Naomi, Naomi – schweißgebadet, glupschäugig, dick, das Kleid aufgeknöpft an der Seite – Haar ins Gesicht, die Strümpfe hexig verrutscht – schreiend um Bluttransfusion – eine gerechte Hand erhoben – Schuh darin – barfuß beim Apotheker –
Der Feind kommt näher – welche Gifte? Tonbandgeräte? FBI? Zhdanov versteckt sich hinter der Budel? Trotzkij mischt Rattenbakterien hinten im Laden? Onkel Sam in Newark Todesdämpfe heckend im Schwarzendistrikt? Onkel Ephraim, von Mord berauscht in der Politbar, taktiert für Haag? Tante Rose pissend in die Nadeln des Spanischen Bürgerkriegs?
bis die 35$ Mietambulanz aus Red Bank da war – Griffen ihre Arme – geschnallt auf die Bahre – stöhnend, vergiftet von Imaginarien, Chemie speiend durch Jersey, Gnade erflehend von Bezirk Essex bis Morristown –
Wieder retour ins Greystone wo sie drei Jahre lag – das war der letzte Durchbruch, ins Tollhaus zurück gebracht –
In welchen Abteilungen – Ich ging dort später, öfter – ältere katatonische Damen, grau wie Wolke, Asche oder Mauern – sitzen summend auf den Böden – Stühle – und die zerknitterten Hexen auf Schlurf und Fluch – betteln um mein 13-Jahre-Mitleid –
– Ich ging manchmal allein und suchte die verlorene Naomi, Schock behandelt – und mußte antworten, „Nein, Mama, du bist verrückt – Vertrau den Drn.“ –
(Ausschnitt aus Kaddisch, Für Naomi Ginsberg, 1894 – 1956)
In seinem Lang-Gedicht Kaddisch arbeitet sich Allen Ginsberg durch Erinnerungen und Gedanken an seine Mutter Naomi. Ihre psychische Erkrankung: Telephon um zwei Uhr früh – Notfall – durchgedreht – Naomi versteckt unterm Bett schreit Blutsauger Mussolinis. Die Hilflosigkeit des Vaters: Louis im Pyjama lauscht ins Phon, erschrocken – was jetzt? Der klägliche Bruder, all dem nicht gewachsen: – sein Gesicht verwirrt, so jung, dann Augen in Tränen – dann krochen weinend übers Gesicht – „Warum?“ Weh bebt in den Backen, Augen ganz zu, Fistelstimme – Eugenes Schmerzensgesicht. Der Tod der Mutter: Wir sind im Schlamassel. Du bist draußen, Tod ließ dich raus, Tod hatte das Mitleid, du bist fertig mit deinem Jahrhundert, fertig mit Gott, fertig dein Weglein hindurch – Endlich fertig mit dir – Rein – Wieder zum Säugling dunkel vor deinem Vater, vor uns allen – vor der Welt – Da, ruhe. Nie mehr leiden. Ich weiß wo du dahin bist, es ist gut. Ginsbergs Beschäftigung mit ihr und deren Auswirkung auf seinen Lebensgang: Zurückträumend durch Zeiten, Deine – und meine schnellend Richtung Apokalypse. Und vielleicht, denke ich bei mir, war Kaddisch für Ginsberg nur die Verarbeitung im Speziellen, während die Art seines Lebens, Liebens, Schreibens zur Verarbeitung im Allgemeinen wurde: Wuchtige Fragmente stottern Gedichte, Lücken bilden Verbindungen, Schreck wird ausgesprochen, Schmerz wird gewälzt und umgewälzt, Gefühl bricht aus, bricht durch, bricht Verstand und Genick.
Allen Ginsberg, Gedichte (Rowohlt) antiquarisch
Danke für das Gedicht. Ich merke, ich muss mich mal wieder in die Beat-Generation einlesen. On the road. Intensiver als alles was ich mir jetzt zumute.
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Man muss auch in passender Laune dazu sein, sonst geht es einem durchaus auch mal auf den Keks. Geht mir auch so.
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🙂
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https://gerhardemmerkunst.wordpress.com/2014/08/27/richard-avedon/
Kennst Du die Kronos-Quartet-Platte „Howl, USA“ (1996, Nonesuch) ? Ginsberg liest selbst sein Howl-Gedicht und Kronos fiedeln dazu – Dicker Tipp !
Viele Grüße,
Gerhard
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Die kannte ich nicht – schöner Tipp! Die haben über die Jahrzehnte aber auch SOO viel gemacht…
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Kann man wohl sagen. Ich hab auch irgendwann die Übersicht verloren…..
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Dieses Kaddisch-Gedicht hat mir Ginsberg erst nahegebracht – soll heißen, ich hab schon vorher was von ihm gelesen, fand das unverständlich bis irritierend, wollte nix mehr wissen, bis ich dieses Gedicht, das Schmerz-Gefühl-Trauer-Kampf-Anrührung ist, das Eis brach.
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Bei „Howl“ dachte ich damals nicht viel außer: Da setzt er Leuten ein Denkmal, von denen ich doch gar keine Ahnung habe – wie betrifft mich das denn? Und dann: Die Sprache macht einen fertig, aber gut fertig. Und dann – las ich das mit dem Löwen in der Wohnung, „Der richtige Löwe“, und da war´s dann um mich geschehen.
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Da habe ich schon vor etlicher Zeit einen Beitrag gelesen, der sehr schön den Umgang mit seinen Gedichten beschreibt: Howl und Kaddish die Kathedralen, daneben aber auch die einfacheren Kirchen: https://lyrikpoemversgedicht.wordpress.com/2015/02/02/die-auswahl-der-ginsberggedichte-aus-dem-rowohl-verlag/
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Viele schöne Verweise von Dir heute 🙂
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