Verursacht ein monolithisches Buch seinen kraterhaften Einschlag im Feuilleton, stehe ich als Schaulustige parat. Mir ist jeglicher Hype völlig egal, ich liebe aber die Vorstellung vom schriftstellerischen Extrem, die sich in monströsem Seitenumfang und Arbeitsaufwand ausdrückt. Sicher, die eigentliche Kunst besteht eben nicht allein in der Produktion gedanklichen Volumens, sondern darin, jenes gedankliche Volumen literarisch zu komprimieren. Aber auch Vielhundertseiter können sich als Ergebnis sorgfältiger Verdichtung erweisen. Im seltenen Glücksfall also besitzt ein solches Werk dreidimensionale Größe: Enormer äußerlicher Umfang x inhaltliche Tiefe x sprachliche Dichte = literarische Nachhaltigkeit im Kubik. Im Falle von Europe Central jedoch hätten es auch ein paar Seiten weniger getan, zu Gunsten höherer Konzentration, die ich mir gewünscht hätte. Dennoch eröffnet sich beim Lesen von Europe Central die reinste Spielwiese für Literaturneugier.
Bereits 2005 im Original erschienen, liegt Europe Central seit 2013 in deutscher Übersetzung vor, seit Ende Mai diesen Jahres nun auch als bezahlbare kartonierte Ausgabe. Es dauerte seine Zeit, bis mit Suhrkamp ein Verlag das aufwändige Projekt verwirklichte Europe Central im Deutschen zu verlegen. Mit seiner Übersetzung des Kolosses, die nochmal anderthalb Jahre in Anspruch nahm, sicherte sich Robin Detje ein Plätzchen auf dem Übersetzer-Olymp gleich neben Ulrich Blumenbach (David Foster Wallace, Unendlicher Spaß) oder Hans Wollschläger (James Joyce, Ulysses) und wurde auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse konsequenterweise mit dem Preis für die beste Übersetzung bedacht.
William T. Vollmann bezeichnet mit dem Ausdruck Europe Central das deutsch-russische Spannungsfeld im geographischen wie politischen und kulturellen Sinne, bezogen auf einen Zeitraum des 20.Jahrhunderts, dessen Eckdaten der Biographie des Komponisten Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch entliehen sind: geboren 1906, gestorben 1975.
Ich halte alle Sinfonien Schostakowitschs für mehrfach eingebrochene Brücken, einen Archipel aus Stahl, der langsam im Fluss versinkt.
Schostakowitschs Leben und Werk geben dem aus 37 Episoden bestehenden Erzählverlauf eine begleitende Struktur, eine Orientierungslinie. In jenen Episoden lässt Vollmann eine Geisterparade aufmarschieren: Die jeweiligen Protagonisten sind berühmte, berüchtigte oder anonyme Menschen (so Vollmann im Quellen-Anhang), die zentrale Positionen in Kunst und Politik, kriegsentscheidende Rollen oder ideologische Bedeutung inne haben. SS-Mann Kurt Gerstein, Lenin-Attentäterin Fanny Kaplan, eine von der Sowjet-Ideologie zur Märtyrerin erhobene Partisanin namens Soja, General Wlassow, Generalfeldmarschall Paulus, Dichterin Anna Achmatowa, Generalfeldmarschall Erich von Manstein, Marschall Michail Nikolajewitsch Tuchatschewski, die Richterin und spätere DDR-Justizministerin Hilde Benjamin – damit sind nur wenige Namen aus Vollmanns unendlich anmutender Personalliste genannt, die Hauptrollen besetzen oder eine der Nebenrollen in einzelnen oder mehreren Episoden ausfüllen.
Anhand paarweiser Gegenüberstellungen von Figuren versucht Vollmann sich an einer Wesenserkundung des in Dualismen zerrissenen Zentraleuropa von damals. So arbeitet er die Kontrastschärfe der konkurrierenden politischen und gesellschaftlichen Gewalten heraus, unter deren Einwirkung menschliches Leben zu grauer Masse vermahlen wurde. Die weißen Nächte von Leningrad blitzen hell hervor, der Schnee von Stalingrad zeigt sich schneidend weiß und tödlich. Auf bleischwarzer Erde, die der Krieg hinterlassen hat, wachsen silbergraue Grashaare. Das tiefste Schwarz ist jenes der Bakelit-Telefone, über deren Drähte die Mächte der Zeit überhaupt erst ihre kontinentale Reichweite etablieren konnten – diese Leitungen garantierten den Gewaltfluss von der politischen Kontrollinstanz bis in jede kleinste organische Einheit hinein. (Auf die prägende Bedeutung jener neuen Technologie verweist auch der im Original belassene Titel: Europe Central bedeutet sowohl Mitteleuropa als auch Telefonzentrale Europa.) Schwarz, Weiß und Grau sind die Signalfarben der Dinge und Vorgänge in Europe Central, und auch seine Figuren drücken diesen farblichen Dreiklang aus: Man begegnet Käthe Kollwitz, deren Kunst das Arbeiterleben in scharfkantigem Schwarzweiß zeigt, und deren eigenes Leben, seitdem einer der Söhne im Ersten Weltkrieg fiel, in Grau getaucht bleibt. Kollwitz trifft auf einer Russland-Reise, zu der man die im Arbeiterstaat populäre Künstlerin eingeladen hat, auf Schostakowitsch und hört dort dessen Musik, die grau und kalt alle rotbackige Propaganda, mit der sich das Gastgeberland präsentiert, überdeckt. Schostakowitsch wiederum begegnet in einer späteren Episode dem Genossen Stalin, der ihm auf einem von unerträglich grellen Kronleuchtern erhellten schwarz-weiß karierten Fliesenboden gegenübersteht. Offiziere tragen weiße Handschuhe zu Gardeuniformen. Ein junger Komponistenkollege Schostakowitschs heißt mit Namen Schwartz. So finden alle und alles in diesem Roman eine Einordnung in jenes Farbschema. Erst gegen Ende weicht es auf, und eine Abhandlung über den Fortschritt von Farbfilmtechniken deutet einen heraufziehenden Systemwechsel an.
Schostakowitschs Musik funktioniert als eine Vertonung der Farbsprache, die den ganzen Roman durchzieht. Sie wird allerdings nicht nur zur allgemeinen Untermalung der Stimmung verwendet: Vollmann hebt zwei Werke, Opus 40 (Cellosonate in d-Moll) und Opus 110 (Streichquartett Nr.8), besonders hervor und leitet ihre Entstehung von konkreten Lebenserfahrungen Schostakowitschs ab, die jedoch nicht belegt sind. An diesen Stellen verdeutlicht sich einerseits die Hingabe Vollmanns an die eigene überbordende schriftstellerische Imagination, andererseits seine enorme Akribie in Sachen Hintergrundrecherche und der gewaltige Umfang, den seine schreibbegleitende Materialsammlung wohl gehabt haben muss. Unter Anderem lässt Vollmann eine von der Geschichtsschreibung vergessene Frau literarisch sehr lebendig werden und macht sie zur Hausherrin des musikalischen Gebäudes, das Schostakowitsch mit dem Opus 40 errichtet hat: Elena Konstantinowskaja, mit der Schostakowitsch in einer Affäre verbunden war. Nicht einmal Schostakowitschs Biographen widmen sich Elena in erwähnenswertem Maße, da es schlicht kaum verwertbares Material über sie gibt. Vollmann dagegen investierte einen vierstelligen Dollarbetrag in eine Übersetzung des Briefwechsels zwischen Schostakowitsch und seiner Geliebten aus den Jahren 1934, 1935. Mühelos bestreitet die junge Frau, trotz ihrer Eigenschaft als undokumentiertes Phantom, eine mal aktive, mal leitmotivische Rolle über tausend Seiten hinweg, was sie der Überzeugungskraft der Vollmann’schen Mischung aus Geschichtsrekonstruktion und Fiktion verdankt. Diese zentrale Bedeutung Elenas für den Roman vermittelt einen wichtigen Gedanken zum Verständnis der Zeit, die von Vollmanns Roman umspannt wird: Getragen wird Geschichte in besonderem Maße von den Namenlosen, den Ausgelöschten, den Vergessenen. Was die Überlebenden und was die Dokumente berichten, daraus wird unsere lückenhafte Nacherzählung der Geschehnisse, nie aber eine Wiedergabe der Geschichte in ihrer Gesamtheit. Vollmann zumindest bemüht sich, da die Möglichkeiten des Erfassens an ihre Grenzen stoßen, um eine Erweiterung der Möglichkeiten des Verstehens.
William T. Vollmann, Europe Central (Suhrkamp)
Auch zu finden auf: satt.org
Für das Beitragsbild habe ich Europe Central neben eine aufgeschlagene Seite eines alten Ausstellungskataloges gelegt: Schrecken und Hoffnung – Künstler sehen Frieden und Krieg war der Titel einer gemeinschaftlich kuratierten deutsch-sowjetischen Ausstellungsreihe mit Stationen in Hamburg, München, Moskau und Leningrad, die 1987/1988 deutsche und sowjetische Kunstwerke zum Thema Krieg und Frieden vergleichend zeigte. Die vier Linolschnitte links sind Teil eines Zyklus von Graphiken des litauischen Künstlers Stasys Krasauskas aus dem Jahr 1961, die den Gedichtband Der Mensch des litauischen Dichters Meschelajtis illustrieren. Die Ausstellung umfasste neben Bildern und Skulpturen solch bekannter Größen wie Anselm Kiefer und Gerhard Richter eine reiche Vielzahl wenig bekannter zeitgenössischer Kunstwerke, sowie eine breitgefächerte Zusammenstellung historischer Kunst vom 15. bis 20.Jahrhundert. (Kaufen kann man diesen Katalog, der in seinen Objektbeschreibungen unbeabsichtigt viel über die Machtverhältnisse seiner Zeit vermittelt, immer noch – antiquarisch, für ein paar Euro.)
Prima! Ohne das Buch zu kennen, habe ich den Eindruck, es hier sehr gut zusammengefasst zu finden. Der Text hat einen flow, Kenntnis und Leidenschaft kommen darin zusammen – mitreißend!
Das 8. Streichquartett von Schostakowitsch ist entstanden, nachdem der Komponist Dresden besucht und Dokumente sowie, glaube ich, Filmaufnahmen der durch die Bombardements entstandenen Verwüstungen gesehen hatte. Im Gedenken an die menschlichen Opfer, aber auch aus Trauer über die unwiderbringlich zerstörten Kunst- und Bauwerke, komponierte er das besagte Streichquartett. Es ist beklemmend zu hören, eine große Klage.
Ich habe es übrigens durch das Fernsehen kennengelernt, wahrscheinlich Mitte der 80er Jahre, wo es als ‚Untermalung‘ der Bilder vom Brand Dresdens diente (Bilder, die Schostakowitsch beim Komponieren sicher vor Augen hatte). Später hatte ich eine Kassette mit allen fünfzehn Streichquartetten (auf Schallplatte). Jetzt … Schostakowitsch lang nicht gehört …
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Danke! Ja, es ist Wirkungsmusik, und damit begleitet Schostakowitsch im Gegensatz zur Unterhaltungsmusik eben nicht den Alltag. Es ist Musik, die wohl geschrieben werden musste, die wohl gehört werden muss – vielleicht auch nur einmal im Leben. Der Dresden-Besuch Schostakowitschs wird in Europe Central erwähnt und die Entstehung der betreffenden Musik wird in diesen Besuch hineingewoben, wobei man viel fachliche und persönliche Einfühlung Vollmanns in die Musik spürt. Er bindet jedoch darüber hinaus ein Spektrum von Erinnerungen und Gedanken Schostakowitschs hinein, von denen man nicht sagen kann, ob sie denen des historischen Schostakowitsch entsprechen können. Vollmanns Herangehens- und Darstellungsweise – das Ziehen von Wurzeln und Querverbindungen, die eigentlich nicht belegbar sind – gibt Anstoß zu Fragen, ohne dabei fragwürdig zu werden: Ich finde, die künstlerische Freiheit nutzt er so zum Guten der Geschichte und der geschichtlichen Figuren.
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