Während des Zweiten Weltkrieges ging ein Gespenst um, das seine Signatur allenorts hinterließ, wo amerikanische und britische Truppen auf dem Vormarsch waren: Ein comichaftes Gesichtchen, unterschrieben mit dem Tag Kilroy was here, fand sich auf unzähligen Hauswänden, LKW-Planen, Schiffsrumpfen, Flugzeugverkleidungen, in europäischen Kleinstädten, im Norden Afrikas, auf pazifischen Inseln und, einer hübschen Anekdote zufolge, sogar während der Jalta-Konferenz in den Toilettenräumen eines gesicherten Gebäudes, was Stalin zu einem irritierten Kommentar bewegt haben soll. Die Magie Kilroys bestand darin, der eigentlichen Truppenbewegung immer bereits einen halben Schritt voraus zu sein (dahinter steckte ein halsbrecherischer, sportlicher Wettbewerb der Soldaten, was der Magie indes keinen Abbruch tat). Vom dahingeblödelten truppeninternen Running Gag wurde Kilroy zur Identifikationsfigur für, zunächst, die US-Streitkräfte, nach und nach dann für die Gesamtheit der westlichen Alliierten; die Territorialmarkierung per Kritzelei bildete ein geradezu kindliches Pendant zu den Raumeroberungen, die, jenseits aller kindlichen Verspieltheit, mit Waffen und schwerem Gerät gemacht wurden. Kilroy, diese Strichmännchen-Version des Boy Next Door, war mehr als nur bloßes Maskottchen, nämlich: ein kleiner Gott der Unverwundbarkeit, der sich weit in Feindesland hinaus wagte und sich mit List und Zähigkeit durch Gefechte kämpfte, um schließlich, unberührt geblieben von der Wucht des Grausamen, den geschlagenen Schlachten seinen lakonischen Pennälerspruch als Pointe aufzusetzen – Kilroy was here. Nachdem er seine Blütezeit im Zweiten Weltkrieg und Koreakrieg erlebt hatte, während derer er unbestreitbar weit herumgekommen war in der Welt, fand Kilroy seinen Platz in den Annalen der kollektiven Popkultur.
Im gleichen Verhältnis wie die Popkultur zur griechischen Mythologie stehen die Figur Kilroy und eine andere, eine olympische Figur des Krieges zueinander: Ares ist kein Phänomen einer Zeit, sondern die Allegorie eines zeitlosen Phänomens, er drückt keinen Kollektivgeist aus, sondern stellt eine kollektiv empfundene Absolutheit dar – die des Kriegsschreckens. Während seine Halbschwester Athene für Kampf und Weisheit gleichermaßen steht und ihre schutzgottheitliche Zuständigkeit somit ins Ressort Strategie-Operation-Taktik fällt, ist Ares, ihr (nicht zufällig) männlicher Gegenpart, der Gott des kriegerischen Handwerks, der Schlacht, des Massakers. Wie Kilroy bewegt sich Ares inmitten des Feldgeschehens, doch anstatt darauf bedacht zu sein, irgendwie mit heiler Haut durchzukommen, liebt Ares das Blutbad, schwingt sein Schwert, dass es kracht, und das nicht etwa Kaugummi kauend – er kaut Knochen. Ares verkörpert die viehische Rohheit des Tötens an sich. Ehrbegriffe wie Heldenhaftigkeit oder Ruhm gelten ihm nichts, ebenso wenig die Wissenschaften oder schönen Künste, und seine Verhasstheit unter den Menschen setzt sich unter den Göttern des Olymps fort: Selbst von Zeus wird sein allen geistigen Dingen so abgewandter und den düstersten Vergnügungen zugeneigter Sohn verachtet. Die sinnliche Liebe Aphrodites dagegen zieht er an, sie bleibt ihm in einer notorischen, ehebrecherischen Beziehung dauerhaft verbunden. Und sie ist bei weitem nicht seine einzige Liebhaberin. Mit seiner Entsetzlichkeit einher gehen Ares‘ bestechende Attraktivität und seine archaische Sexualität, wodurch der Krieger zum männlichen Idealbild erhoben wird. Zu den Kindern, die aus seinen verschiedenen Verbindungen hervorgegangen sind, zählen nicht von ungefähr Deimos, der Gott des Grauens, und Phoibos, Gott der Furcht. Als kennzeichnende Attribute werden Ares naheliegenderweise Schwert, Schild und Helm zugewiesen, außerdem die brennende Fackel, der Hund und der Geier, sprich: Er betreibt Brandschatzung, schafft verbrannte Erde, verbrannte Seelen, ist Kommandant der willigen Gehorsamen, voll Geifer, auf Hetz- und Treibjagd, fördert Gezänk und Aasfresserei und gräbt die Knochen aus dem Fleisch hervor.
Ausflug mit meinem Sohn zum Badesee: Alljährlich im Frühjahr wird der Strandabschnitt des chronisch modderigen Binnensees, der unsere Gegend im Sommer zum überlaufenen Naherholungsgebiet für Großstädter macht, mit unverbrauchtem Sand aufgeschüttet. Eine Spezialfirma pumpt einfach sandigen Seeboden an Land, und der frische Aushub bietet reichlich Gelegenheit für Schatzsichtungen, sofern man eben Feuersteinen und Flussmuschelschalen, einst über Bord gegangenen Sonnenbrillen, sandgeschmirgelten Glasscherben oder Möwenknochen etwas abgewinnen kann. Darüber hinaus birgt der See jedoch allerhand Kriegsaltlasten. Ob Bombenschutt hier verklappt worden ist, kann ich nicht sagen, sicher ist aber, dass die hiesige Bevölkerung im Vorfeld der Entnazifizierungsmaßnahmen durch die Westalliierten sich ihrer Hitlerzeit-Restbestände entledigte, indem sie Uniformen und Munition im See versenkte. Mein Sohn quietscht aufgeregt, als er einen messing- und rostfarbenen Klumpen entdeckt, den ich ihm jedoch augenblicklich aus der Hand reiße. Hey! trötet er los, dann Was ist das?, und da tue ich etwas, das sonst nicht so meine Art ist, ich drücke mich um die Antwort: Äh, ich pack das mal weg, okay? Aber zum Glück ist der gerade noch brandheiße Kaffee jetzt schon ein kalter, jetzt nämlich hat mein Sohn die nächste Sensation entdeckt, ein rätselhaftes Plastikteil, und während ihn dieses schwer beschäftigt, schaue ich mir den korrodierten Patronen-Batzen in meiner Hand etwas genauer an. Kilroy war hier, denke ich, und Ares auch.
Ging mein Vater als Junge mit seinen Freunden auf Schatzjagd, im Sandsteinbruch und dem umliegenden Waldgebiet, nicht allzu weit von hier gelegen, trugen die Kinder in ihren Taschen danach stolz ihre speziellen Funde nach Haus. Fossilien gab es dort zu entdecken, Ammoniten, mitunter groß wie Suppenteller, versteinerte Muscheln oder zwischen den Schichten des Gesteins gepresste Ur-Blumen. Und Handgranaten. Das Eine wie das Andere waren diese Dinge Zeugen untergegangener Reiche voller Ungetüme, und so trieben sie die Fantasie an, wodurch sich schauderhaft-abenteuerliche Vorstellungen von der Vergangenheit entsponnen. Nach den Steinplatten mit Saurierspuren durfte man den Dorfschullehrer ausgiebig befragen. Fragte man aber nach den Handgranaten, gab es keine Antworten, nicht vom Lehrer, und von den Eltern oder Großeltern schon gar nicht.
Ob nun Patronenklump aus dem See oder Handgranate aus dem Steinbruch – so ein Stück Kriegsmetall in Händen zu halten, erklärt einem ein ganzes Generationendrama in nur einem Satz: Es gibt die, die den Krieg erlebt haben, und es gibt die, die ihn nicht erlebt haben.
Stirbt hierzulande heute ein Kind, versteht man das als unvorstellbare Tragödie. Erhält man Nachricht von der unheilbaren Krankheit eines nahen Angehörigen, ist die Wirkung dieses Schlags unerträglich mächtig. Szenarien wie Vergewaltigung oder systematische, sadistische Quälerei lassen uns deren Opfern ein erschüttertes Mitleid entgegenbringen. Verliert man Freunde durch einen Unfall, begleitet einen für längere Zeit ein unwirklich anmutender Schrecken. Brutaler Mord sticht als für die Angehörigen unverwindbarer Sonderfall aus der heutigen Lebensnormalität heraus. Der Katalog der möglichen traumatischen Lebenserfahrungen ist lang, und für uns selbst und die von uns Geliebten fürchten wir nichts so sehr wie eine persönliche Begegnung mit ihm. Erlebt man heute Versehrungen oder Verluste, fordert man mit selbstverständlichem Anspruch sein Recht auf Untersuchung, Aufklärung und Rechtsprechung in jener Angelegenheit ein.
Wir bewerten Leid als eine Besonderheit, und wir betrachten es immer als singuläres Leid. Leid und Unrecht im Krieg betrachten wir dagegen gängigerweise, vielleicht aus Einfachheitsliebe, als Kollektiverfahrung. Doch Qualen bemessen sich nicht an ihrem Umfeld, ihren Umständen, ihren äußerlichen Zusammenhängen, sondern sie sind und bleiben ein individuelles Erfahren, und so muss jedem Leid im Einzelnen begegnet werden, auch wenn es sich vieltausendfach ereignet hat.
Ein Krieg ist mehr als die Summe seiner Toten. Vielleicht ist jeder Krieg ein irdisches Schwarzes Loch. Vielleicht ist er auch tatsächlich ein Spielplatz von Gott und Teufel – aber was glaube, was weiß ich denn schon? Die Wirkung eines Krieges jedenfalls geht weit hinaus über den Zeitraum, in dem er währte, und über die Verluste, die man haargenau zu berechnen vermag oder auch nicht. Jedem Leid wohnt eine Expansionsenergie inne, ein Einfluss, der das Folgegeschehen maßgeblich mitbestimmt, auch über Generationengrenzen hinweg. Das wird besonders dort greifbar, wo eine ganze Gesellschaft geprägt wird von verschleppten Traumata oder verschwiegener Schuld, von Unverwundenem oder Ungebeichtetem. Der Dauerdruck, den das Kontrollieren einer solchen psychologischen Gemengelage schafft, explodiert mitunter eine Generation später, wenn der Nachwuchs beginnt über die Eltern zu richten.
Die gute alte Zeit: Eingedenk der vielsagenden, innerhalb meiner Familie erzählten Episoden aus dem Damals, die ja bloß einen Bruchteil dieses Damals abbilden, frage ich mich immer wieder, wie groß das tatsächliche Ausmaß des Wahnsinns hinter den Fassaden zu jener Zeit gewesen sein muss. Ich denke da nicht nur hinter die Spitzengardinen des Nachkriegsreihenhäuschens irgendwo im ländlichen Niedersachsen, sondern an den Alltag überall dort, also weltweit verstreut, wo das aus Panik, Hunger, Tod und Gewalt gemachte Gestern das Heute fest in seinem Griff hielt.
Man kommt aber an diesen Wahnsinn nicht heran, sofern man ihm nicht selbst unterliegt. Man macht gleich zum Einstieg den Fehler in den falschen Dimensionen zu denken. Man denkt sich – man kann eben nicht anders – von außen heran, geht von Zahlen aus, anstatt sich Gerüche und Geräuschkulissen auszumalen, man hört sich an, was Menschen erzählen, versäumt dabei aber, das darin Verschwiegene gefühlsdetektivisch zu rekonstruieren. Man vergisst den Faktor der Kriegsdauer und dessen zermürbende, zersetzende Wirkung: Versucht man, sich selbst in eine solche Situation zu versetzen, stellt man sich meist eine falsche Version von sich selbst, nämlich sich selbst in seiner aktuellen Verfassung, in jener Situation vor, man bedenkt oft nicht, welche Auswirkungen auf Umwelt und Mensch die vorangegangenen Monate oder Jahre bereits gezeitigt hatten. Die eigenen Erfahrungen taugen nicht als Besteck, um die Erfahrungen der Anderen zu sezieren, sofern dazwischen keine Deckungsgleichheiten bestehen: Körperlicher Schmerz, Hunger, Todesangst – solcherlei Dinge lassen sich durch Nachdenken nicht nachfühlen.
Man kann problemlos wissen, was Zwangsarbeit ist, ohne den leisesten Schimmer davon zu haben, wie Zwangsarbeit ist. Man begreift ein KZ nicht, indem man es besucht. Man versteht eine Atombombe nicht, indem man sich in Physik weiterbildet. Man fragt sich, wie viele Steine durch Trümmerfrauen-Hände gegangen sind, aber man fragt nicht auch automatisch, wie viele Leichenteile. Man fragt sich, wie Zivilisten in Stalingrad überleben konnten, aber man scheut davor zurück, sich bis ins Detail vorzustellen, wie ein halbverwester Pferdekadaver schmeckt.
Blickt man auf die Folgejahre, auf Rock´n Roll und 68er, erfasst man zwar die Motive einer Generation, die ausbrechen wollte aus einem beklemmenden, vergifteten Heimat-Mief, doch man schaut mit heutigen Augen darauf und besitzt nicht den umfassenden Blick für die Bedingungen, die die Zeit stellte: Man erkennt nicht mehr, wie minenverseucht, hysterisch, oft sprachlos solche Auseinandersetzungen tatsächlich verlaufen sein müssen, wie beispielsweise die zwischen einer Mütterschicht, die von existenziellen Versorgungsängsten geprägt worden war, deren eheliches Leben mit kriegsheimgekehrten Männern oft alptraumhafte Züge angenommen hatte, die mitunter mit kriegszeitlichen Vergewaltigungserfahrungen vollkommen allein gelassen worden waren, die sich nie mitteilen konnten und durften, und einer Töchterschicht, die sich nicht mehr fremdbestimmen lassen, die sich sexuell nicht mehr verstecken wollte.
Dass man den Krieg nie begriffen bekommt, bevor man nicht selbst bis über beide Ohren drinsteckt – vielleicht hat Ares selbst das so eingerichtet. Dass sich aus der brodelnden Traumasuppe vorangegangener Kriege oft der Beginn des nächsten herausbildet, könnte auch eine seiner Ideen gewesen sein. Falls er da wirklich seine Finger im Spiel hatte, waren das clevere Weichenstellungen, die Ares eine rosige Gegenwart und Zukunft sichern.
Foto: Grebe
Ich danke Dir für diesen Text.
LG Erich
LikeGefällt 1 Person
Ich ziehe den Hut, Sonja. Mir ist lange nicht mehr die Spucke vor Begeisterung weggeblieben, bei Deinem Beitrag, auch nach dem zweiten Mal durchlesen, schon.
Grandios, treffend, anrührend, mit einem Wort: exzellent!
Liebe Grüße,
Gerhard
LikeGefällt 3 Personen
Dass Krieg unbegreiflich bleibt, daran ändert auch dieser gelungene Text nichts. Es ist geradezu Teil seiner Natur, sich endgültiger Faßbarkeit zu entziehen, will ich meinen.
Und wer im Krieg ist, hat anderes zu tun, als ihn zu begreifen. Er will nur überleben, wenn er es denn merkt.
Chapeaux
Ihr Herr Hund
LikeGefällt 4 Personen
Ein ganz starker Text!
LikeGefällt 2 Personen
Was für ein großer Bogen, den du dort spannst. Und doch sind es die kleinen Details, die hängen bleiben. Wie hungrig muss einer gewesen sein, damit er sich an einen verwesenden Pferdekadaver heran macht…
LikeLike