PUBERTÄT REVISITED > Bin das ich oder kann das weg?

Tagebuch (2)

Die meisten meiner Tagebücher haben mich nicht überlebt. Ab und an packt mich der Rappel, alles muss raus, alles muss neu, ich muss neu – so werden Tage oder auch Wochen, mitunter Jahre von Geschriebenem und Gekritzeltem achselzuckend auf Nimmerwiedersehen ins Altpapier verabschiedet.

Manches gut Geschriebene muss weg, weil es die Wahrheit nicht gut trifft. Manch halbwahrer Text muss bleiben, weil gerade dessen Halbwahrheit ganz Wahres über mich verrät. Einiges Mittelmäßiges oder Lausiges schleppe ich lebenslang auf allen Wegen mit, weil es langlebig wahr ist.

Nicht zuletzt entscheidet auch das Dahinter des Textes über meinen Umgang mit dem bekritzelten Papier. Ein Blick auf das selbst Geschriebene ruft dessen längst vergangenes Entstehungsumfeld augenblicklich wach; ein Tagebuch ist ein Lagerraum für Instant-Vergangenheiten.

Humpty Dumpty fällt gleich wieder von der Mauer! Tu doch einer was! / Dummes Ei – kann nicht stabil sitzen, ist zu rund, versteht nicht, dass es sich Füße wachsen lassen muss, Beine! / Dummes Ei – sucht sich sein Zuhause oben auf der Mauer aus. / Dummes Ei – will wohl stürzen, muss wohl. (Dienstag, 08.April 1997)

Ich fühle mich sofort auf der Bank sitzen, früh am Morgen, ich schwänze gerade die erste Stunde, Chemie, bin einfach nicht durch den Schuleingang, sondern dran vorbei gegangen und weiter bis zum kleinen Park, hocke nun wie ein zerrupfter Papagei mit meinen bunten Haaren und Klamotten auf der Rückenlehne und meine ewig dreckigen Stiefel machen die Sitzfläche schmutzig. Schmiere diese Zeilen in mein Buch. Es kommt ein alter Mann mit seinem Rollator auf mich zu, schiebt sich gebeugt und unendlich langsam, aber beharrlich voran, hat mich schon von Weitem in seinen Blick genommen und nähert und nähert sich, und ich erwarte, dass da ein Schimpfen auf mich zukommt. Madame! Füße gehören nicht auf die Bank, junge Leute gehören um diese Zeit in die Schule – diese Szene ahne ich in allen möglichen Variationen voraus, aber nicht, wie sie sich dann tatsächlich abspielt: An meiner Bank angekommen, posiert sich der Herr mit funkelnden Äuglein und einem weit ausgestreckten Lächeln beinahe direkt vor meiner Nase, zielt mit dem Zeigefinger auf mein Tagebuch und ruft triumphierend: „Junge Dame! Wer schreibt, der bleibt!“ (Humpty Dumpty, das Weichei-Ich, begrub ich augenblicklich, den Rollator-Herren begruben wohl inzwischen Andere, aber diesen Moment der fröhlichen Verschwörung zwischen uns zwei ungleichen Unbekannten, den halte ich gern lebendig).

Man schreibt aber nicht nur für späteres Erinnern, sondern zuerst für gegenwärtiges Begreifen. Mein Schreiben war immer Inventur in eigener Sache, Außenstehende unerwünscht, nur Stift und Papier waren zugelassen.

Allein deshalb, weil sie analoge Geheimniskrämer waren, funktionierten meine Bücher und Hefte so gut als Gegenüber für allerlei Beichten, als Zeugen all meiner Dummheiten, sowie der Klugheiten oder noch größeren Dummheiten, die daraus wurden. Meine Nichten und Neffen dagegen, die inzwischen allmählich erwachsen werden und ihre eigene Selbst-Inventur betreiben, tun das öffentlich via Social Media. Das Bedürfnis, Erlebtes, Gedachtes und Gefühltes festzuhalten und in eigenen Bildern und Worten wiederzugeben, leben sie in digitalen Gemeinschaftsräumen aus. Dass sie sich nicht so in sich verkapseln wie ich das vielleicht tat, das mag sie selbstsicherer erscheinen lassen. Sie verlieren dort aber die Orientierung an ihrem eigenen Kern, betrachten sich selbst nur in diesem vergleichenden, oft kompetitiven Umfeld, und lassen über sich ergehen, dass Andere die Auswertung ihres Outputs übernehmen anstatt sich in ihrem Selbsturteil zu üben. Wenn einem der selbstbetrachtende Blick bei der eigenen Entwicklung irgendwie helfen soll, muss er dorthin gehen, wo es weh tut – sofern man über sich selbst aber nur für Andere schreibt, umgeht man tunlichst die wunden Punkte, um sie zu schützen. Man erzieht sich nachhaltig zum Fassadenpfleger. Experimente zur Ich-Erforschung können zu einfach nach hinten los gehen, denn sie unterstehen der oberflächlichen Beobachtung durch die Vielen – und nicht nur das: Kein Fotobeitrag, kein Post, kein Tweet, den man macht, wird je wieder ungeschehen (selbst was man löscht, kann sich zuvor auf so vielen Wegen verbreitet haben, dass man an dessen restlose Auslöschung nicht mehr glauben kann). Man präsentiert ein bestimmtes Bild von sich nicht nur vor einer unkontrollierbaren Anzahl von Menschen, sondern auch ohne die garantierte Möglichkeit, dieses Bild einmal zurücknehmen zu können. Ausgerechnet seine Jugend – in der man sich in alle Richtungen, also auch die zwecklosen, die peinlichen, die unschönen, ausloten muss – allein einem Medium anzuvertrauen, dass nichts unkommentiert lässt und auch nichts vergisst, ist heikel.

Ein Tagebuch dagegen ist ein geschützter, druckfreier Raum, in dem man mit sich allein sein kann. Und über den man zu jeder Zeit alleinig herrscht.

Tagebuch (1)

 

Veröffentlicht von

Drittgedanke

Buntgegenstände / Drittgedanke / Die Beifängerin

20 Gedanken zu „PUBERTÄT REVISITED > Bin das ich oder kann das weg?“

  1. WUNDERBAR geschrieben…da sind Sätze in diesem Beitrag, die hauen um….z.B.: Man schreibt aber nicht nur für späteres Erinnern, sondern zuerst für gegenwärtiges Begreifen. Mein Schreiben war immer Inventur in eigener Sache.
    Auch Dein Gegenüberstellung des analogen Buchs (in eigener Geheimsache) gegenüber der Kultur digitaler Bekenntnissucht (Fassadenpflegerei – toll, toll, toll)…Ich hab meine alten Tagebücher auch immer wieder ausgemistet – manchmal fragte ich mich später, wer die Person war, die das schrieb 🙂 Und war enttäuscht von meinem jüngeren Ich, weil ich mit der Schreibe nie den Literaturnobelpreis bekommen würde, stilistisch und wegen mangelnder inhaltlicher Reife…
    Es hat gedauert, bis bei mir der Groschen fiel – auch Tagebücher sind nicht gleich Tagebücher. Unter das Ettikett der Fassadenpflegerei fallen bei mir z.B. auch viele, viele Schriftsteller-Tagebücher geschrieben im Bewußtsein, dass sie später wohl veröffentlicht würden…

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    1. Danke 😉 Ja, diese Schriftsteller-Tagebücher geben mir auch oft das Gefühl, da sei bereits im Schreiben irgendetwas verloren gegangen, da fehle noch was… Wenn schon persönlich, dann bitte mit Schmackes! Und schön zu lesen, dass ich nicht die Einzige bin, die sich manchmal eben doch dabei schüttelt, wenn sich das Persönliche leider als peinlichste Teenie-Pathetik entpuppt. Das ist hart, aber da muss man durch ;D Gerade die ausgesuchtesten Scheußlichkeiten zeugen ja davon, dass man wirklich eine Menge ausprobiert hat, und schließlich zeigt sich darin Qualität der eigenen Entwicklung.

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      1. Na, ich bin mir bei mir nicht so sicher, ob es da eine qualitative Entwicklung gibt …aber ich schreib meine Tagebücher ja auch nicht für die Nachwelt 🙂

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  2. Ich könnte es nie. Meine 25 (?) Tagebücher gehören dazu und es würde mir wie Verrat an meinem früheren Ich vorkommen, wenn ich sie einfach entsorge, obwohl sie mir so wichtig waren.

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    1. Das kann ich gut verstehen. Für mich gehörte es im Lauf der Zeit häufiger mal dazu Tabula Rasa zu machen und das schloss mich selbst mit ein, also machte das auch nicht vor Geschriebenem Halt. Aber wie gesagt – dass man ganz allein darüber entscheidet, das macht dieses spezielle Schreiben aus. 🙂

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  3. Ich finde Deinen Text sehr großartig und ich erkenne mich in vielen Sätzen wieder. Auch ich habe mit 11 begonnen, zu schreiben (Tagebuch und mehr). Und ich habe die Tagebücher (noch) nicht weggeworfen, denn ich bin immer wieder bezaubert davon, wie reiflich und bemüht ich Dinge reflektiert habe – ohne eine Rückmeldung von Außen, einfach nur für mich selbst. Privat. Und daher finde ich die Passage über den Kern und das kompetitive Umfeld besonders gut. Der Begriff „Fassadenpleger“ ist auch sehr bezeichnend. Mir sind meine Tagebücher manchmal sehr unangenehm, gerade weil sie nicht für das Außen geschrieben waren. Doch dafür gibt es schließlich verschiedene Textsorten. Die bewusste Entscheidung darüber, was privat und was öffentlich ist, empfinde ich als Luxus.

  4. Schöner Beitrag. Ich schätze Deine Furchtlosigkeit, und ich mag das Wort „Schmackes”.
    Ich habe vor Jahren, als ich noch in Köln wohnte, einen Stapel Tagebücher weggeworfen, andere sind durch Wasserschaden unlesbar geworden. Jetzt schreibe ich schon lang kein Tagebuch mehr, allenfalls in meinem Blog verrate ich ein bisschen, aber mehr abstrakt.
    Meiner Meinung nach gehört ein Tagebuch nicht nur einem selbst, weil die Äußerung auch eine Entäußerung ist, ein Loslassen. Das Persönliche ist in die Welt getreten und gehört nun auch ein bisschen der Welt.

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    1. Die Frage ist nur, welchen Wert dieses Geschenk hat, das man der Welt da macht. Und bevor Andere an der Reihe sind, diese Frage zu stellen, tue ich das lieber als Erste.
      Mein Tagebuchschreiben ist inzwischen auch verebbt. Warum eigentlich? Ich befürchte, manchmal sind die profansten Antworten, wie „Ich weiß auch gar nicht mehr wohin mit dem ganzen Papierkram“, die passendsten. Vielleicht – und das wäre natürlich ein sehr viel hübscherer Grund – erübrigt sich inzwischen einfach nur das Bedürfnis nach Gedanken-Verstecken.

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      1. Ja, verstehe ich. – Wohin mit dem Papierkram, das ist sicher ein Motiv. In meinem Fall hat mich auch die Beobachtung, dass ich mich im Kreis drehe, vom Tagebuchschreiben abgebracht, ich vermisse es auch gar nicht. Im Aufbewahren von Briefen war ich dagegen immer sorgfältig und gewissenhaft; mit E-Mails ist es viel schwieriger, da ist mir wegen technischer Defekte, Kontoänderungen usw. vieles verloren gegangen. Unter Umständen schreibe ich sogar SMS ab und hebe sie auf. Also, ich bin nicht grundsätzlich gegen persönliche schriftliche Zeugnisse …

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      2. Ich schreibe nur noch ab und an Tagebuch – meist nicht mehr daheim, sondern dann, wenn ich unterwegs bin. Zum Reisejournal mutiert es deswegen aber nicht, nur habe ich mich – um dem Kreiskoller, den Du da angesprochen hast, aus dem Wege zu gehen – darauf verlegt, nur noch zu schreiben, wenn Neu-Input auch von Neu-Perspektive begleitet ist. Übrigens: Dieses Transkribieren von SMS ins Analoge, das betreibe ich auch.

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  5. Was für ein toller Text zum Thema Tagebuch. Als ich das letzte Mal meine Teenie-Werke vornahm, überkam mich auch ein leichtes Gruseln… Hab sie erst mal wieder weggepackt und ich erinnere mich an sie, wenn ich manches Schülergehabe befremdlich finde. Das hilft manchmal 🙂 Tagebuchschreiben war immer wie Aufräumen für mich… Einen schönen Dienstag!

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    1. Ja, sobald man sich selbst altermäßig aus der Jugendlichen-Zone entfernt hat, wird „der Jugendliche an sich“ plötzlich zur rätselhaften Erscheinung. Da hilft der Blick zurück doch ungemein, um zu verhindern, dass man sich selbst der Erwachsenen-Hybris schuldig macht, die man damals doch so fürchterlich fand… 🙂 Hab noch einen schönen Abend!

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    1. Auf die Plätze – fertig – los! Ausmisten befreit ungemein 😀 Aber je nachdem, was sich vielleicht doch an Schätzen bergen lässt, muss ja am Ende der Stapel vielleicht gar nicht so viel kleiner werden….? Auf jeden Fall ist es immer eine eigentlich kuriose Art von Kulturschock, sich mal den geballten Selbstzeugnissen zu stellen. Viel Spaß 🙂

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  6. Mist, Mist, Mist, ich kann nichts ausmisten. In meinem Keller steht noch ein Karton mit der pathetischen Aufschrift: unbewältigte Vergangenheit. Da sind die Tagebücher seit der Realschule drin. Ich wollte immer ein Buch draus machen. So langsam ahne ich, dass ich dafür die alten Zettel nicht mehr brauche. Was ich vergessen habe, erfinde ich einfach neu.

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