[Rezensentin hier. Seit geraumer Zeit bewegt mich eine These, die persönlichen Umständen, welche hier nichts zur Sache tun, erwachsen ist und deren bekräftigende Verdeutlichung mir gerade in einem Roman begegnete: Monotonie und Wahnsinn liegen dicht beieinander. Einst schrammte ein alter Grieche an dieser These knapp vorbei; dass er sie anders formulierte, mag dem historisch bedingten Umstand geschuldet sein, dass zur Erfahrungswelt des alten Griechen eben nicht der Arbeitsalltag in einer modernen Steuerbehörde zählte. Ebenso gilt für den alten Griechen die Annahme seiner Unkenntnis bezüglich einer teils sitzend, teils rennend ausgeübten Tätigkeit in einem… aber wie gesagt, diese Umstände tun hier nichts zur Sache.]
Der Arbeitsalltag in einer modernen Steuerbehörde gestaltet sich, wie dieses anschauliche Beispiel vermittelt, wie folgt (Ausschnitt aus §25, aus dem Roman Der bleiche König, Autor: David Foster Wallace):
Ryne Hobratschk blättert eine Seite um. Latrice Theakson blättert eine Seite um. Standartprüfergruppenraum 2 gedämpft und hell erleuchtet, ein halbes Fußballfeld lang. Howard Cardwell setzt sich auf dem Stuhl zurecht und blättert eine Seite um. Lane Dean jr. fährt mit dem Ringfinger seine Kinnlade hoch. Ed Shackleford blättert eine Seite um. Elpidia Carter blättert eine Seite um. Ken Wax heftet ein Memo 20 in eine Akte. Anand Singh blättert eine Seite um. Jay Landauer und Ann Williams blättern fast synchron eine Seite um […]. Boris Kratz wippt mit einer irgendwie chassidischen Bewegung, während er eine Seite mit einer Zahlenkolonne abgleicht. Ken Wax blättert eine Seite um. Harriet Candelaria blättert eine Seite um.
Zur Vertiefung des Eindrucks verweilen wir noch ein wenig bei diesem Beispiel (weiterer Ausschnitt aus §25, ebenda, nachdem wir inzwischen mehrere Seiten umgeblättert haben):
Ryne Hobratschk blättert eine Seite um. […] Ken Hindle schlägt eine Bankleitzahl nach. Einige mit dem Kinn in die Hand gestützt. Robert Atkins blättert eine Seite um, während er noch etwas auf der Seite abgleicht. Ann Williams blättert eine Seite um. Ed Shackleford sucht in einer Akte ein dazugehöriges Dokument. Joe Biron-Maint blättert eine Seite um. Ken Wax blättert eine Seite um. David Cusk blättert eine Seite um. Lane Dean jr. spitzt die Lippen, atmet tief ein und aus und beugt sich über eine neue Akte.
Wie sich die Innensicht eines Standardprüfers während solcher Tätigkeit gestaltet, eröffnet sich unter Anderem am Beispiel des eben genannten Lane Dean jr. (siehe §33):
In vier Minuten war wieder eine Stunde vorbei, und dann konnte er eine halbe Stunde später in die Fünfzehnminutenpause. Lane Dean malte sich aus, wie er in der Pause herumrannte, mit den Armen fuchtelte, blanken Unsinn von sich gab und sich zehn Zigaretten auf einmal in den Mund steckte wie eine Panflöte. Jahr für Jahr, ein Gesicht von derselben Farbe wie der Schreibtisch. Jesus Christus. Kaffee war verboten, weil er auf die Akten spritzen konnte, aber in der Pause würde er in jeder Hand eine große Tasse Kaffee halten, stellte er sich vor, während er draußen durchs Gelände rannte und rumschrie. Er wusste, in Wahrheit würde er in der Pause mit Blick auf die Wanduhr im Aufenthaltsraum sitzen und allen Gebeten und Anstrengungen zum Trotz dasitzen und die Sekunden verticken sehen, bis er hierher zurückkommen und weitermachen müsste.
Damit erreicht der bewusste Standardprüfer jedoch längst nicht das Spitzenniveau geistigen Kompensationsdranges, welches sich innerhalb seiner Abteilung der Dienststelle 047 des Steuerprüfzentrums des IRS – International Revenue Service, kurz Service, in Peoria, Illinois, im durchaus pathologischen Bereich bewegt (siehe §26):
[…] der Kraftaufwand, angesichts extremer Langeweile hellwach und akribisch arbeiten zu wollen, kann Niveaus erreichen, auf denen routinemäßig bestimmte Halluzinationen auftreten.
Wie es sich für eine Heimstätte des Ordnungswesens gehört, unterscheidet man hierbei zwischen Heimsuchungen durch Phantome und Geistererscheinungen (siehe §26). Zunächst zu den Phantomen: Diese treten insbesondere bei extrem selbstgestrengen Mitarbeitern auf und verkörpern in ihrer jeweiligen Erscheinungsform die individuell gefürchteten Zerrspiegelseiten der betroffenen Persönlichkeit; die Prüden werden von Visionen obszöner Sexualität heimgesucht, die Ultrahygienischen sehen dreckige, flohwimmelnde Figuren an ihrem Schreibtisch stehen, die zwanghaft Ordentlichen werden von hysterischen Unordnungsphantomen belästigt, die heilloses Chaos in die Ablagereihenfolge bringen. Und nun zu den Geistern (hier diejenigen in der Standardprüferabteilung; weitere treiben sich in den anschließenden Behörden-Blöcken herum, finden im Roman jedoch keine persönliche Erwähnung): Die Unterscheidung zu den Phantomen besteht in ihrer einheitlichen Sichtbarkeit für alle Mitarbeiter. Dieser Definition nach, treten hier zwei Geister auf: Blumquist, zu Lebzeiten ein äußerst effizienter, farbloser Standardprüfer, verstarb 1980 an seinem Schreibtisch, was von seinen Kollegen erst nach einigen Tagen bemerkt wurde. Seither materialisiert er sich gern unter seinen Nachfolgern. Seine unaufdringlichen Besuche, seine ruhige Art werden von den Mitarbeitern durchweg als angenehm beschrieben. Garrity dagegen fällt durch Geschwätzigkeit auf. Er soll sich Mitte der 1960er im Nordkorridor das Leben genommen haben, als das Gebäude noch einer Spiegelfabrik gehörte, für die Garrity als Prüfer tätig war. Schenkt man der Behördenfolklore Glauben, prüfte Garrity drei Spiegel pro Minute (also 1440 Spiegel pro Tag mal 356 Arbeitstagen pro Jahr mal 18 Jahren seiner Lebenszeit) auf Produktionsfehler und war am Ende nicht mehr dazu in der Lage, sich außerhalb seiner Dienstzeit anders zu bewegen, als prüfe er immer noch Zierspiegel auf eventuelle Oberflächenschäden.*
[* Rezensentin hier. Dieses stetig wiederkehrende Spiegel-Motiv erfüllt, schwant mir, eine bedeutende Funktion, es ist für das Roman-Verständnis offenbar außerordentlich wichtig. Als verbindendes Element taucht es im Zusammenhang mit nahezu jeder relevanten Romanfigur auf und verbildlicht, meiner bescheidenen Meinung nach, einen speziellen Aspekt des zentralen Roman-Mantras von der Auflösung des Ich, während dieses sich im psychischen Aggregatzustand anstrengender und monotoner Dauerbeschäftigung befindet.]
Die Schilderungen aus dem Inneren eines monströsen staatsbehördlichen Verwaltungsapparates sind zeitlich in den mittleren 1980er Jahren angesiedelt. Vielleicht deswegen, weil dieser Zeitraum die Endphase einer Ära darstellt, in der ermüdende Massen von Formularen und Akten von Menschenhand erfasst, kontrolliert und zur Weiter- oder Endbearbeitung weitergereicht wurden: Datenverarbeitung war noch keine Bildschirmarbeit, das erdrückende Gewicht dieser Tätigkeit ließ sich also tatsächlich (er)messen, es war sichtbar in Form wachsender oder abnehmender Papierberge. Ein passendes Setting für eine zum Roman ausgeweitete Abhandlung über den Stellenwert des Stumpfsinns in der modernen Gesellschaft.
Ausgerechnet dieser Stumpfsinn ist es, der den Löwenanteil des Lebens ausmacht, aus privatem wie aus gesamtgesellschaftlichem Blickwinkel betrachtet. Und doch steht der Stumpfsinn an sich eigentlich nie im Fokus menschlicher Betrachtungen, im Gegenteil scheint es das Wesen menschlicher Betrachtungen zu sein, sich dem zuzuwenden, was ausdrücklich nicht dem Stumpfsinn zugehörig ist (siehe §9):
Warum schrecken wir vor dem Stumpfsinn zurück? Vielleicht liegt es daran, dass Stumpfes an und für sich schmerzhaft ist; vielleicht ist hier auch der wahre Kern von Wendungen wie ‚todlangweilig‘ oder ‚unerträglich öde‘ zu finden. […] Vielleicht assoziieren wir Stumpfsinn mit psychischem Schmerz, weil Stumpfes oder Schleierhaftes nicht genug Anreiz bietet, um uns von einem anderen, tieferen Schmerz abzulenken, der uns immer begleitet, und sei es nur auf unterschwellige Weise, auf dessen geflissentliches Nichtzurkenntnisnehmen die meisten von uns praktisch all ihre Zeit und Energie verwenden […].
Und dennoch, der Stumpfsinn bleibt unausweichlich, bleibt fester Bestandteil des Lebens. Sollte also nicht gerade in der Fähigkeit, sich dem Stumpfsinn widmen zu können, ohne dabei nennenswerten Schaden zu erleiden, ein gar evolutionswichtiger Vorteil für den modernen Menschen bestehen? Ein ehemaliger Praktikant des IRS äußert in §44 immerhin seine Überzeugung, die auf seinen Erfahrungen im Service fußt und der zufolge die Resistenz eines Menschen gegen Stumpfsinn schlichtweg die alles entscheidende Schlüsselqualifikation bedeutet, um in dieser Welt bestehen zu können.
Dieser Schlüssel besteht nicht aus Effizienz, Redlichkeit, Einsicht oder Weisheit. Es geht auch nicht um politische Gerissenheit, besondere Fähigkeiten im zwischenmenschlichen Bereich, bloßen IQ, Loyalität, Visionen oder andere Eigenschaften, die die bürokratische Welt Tugenden nennt und auf die sie einen untersucht. […] Der Schlüssel […] ist die Fähigkeit, Langeweile auszuhalten. Effizient in einem Milieu zu funktionieren, das alles Vitale und Menschliche ausschließt. […] In einem Wort, unlangweilbar zu sein. […] Das ist der Schlüssel zum modernen Leben. Wenn man gegen Langeweile immun ist, gibt es buchstäblich nichts, was man nicht erreichen kann.
Unlangweilbar zu sein – die unterschätzte, weil unerkannte Superpower. Tatsächlich gibt es jemanden innerhalb der Behörde, der diese Fähigkeit besitzt; konfrontiert mit unendlich langweiligen Berichten, beginnt dieser Jemand sogar zu schweben (siehe §46) – zunächst eine Handbreit überm Stuhlkissen, zunehmend abhebend, auf höchster Konzentrationsstufe dann nur noch gebremst von der Bürodecke. Nicht nur hier wird dem Stumpfsinn eine spirituelle Überhöhung zuteil, es wimmelt vor Metaphern und dramaturgischen Kunstgriffen, die den ganzen Themenkomplex auf religiöses Terrain ziehen. So erzählt etwa Standardprüfer Chris Fogle, Spitzname Abschweifungskönig, im ausgesprochen langgezogenen §22 den Ablauf seiner Hinwendung zum IRS als eine Art Erweckungsgeschichte, die gleich ein ganzes Sortiment christlicher Motive beinhaltet: Chris Fogle, der verlorene Sohn, der Kaputtnik, umherstreunend auf den traurigen Irrwegen der Spaßgesellschaft, verliert durch einen haarsträubenden, wirklich entsetzlichen Unfall den Vater und erfährt später als reuiger Sünder umfassende Läuterung, nachdem ihm zunächst eine Vision erschienen ist und ihm schließlich ein jesuitisch anmutender Ersatzdozent im Steuerprüfung-II-Seminar den entscheidenden Schubs gibt, um endlich den Pfad der Gerechten einzuschlagen, welcher ihn zur Arbeit beim IRS führt.
Nun rekrutiert sich die Mitarbeiterschaft des Service allerdings beim besten Willen nicht mehrheitlich aus Monotonie-Jüngern und Langeweile-Gurus. Aber wer arbeitet dann für den Service? Und, um Himmels Willen, warum? Erklärungen hierfür liefern die rückblickenden §§, in denen einzelne Mitarbeiter und ihre ungewöhnlichen Biografien beleuchtet werden. Für diese Mitarbeiter besteht einerseits der Sinn ihrer Arbeit beim IRS in nichts Geringerem als der Erfüllung ihrer Sehnsucht nach Kontrolle. Andererseits erfüllt dort nichts diese Sehnsucht, außer das regelmäßige Gehalt (um das sich endlose Debatten ranken und das sozusagen die Dienstsprech-Anrede eines jeden IRS-Mitarbeiters bildet, indem die Gehaltsstufenbezeichnung, z.B. G9 für einen unteren Gehaltsrang, die üblichen Anredeformen Mr. und Mrs. praktisch ersetzt – man redet permanent über Gehalt, selbst wenn in ganz anderen Zusammenhängen über Andere redet).
- David Cusk, der von Kindheit an mit Schweißausbrüchen zu kämpfen hat, deren schlimmste Form extreme, von Panik begleitete Sturzschweißergüsse darstellen, vor denen sich der betroffene Cusk wiederum so sehr fürchtet, dass er anstelle eines normalen Erwachsenendaseins eine Existenz im sozialen Abseits entwickelt hat, die sich vollkommen auf die zwanghafte Prüfung, Beobachtung, Auswertung und natürlich Verhinderung von kombinierten Schweiß- und Panikattacken konzentriert.
- Chris Fogle, siehe oben.
- Meredith Rand, eine Schönheit von solch hirnerweichendem Ausmaß, dass sie wegen der Unmöglichkeit, auf Menschen zugehen zu können, ohne von diesen nur wie betäubt angestarrt zu werden (sozusagen eine schöne Medusen-Variante), den Großteil ihres geschlechtsreifen Lebens in elender Einsamkeit zubrachte. In dem Therapeuten, der sie psychologisch betreute, fand sie ihren Ehemann, im IRS ihren Arbeitgeber.
- Lane Dean jr., der immer ein gläubiger Christ sein wollte, darin aber nie zur erhofften Seligkeit gelangte und mit seinem Job beim Service nun eine Familie ernährt, die er aus christlichem Pflichterfüllungswillen heraus gründete.
- Personalchef Stecyk, ein pathologisch freundlicher Übergutmensch, dessen sozialer Aktionismus, grenzenlose Hilfsbereitschaft und unerträgliches Strebertum schon seine eigene Mutter in die Depression trieben, obgleich diese keinerlei altruistischen, sondern unschuldig aufrichtigen Beweggründen entspringen (sozusagen eine hoffnungslose Jesus-Variante).
- Claude Sylvanshine, dessen Aufgabe darin besteht, mittels seiner seherischen Fähigkeit im Bereich eigentlich unnützer persönlicher Daten und Hintergründe die bestgeeigneten Kandidaten für die Mitarbeiterrekrutierung des IRS ausfindig zu machen (sozusagen eine menschliche Version von Suchmaschine, die das zum Zeitpunkt des Roman-Geschehens noch nicht existente Google vorwegnimmt).
- Toni Ward, eine mit allen White-Trash-Wassern gewaschene Überlebende einer verwahrlosten Kindheit, die den Rachefeldzug eines der Ex-Freunde ihrer Mum nur deshalb überlebte, weil sie die Gabe besitzt, sich absolut glaubwürdig totzustellen.
- David Wallace, ein von schrecklichen Hauterkrankungen gebeutelter Neuzugang in der IRS-Dienststelle in Peoria (sozusagen das Gegenstück zur schönheitsgebeutelten Meredith Rand), der am Tag seiner Ankunft in eine Slapstick-artige Verwechslungsgeschichte hineinstolpert: Es gibt einen weiteren David Wallace – hochrangiger Dienstgrad, glorreiche Verdiensthistorie -, der an jenem Tag ebenfalls seinen Dienst in Peoria antreten soll und dessen Personalnummer fatalerweise mit der des Neulings (sozusagen eine Verkörperung des Fehlers im System) vertauscht wurde. Besondere Ironie dabei: Der Neuling-Wallace verdiente sich während seiner Zeit am College auf illegale Weise Geld dazu, indem er für reiche, versnobte und stinkend faule Kommilitonen Arbeiten schrieb, die er unter ihrem Namen einreichte.
Halt – da wir nun beim doppelten David Wallace angelangt sind, muss hier der Hinweis darauf erfolgen, dass David Wallace tatsächlich in dreifacher Form im Roman vertreten ist: Als zwei in einer Vertauschungskomödie verbundene Figuren – und als sich direkt an seine Leserschaft wendender Autor (siehe §§9,24).
Autor hier. Also der reale Autor, der echte Mensch, der den Bleistift führt, keine abstrakte narrative Instanz. Zugegeben, manchmal taucht in Der bleiche König eine solche Instanz auf […]. Aber das hier bin jetzt ich als echter Mensch, David Wallace, vierzig Jahre alt, Sozialversicherungsnummer 975-04-2012, und ich wende mich an diesem fünften Frühlingstag des Jahres 2005 aus meinem gemäß Formular 8829 steuerabzugsfähigen Heimbüro am Indian Hill Blvd. 725, Claremont 91711, Kalifornien, an Sie, um Ihnen Folgendes mitzuteilen:
Dies alles ist wahr. Dieses Buch ist wirklich wahr.
[Rezensentin hier. Mehr ließ sich an Inhaltlichem für eine Kurzvorstellung nicht herausquetschen, den Rest muss man, der wunderschönen Kompliziertheit wegen, bitte selbst lesen. Nur noch kurz zum Titel: Der bleiche König könnte sich auf Verwaltungschef Glendenning beziehen, der in einer Szene, in der er im Fahrstuhl feststeckt, vom Neonlicht beleuchtet reichlich blass aussieht. Glendenning verkörpert mit seiner Weigerung, die Behörde auf rechnergestützte Bearbeitungsvorgänge umzustellen, eine untergehende Epoche. Das Stichwort Informationszeitalter, das wollte ich im Roman-Kontext eigentlich noch… ach. Nun, ich könnte noch so viel…., aber wie gesagt, bitte selbst lesen.
Der bleiche König war das letzte Romanprojekt, an dem David Foster Wallace schrieb. Nach seinem Freitod im September 2008 übergab seine Familie die unzähligen, noch nicht in Reihenfolge gebrachten Roman-Fragmente an Michael Pietsch, der Wallace über Jahre hinweg als Lektor begleitet hatte. Pietsch hat aus all dem einen tatsächlich lesbaren Roman zusammengestellt, der 2011 im Original, 2013 auf Deutsch, übersetzt von Ulrich Blumenbach, erschien.
Stellenweise glaubt man in noch in Überlegung stehende Abschnitte hineinzulesen, man bemerkt einen groben sprachlichen Duktus hier, sich wiederholende Wendungen dort, doch sind diese Momente selten zu finden. Der bleiche König wirkt sprachlich ganz und gar nicht unvollendet. Nur seinen Figuren merkt man an, dass sie mit Ende der herausgegebenen Fassung noch nicht auserzählt sind, und das versetzt mir zum Schluss einen wirklichen Stich. Ich bin nicht der pseudo-sentimentale Typ, der in solchen Augenblicken das Heulen kriegt – man hat nicht das Recht, aus der Ferne und mit einem Keks im Mund einen Tod zu bejammern, über den man nichts weiß, während dort eine Familie zusammensitzt, der jener Tod gehört – aber das große Schlucken kriege ich trotzdem, als ich das Buch auslese und denke: Adoptiv-Vater Pietsch hat den Figuren merklich viel Liebe angedeihen lassen, aber Waisen sind sie und bleiben sie doch. ]
Sinn und Gehalt. Darum geht es. Ich habe diesen Text erstmal mit einem Lesezeichen versehen. Das will ich in Ruhe nochmal lesen. Was ich davon wahrgenommen habe, hat mir zu denken gegeben. Danke schonmal.
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Bis später 🙂
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Großartig besprochen, vielen Dank. Auch die von dir zitierten Textpassagen sind eindrucksvoll – ich habe bisher vor dem Umfang des Buchs zurückgeschreckt – werde es jetzt aber aus lauter Langeweile lesen 🙂 LG
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Manchmal sind sie´s auch so gar nicht, also eindrucksvoll, die Textpassagen. Aber darin versteckt sich dann gerade das, worauf man aufpassen muss (da treffen das Beschriebene und die Form zusammen). Irgendwo im Roman heiß es auch, sinngemäß: Es gibt Dinge, die sind so groß, dass man sie gar nicht sieht. Das beschreibt ganz gut diesen Effekt, dass man während des ganzen Lesens (ging mir so) dem Wichtigsten irgendwie nicht so richtig auf die Pelle rücken kann – da ist was, aber man kriegt es nicht zu fassen. Erst so gegen Schluss kommt man näher ran. Ich kann nicht damit aufhören, mich zu fragen, wie´s fertig ausgesehen hätte. Viele Grüße!
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„Es gibt Dinge, die sind so groß, dass man sie gar nicht sieht.“
Dank Deines Ausdrucks „Unlangweilbar zu sein“ habe ich erst begriffen, warum die Vogonen so waren. (https://allesmitlinks.wordpress.com/2012/02/22/haben-oder-sein/) Oft sind die Ursachen recht unspektakulär. Die Auswirkungen weniger. Letztendlich geht es wohl um „Sinn und Gehalt“ und was ein ‚Bleicher König‘ daraus zu machen vermag.
Danke dafür. mick.
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Die Lorbeeren für „Unlangweilbar“ muss ich an DFW abgeben. Extra-Lorbeeren werden hiermit für die Vogonen-Überlegung erteilt. Dass ich auf den Vergleich gar nicht gekommen bin….!!! Dass Unlangweilbarkeit und Fehlen von Empathie zwei Seiten einer Medaille sind, erkennt man bei den Vogonen mit voller Deutlichkeit. Beim nächsten Termin im Finanzamt darf ich mein Handtuch nicht vergessen. Viele Grüße, Sonja
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Interessant finde ich diese Stumpfsinnsphobie. Sie ist doch der wahre Schlüssel zu dem Werk, könnte ich mir vorstellen. Wer schreckt denn wirklich vor dem Stumpfsinn zurück? Das ist doch eine überintellektualisierte Behauptung! Wie sind denn die Einschaltquoten bei Fußballspielen? Wie gut verkaufen sich Ballerspiele? Welches ist die Tageszeitung mit der höchsten Auflage? (Aber nein: Was die Menschen IN WAHRHEIT wollen, ist intellektuelle Vielfalt!) Angst vor Stumpfsinn ist allenfalls bei Schriftstellern verbreitet, die gehandelt werden als der neue Lawrence Sterne! Auch dass man einen Roman darüber schreibt, wie unerträglich das Im-Büro-Hocken ist — es ist ja völlig egal, weshalb man in diesem Büro hockt, in jedem Büro zu hocken ist Höchststrafe! –, sagt viel über das Hinter-dem-Roman aus. Nur wer nie das Vergnügen hatte, in einem Büro zu hocken und den Menschen dabei zuzusehen, wie sie sich darum bemühen, in einem bizarren Wettstreit die Zimmerpflanzen zu übertreffen, empfindet das Bedürfnis, einen Roman zu lesen, dessen zentrales Motiv die Kunst ist, Langeweile zu ertragen. Oder? (Das ist keine rhetorische Frage, sondern ich fand David Foster Wallace in seinen Kurzgeschichten brillant, finde aber am „Infinite Jest“ noch nicht mal minimales Vergnügen. Mir scheint das irgendwie eher eine alphabetische Gewichtheberübung fürs „Guinness-Buch der Rekorde“ zu sein. Viel, viel Wichtigtuerei. Schwebt da nicht auch ein unendlich masturbatorisches Verlangen der literarischen Szene immer durch den Raum der Seiten? (Beachte bitte, wie poststrukturalistisch fein ich den „Raum der Seiten“ aufklappe!) „Auf Seite 1682, da hatte ich dann so ein Gefühl im Bauch, so ein Flattern!“ Bitte, sag mal. Wie viel ist Projektion, wie viel ist „sheer genius“? Wie viel ist Hype, wie viel ist Hyper-Text? Kann denn nicht ein Mensch in dieser verdammten Blogosphäre mal ein ERLÖSENDES Wort sprechen!?)
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Es interessiert mich nicht eine halbe Sekunde lang, ob das, was ich lese, egal was, nun objektiv betrachtet irgendeinen Genie-Faktor offenbart oder nicht, ob es Qualität hat – und wie man „Qualität“ überhaupt definieren will -, ob es einen Hype ausgelöst hat und wie gerechtfertigt dieser ist, sondern mich juckt allein die Frage, ob ich selbst ehrlich was damit anfangen kann oder eben nicht. Franzen zum Beispiel geht mir eiskalt am Allerwertesten vorbei – betrifft mich alles nicht, da klingelt überhaupt nichts bei mir. Lethem: Da hat mich die Festung der Einsamkeit total angesprochen, alles Andere empfinde ich als reinen Buchstabenringelpietz. McCarthy: BOOM, voll ins sprichwörtlich Schwarze getroffen, und die Glaubwürdigkeit des Archaischen darin sehe ich durch die Tatsache, dass der kleine Cormac selbst nicht in einem Millieu aufwuchs, das dem seiner Settings sonderlich ähneln würde, kein bisschen angekratzt. Dass Wallace über die stumpfsinnige Arbeit in einer Steuerbehörde geschrieben hat, während er selbst eben nicht seinen Lebensunterhalt mit stumpfsinniger Arbeit bestreiten musste, macht den Roman selbst für mich nicht angreifbar – da zählt etwas Anderes: Meine eigene Erfahrung eines Berufsalltags, der von Stumpfsinn geprägt ist, finde ich dort auf den Punkt gebracht wieder. Stumpfsinn bedeutet hier nicht die irgendwie geartete Beschäftigung mit Belanglosigkeiten, die mal was Heilsames an sich haben kann, solange sie zum gelegentlichen Abschalten praktiziert wird, und die aber heillose Verdummung bedeutet, sobald sie inhaltsstiftend für ein ganzes Leben wird (den Grad meiner Auslieferung an das Belanglose verschulde ich im Privaten selbst, im Beruflichen wird er von den oberen Etagen festgelegt). Diese Beschäftigung mit Belanglosigkeiten bietet einem, wenn man denn mag, immer noch die Möglichkeit, mit den Gedanken bei Wichtigerem zu sein. Der Stumpfsinn allerdings, von dem im Bleichen König die Rede ist, besteht in monotonen Vorgängen, die gleichzeitig die volle Konzentration der Beschäftigten einfordern, also geistigen Fluchtversuchen kein Türchen offen lassen. Diese Unterscheidung war für mich der Knackpunkt am Roman – damit hatte er mich. Und die Grundhaltung des Ganzen wird nicht von intellektuellem Ekel vor diesem Stumpfsinn bestimmt, sondern erklärt gerade diesen intellektuellen Ekel zu einer Schwäche, zu realitätsentfremdeter Hybris. Das Intellektuelle rettet oder verschönert hier gar nichts. Es ist der Stumpfsinn, der dafür sorgt, dass alles funktioniert, der also wirkliche Bedeutung inne hat. Weil der Intellekt auf dem Boden, den der Stumpfsinn bereits erobert hat, als Vehikel des Menschlichen nicht mehr vorankommt, spielt das Spirituelle eine so große Rolle, was sozusagen einen Rückgriff auf prä-intellektuelle Methoden bedeutet, mittels derer der Mensch eine Begreifbarkeit und Beherrschbarkeit seiner Lebensumstände erwirken will. Das reale Leben ist schließlich nicht umsonst verseucht vom Massenphänomen „Esoterische Lebenshilfe“.
Jetzt habe ich irgendwie den Faden verloren…
Wichtigtuerei, ja. Ich, für meinen Teil, mag auch den Unendlichen Spaß. Ich ertrage es nur nicht, wenn Leute diesen Buchtitel andächtig flüstern und dabei eine Körperhaltung annehmen, als achteten sie auf den perfekten Sitz ihres imaginären Krönchens. Wie man sagt „Am Ende ist Fußball nur Sport“ sollte es in der Literatur keine solchen Heiligtümer geben.
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Dritti, ich Idiot hab mir den „Unendlichen Spaß“ mal als englisches Taschenbuch gekauft! Weil es die deutsche Ausgabe noch nicht gab. Was mach ich denn jetzt!? Im Original stehe ich das AUF KEINEN FALL durch!
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Du Irrer! Schneid´s klein, verbuddel es im Topf der Yucca-Palme und tu so, als hätte es dieses Ding in Deinem Haushalt nie gegeben. Dann geh in die Buchhandlung und bestell die Übersetzung, mit dem Zusatz „als Geschenk für einen Freund – es soll ja Leute geben, die´s tatsächlich noch nie gelesen haben (abschätziges Hüsteln)“. Eine andere Lösung fällt mir jetzt auch nicht ein.
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Und dann die Buchhändlerin so: „Meinen Sie DIE TOTEN AUGEN VON LONDON?“
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