Dieser Roman wird in diesem Jahr (2015) 35 Jahre alt. Zeit kann ihm jedoch nichts anhaben, oder besser gesagt: Die Geschichte, die er erzählt, spielt in einer Welt, in der Jahrzehnte ohnehin nichts bedeuten. Gemessen wird Zeit dort nicht in Jahren oder Epochen, denn wichtig sind nur die ewig wiederkehrenden Zeitenwechsel – von Dürre zu Schwemme, von Licht zu Dunkel, von Frost zu Schmelze und so fort. Der tschuktschische Schriftsteller Juri Rytchëu (1930 – 2008), Sohn eines arktischen Jägers, schrieb über 30 Romane über seine Heimat, jene kalte Wildnis im russischen Norden, und über seine Landsleute. In seinen frühen Jahren vom Sowjetregime reglementiert, verfasste Rytchëu linientreue Geschichten über den vermeintlich fraglos segensreichen Fortschritt, den der Einzug des kommunistischen Systems bis in die entlegensten Landesregionen und das dortige traditionelle Leben hinein bewirkt hatte. Seit Perestroika-Zeiten wagte Rytchëu jedoch, sich durchaus anklagend zur Lage der indigenen Bevölkerung in Russland zu äußern und auch in seinen Romanen eine kritische Haltung gegenüber der staatlichen Zwangszivilisierung ganzer Volksgruppen einzunehmen.
Teryky allerdings ist frei von zeitgenössischen kulturpolitischen Bezügen und erzählt eine zeitlose Liebesgeschichte, eingekleidet in eine traditionelle tschuktschische Legende: Der Sage nach verwandelt sich ein Jäger, den das Pech ereilt auf einer Eisscholle abgetrieben zu werden, während seiner Zeit auf dem offenen Wasser in einen Teryky, ein bepelztes, entmenschlichtes Ungeheuer. Sollte jener Jäger, nun als Teryky, jemals wieder an Land zurückkehren, so muss er getötet werden, da er sonst als raubendes Untier die Menschen in ihren Siedlungen bedrohen würde. In Rytchëus Roman ist es der junge Goigoi, der eines Tages nicht mehr von der Robbenjagd heimkehrt. Als Kind der unbarmherzigen Polar-Welt ist sich Goigoi der lebensbedrohenden Kräfte von Eis und Meer bewusst, und nachdem er auf einer Eisplatte, die sich im wechselhaften Frühjahrswetter vom Festland gelöst hat, aufs offene Meer getrieben worden ist, rechnet er sich keine größeren Chancen auf ein Überleben aus. Doch Goigoi hat gerade erst angefangen sein Leben mit neuen Augen zu betrachten: Nur kurze Zeit vor seinem vermeintlichen Ende ist er diesem Mädchen begegnet, Tin-Tin, Tochter eines Nomaden, gerade eben hat er ein gemeinsames Leben mit ihr begonnen – und so stemmt er sich der Liebe wegen entschlossen gegen den Tod. Indessen beweint Tin-Tin an Land das Verschwinden ihres Geliebten und befindet sich in einer zunehmend heiklen Situation: Da Goigoi und Tin-Tin als junges Pärchen noch keine eigene Behausung, Jaranga genannt, aufbauen konnten, haben die beiden bislang in einer Ecke der Familien-Jaranga des nächstälteren Bruders von Goigoi, Piny, gewohnt. Obwohl dieser sich zunächst gegen seine Gefühle wehrt, wächst eine rasch zunehmende Begierde nach der jungen Gefährtin des kleineren Bruders in ihm heran. Als Goigoi als verschwunden gilt, beginnt Piny Tin-Tin zu bedrängen. Doch der Sitte nach sollte der älteste der Brüder, Këu, die Braut des Jüngsten nach dessen Tod bei sich aufnehmen. Dabei denkt Tin-Tin gar nicht daran die Hoffnung auf eine Rückkehr ihres geliebten Goigoi aufzugeben. Und dann, als das Wetter wechselt und die offene Bucht wieder vom Packeis geschlossen wird, kommt es zur unerwarteten Begegnung, die dramatisch in das Leben Tin-Tins und der drei Brüder einschneidet.
Man benötigt keinerlei Hang zu Schmonzetten mit Ethno-Hintergrund um sein Herz an diese Geschichte zu verlieren – im Gegenteil: Rytchëus Prosa formt unverschnörkelt die karge und doch komplexe Polar-Natur nach. Ohne überbordende Beschreibungen von Landschaft und Leuten, bildet sich durch Rytchëus sparsames, aber präzises Vokabular und das strukturierte Erzählen wie von selbst eine arktisch klare Atmosphäre. Mit erstaunlich geringem sprachlichem Aufwand erweckt Rytchëu unzählige Varianten von Schnee, Eis, Wind und Licht zum Leben, beschreibt mit treffsicheren Bildern die Wechsel von Landschaften und Jahreszeiten, sodass man während der Lektüre die feuchte, von Moosduft gesättigte Frühjahrsluft zu riechen glaubt oder beinahe selbst den Biss der Kälte durch nass gewordene Fellbekleidung hindurch spürt. Und die Schilderung der Liebesbeziehung zwischen Goigoi und Tin-Tin besticht in ihrer stillen Zartheit ungemein. Nur 160 Seiten schmal, beinhaltet dieses Buch eine höchst konzentrierte Geschichte, die lange nachwirkt.
Ach, schön, dass du an diesen bildgewaltigen Schriftsteller erinnerst! „Teryky“ hat auch mein Herz sogleich erobert.
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Ja, ist und bleibt einfach wunderbar. Bei Aitmatows Dshamilja geht es mir genauso.
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Aitmatow war mir auch gleich in den Sinn gekommen, als ich deine Besprechung las. Hier die Eiswüste, dort die Steppe, bei beiden dieses Aufeinandertreffen alter Stammeslegenden und Traditionen mit der „Moderne“ (dem Sowjetsystem). Ich mag besonders die archaische Kraft und die Weisheit, die in ihren Erzählungen wohnt.
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