwärtigen zum Markenzeichen ihrer inzwischen sehr erfolgreichen Kollektionen gemacht – war es das, ihre Liebe zum Gestrigen, zum Verstaubten, die Odilo für sie interessant werden ließ? Eifersüchtelnd fühlt sich Altfried von beiden betrogen, umso mehr, da Mila sich weiterhin stur verschwiegen zeigt, kein Wissen über den geteilten Freund an den Bruder verschenkt. Ratlosigkeit eines Psychiaters: Mit beruflicher Routine analysiert Altfried die Geheimnisse fremder Menschen, während sich die Geheimnisse der ihm Nahestehenden als für ihn unsichtbar erweisen. Es bleibt ihm nur, die Schatten aufzulesen. Odilo – ewig altkluger Junge:

Ich war in Mission meiner Meßdienergruppe unterwegs [so kam die erste Begegnung Altfrieds und Odilos zustande], wir unterstützten notleidende Kinder in Ruanda. […] Ich drückte die Klingel, ein Junge meines Alters, dünn und dunkelhaarig, öffnete die Tür. Frau Leonberger sei nicht da.[…] Auch Kinder könnten spenden, erklärte ich. Rappelte großspurig mit der Büchse. Man habe Taschengeld. Not in Ruanda. Ein Opfer bringen. Opfer? erwiderte er verächtlich. Seine Mutter hätte eventuell etwas gespendet, aber er persönlich halte nichts davon. Man befriedige sich doch nur selbst in dem Gefühl, etwas Gutes zu tun. Ich solle mich nicht ausnutzen lassen. Meine Fähigkeiten besser verwenden.

Die Rolle des früh verstorbenen Vaters übernahm Odilo selbstbewusst, gab den gediegenen Hausherrn, altmodisch, dünkelhaft, spukte, gleich seiner in steifer Haltung erstarrten Mutter, umher in den dunklen Räumen des Familienanwesens, das in der Nähe einer Fabrik für Einmachgläser gelegen war – zwei menschliche Konserven einer vergangenen Gutbürgerlichkeit. Später Promotion in Biologie. Die Erforschung der Biolumineszenz, die ihn schon als Kind faszinierte, sollte sein Fachgebiet werden, auf dem er mit bahnbrechenden Ergebnissen brillierte. Den Lichtwesen der Tiefsee und der Nacht stahl er ihre Rezepte, den grauen Mäusen pflanzte er fluoreszierendes Glimmen per Kanüle ein, spielte Gott: Es werde Licht! Odilo selbst dagegen blieb im Dunkeln: Erlkönig, der Altfried entwischte.

Freundschaft? Was die Verbindung zwischen den beiden ausmachte, lässt eher an die Gravitationskräfte denken, welche die Konstellation zweier Planeten zueinander bestimmen. Odilo, schattenäugig, dunkelhaarig, drahtig, seelisch teflonbeschichtet, Dompteur des Lichtscheins, und Altfried, flammend-rothaarig, weichlich, eine Seele von durchlässiger Konsistenz, Schattenflüsterer: Es gleicht einer Versuchsanordnung, wie Poschmann diese zwei Komplementärfiguren aufstellt, zwei aneinander gekoppelte Prismen, in denen sie Licht, Dunkel und Zeit sich brechen lässt.

Wer nun argwöhnt, dieser Roman der profilierten Lyrikerin Poschmann metaphere und motive womöglich handlungsfrei vor sich hin, erhält hiermit Entwarnung. Mit Spannung verfolgt man das Kräftemessen zwischen Licht und Dunkel, und durch die klare und alles beherrschende Bildsprache überstehen rote Fäden auch das Springen zwischen den zeitlichen Ebenen unbeschadet. Was es gewesen sein mag, das Mila und Odilo zusammenbrachte, oder inwiefern Altfried selbst vielleicht darauf zusteuert, in seiner Anstalt von der Arztseite auf die der Patienten zu wechseln, das erklärt sich zwar nicht innerhalb spannungheischender Erzählbögen voller eindeutiger Aussagen. Stattdessen beginnt man – viel unterhaltsamer – bald ein intensives Such-Lesen zu betreiben, man verfällt selbst ins Psychologisieren, übt sich darin, die vielschichtigen Beschreibungen, Schilderungen und Bilderfluten zu filtern. An kaum einer Stelle bedient sich Poschmann dabei des psychologischen Fachvokabulars, sondern bleibt bei einer Sprache, der das Lyrische eingewoben ist und die mit leichter Hand große Bedeutungsräume aufzutun vermag. Sie spielt mit unterschiedlichen Erzählansätzen: So exerziert sie beispielsweise verschiedene Lebenssituationen durch anhand der Beschreibung ihrer, hier wörtlich genommenen, Hintergründe, nämlich der dazugehörigen Wandtapeten. Episoden aus dem Liebesleben von Mila und Odilo lassen rätseln, ob es sich bei ihnen um Einschübe aus Milas Erinnerung oder Altfrieds Imagination handelt – wie verlässlich ist dieses Erzählte, von woher stammt es, und über wen sagt es tatsächlich etwas aus? Poschmann entfaltet ihre Sprachpracht besonders in ausgiebigen gegenständlichen Betrachtungen, ohne sich dabei je in Petitessen zu verlieren, etwa wenn sie eine Wesensbeschreibung des Anstaltsessens unternimmt – man staunt, wie viel Literatur sich aus einer Orange herauspressen lässt, welches wirkliche Gewicht ein Glas Apfelmus hat, oder über den hohen Gehalt von Transzendenz in halbfesten Speisen:

Götterspeise ist höchst unbeliebt und wird als Dessert nur unter größtem Vorbehalt gelten gelassen. Dies liegt daran, daß zu viele andere Speisen ebenfalls dieses Göttrige aufweisen, die glibbrige Durchsichtigkeit, das formlos Ungreifbare.

Marion Poschmann erhielt 2013 für Die Sonnenposition den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis und war im selben Jahr damit auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises vertreten. Mit ihrem Gedichtband Geliehene Landschaften. Lehrgedichte und Elegien, der Anfang März erscheinen wird, steht sie unter den Nominierten für den Preis der Leipziger Buchmesse 2016.


> Marion Poschmann, Die Sonnenposition (Suhrkamp)


Ich bedanke mich bei Suhrkamp für das Leseexemplar, um das ich gebeten hatte.


Veröffentlicht von

Drittgedanke

Buntgegenstände / Drittgedanke / Die Beifängerin

2 Gedanken zu „LICHTKÖRPER UND SCHATTENWESEN > Marion Poschmann, Die Sonnenposition“

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