Seine ersten Gedichte veröffentlichte Miklós Radnóti (geb.1909 in Budapest, gest.1944 bei Abda) Ende der 1920er Jahre. In den anschließenden Jahren erschien seine vom Expressionismus beeinflusste, mitunter wegen Obszönität verbotene Lyrik in hoher Schlagzahl. Junger Dichter, wildes Schreiben.
Im Gedicht Nicht einmal der Wind bläst hier wird, erinnernd an Alfred Lichtensteins Sommerfrische (wo es heißt: Wär doch ein Sturm…), ebenso nach Aufruhr verlangt, hier jedoch möchte das Ich selbst die aufrührende Kraft sein: bezahlt mir nur zwei starke Schuhe, und ich gehe nach Indien als Sonne scheinen. Ostwärts gehen, sonnenaufgangwärts sehen.
Nicht einmal der Wind bläst hier (1931)
Alles schläft hier, auch zwei Blumen, schnaufend, lehnen sich aneinander, träumen von Regen, erschauern und dehnen sich; bezahlt mir nur zwei starke Schuhe, und ich gehe nach Indien als Sonne scheinen, wo auf weißen Straßen morgens der Aufruht umläuft mit den jungen Massen in seinem schönen Rothaar! oder ich glänze als Schnee auf Siebenbürgens Firsten, wo in die bestickten Röcke der Balladen schwarz der Nachtwind bläst, denn nicht einmal der Wind bläst hier! bäuchlings liegt hier der Sonnenschein auf den Straßen un kratzt sich, von großen Dingen träumend, am Hintern.
Der große Aufruhr wird kommen und ins Entsetzliche umschlagen, er wird Radnóti wegen dessen jüdischer Abstammung verfolgen, ihn zum Zwangsarbeiter in serbischen Kupferminen machen und ihn schließlich westwärts, untergangwärts auf einen allesfressenden Gewaltmarsch schicken, den zum Schluss die Erschießungskommandos in Massengräber umleiten werden. In einem solchen wird man 1946 bei Exhumierungsarbeiten in Westungarn Radnótis letzte Gedichte auffinden. Untergegangenes, Wiederaufgegangenes.
Gewaltmarsch (1944)
Verrückt ist, wer, gestürzt, sich erhebt und weiterschreitet, Knöchel und Knie knickt, trotzend dem Schmerz, der ihn durchschneidet, und weiterschreitet, so als würden ihn Flügel heben, umsonst ruft ihn der Graben, er wagt nicht, nicht zu leben. Vielleicht sagt er dir, was ihm solch Weitermühn gebot: die Frau, die auf ihn wartet und einst ein weisrer Tod. Dabei ist er verrückt, der Gute: in seinem Heim gehen Brandwind, Staub und Asche, sonst niemand aus und ein. Die Rückwand fiel zerstückelt, geknickt der Pflaumenbaum, voll Angst, die stillen Nächte verloren ihren Flaum. Könnt ich doch glauben: Nicht nur im Herz blieb unversehrt das Heim, die Heimat, alles was uns im Leben wert, und man zurückkehrn könnte und sitzen hinterm Haus; friedlich die Bienen summen, das Pflaumenmus kühlt aus, Altweibersommer sonnt sich, ein Ast im Garten knackt, in den Laubkronen wiegen sich Früchte prall und nackt und Fanni steht und wartet blond vorm Rotdornenhag, und langsame Schatten schreibt der langsame Vormittag. Vielleicht kann’s doch so werden, der Mond strahlt brüderlich. Freund, bleib doch stehen, ruf mich an: ich erhebe mich!
Was für ein bewegender Beitrag. Da musste ich doch schlucken, nach 13 Jahren: von Indienträumen zu diesem Todesmarsch. „er wagt nicht, nicht zu leben.“
Danke fürs Bekanntmachen.
Viele Grüße
HerbertSteib
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Das ging mir ähnlich, das Schlucken. Ich wusste eigentlich nichts über Radnóti (wie über so viele Dichter und Schriftsteller aus den Balkan-, Nahost-, ehemaligen GUS-Gebieten – da besteht für mich viel Entdeckungsbedarf), und dann las ich zufällig eben diese zwei Gedichte nacheinander und die Parallelen und der Kontrast waren so schneidend. Viele Grüße, Sonja
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Heftig! Vielen, vielen Dank, ohne dich hätte ich sicher nie zu diesen Worten gefunden!
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Wer weiß – Frau Zufall hat ja oft ihre Finger im Spiel. Das war zumindest bei mir nicht anders in Sachen Radnóti. Viele Grüße, Sonja
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